Brasilien | Nummer 387/388 - Sept./Okt. 2006

Lula hat die Nase vorn

Dem Oppositionskandidaten Geraldo Alckmin werden keine Chance eingeräumt, die Präsidentschaftswahl am 1. Oktober zu gewinnen.

Alle Prognosen sagen einen Sieg des amtierenden Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva voraus, vielleicht sogar im ersten Wahlgang. Scheinbar können Korruptionsvorwürfe und Kritik der
politischen Basisbewegungen seiner Popularität nichts anhaben.
Grund dafür sind die Sozialprogramme, die er eingeführt hat.

Thilo F. Papacek

Der neue Spitzname wird ihm wohl kaum gefallen. Der stärkste oppositionelle Kandidat für das brasilianische Präsidentenamt, Geraldo Alckmin von der sozialdemokratischen Partei PSDB, wird in manchen Bundesstaaten schon „Pluto“ genannt. Denn genauso gering wie die Chancen des Himmelskörpers Pluto auf den Rang eines Planeten stehen, wird von den meisten BrasilianerInnen Alckmins Chance auf das höchste Staatsamt eingeschätzt: also gleich null.
Es ist gut möglich, dass der Amtsinhaber Luis Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT bereits im ersten Wahlgang am 1. Oktober über 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen wird. Sollte das nicht der Fall sein, dann kommt es zu einer Stichwahl mit dem Zweitplatzierten. Aber danach sieht es zur Zeit nicht aus. Die Zahlen, die das Meinungsforschungsinstituts CNT/Sensus am 31. August veröffentlichte, deuten jedenfalls nicht darauf hin. Ihnen zufolge würden 51 Prozent der Befragten Lula im ersten Wahlgang wiederwählen. Und im zweiten Wahlgang sähe es für Alckmin nicht besser aus. Zwar würde sich dann die Zustimmung für ihn von 19 Prozent auf 30 Prozent steigern. Doch Lula würde sich ebenfalls verbessern. Im Falle einer Stichwahl würden ihm 56,7 Prozent der WählerInnen ihre Stimme geben.
Wegen der miserablen Umfrageergebnisse versuchen immer mehr GouverneurInnen und BürgermeisterInnen von Parteien, die eigentlich Alckmin unterstützen, sich von dem Kandidaten zu distanzieren. Denn am 1. Oktober stehen auch die Regierungen der 27 Bundesstaaten zur Wiederwahl. Besonders im Nordosten, wo der Präsident sehr beliebt ist, werben selbst PSDB Gouverneure inzwischen offen für Lula. Sie hoffen, dass die Beliebtheit des Präsidenten in der Region auf sie selbst abfärbt.

Populär durch das „Null Hunger“ Programm

Der Nordosten Brasiliens wurde von der Wochenzeitung Veja als wichtigste Wahlregion ausgemacht. Dort leben 34 Millionen der 126 Millionen Wahlberechtigten des Landes, nur im Südosten leben mehr WählerInnen. In der Region ist Lulas Vorsprung am größten, und der Kandidat der Opposition bei vielen nicht einmal namentlich bekannt. Will also Geraldo Alckmin mehr Stimmen gewinnen, muss er dringend im Nordosten beliebter oder erst einmal bekannter werden.
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet im Nordosten, der ärmsten Region Brasiliens, die Zustimmung für den amtierenden Präsidenten am größten ist. Der Grund für seine Popularität liegt in den großen Programmen zur Einkommensumverteilung. Sein 2001 angekündigtes „Null Hunger“ Projekt ist zwar gescheitert, doch das „Familienstipendium“ ist zum größten Sozialhilfeprogramm in der Geschichte Brasiliens geworden. 11,1 Millionen Familien bekommen zusammen umgerechnet etwa 238 Millionen Euro monatlich. Das hat einen großen Effekt im Nordosten, wo 71 Prozent der Bevölkerung ein Einkommen von weniger als umgerechnet 256 Euro haben. In einigen Gemeinden im trockenen Landesinneren des Nordosten, dem sertão, erhält die gesamte Bevölkerung Unterstützung durch das Programm. Der Konsum in der Nordostregion ist dadurch enorm gestiegen. Das Wirtschaftswachstum in der Region lag mit 3,9 Prozent fast einen halben Prozentpunkt über dem Landesdurchschnitt. Doch nur langsam wirkt sich die gesteigerte Kaufkraft auf die Investitionen in der Region aus.

Wahlmaschine PT

Unter anderem deshalb sind viele linke AktivistInnen enttäuscht von der Regierung Lula. „Die Familienstipendien sind nur Ausdruck des traditionellen brasilianischen Populismus. Sie schaffen keinerlei politisches Bewusstsein. Lula nennt sich zwar „Sozialist“, aber in Wahrheit setzt er der Abhängigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter mit diesem Programm nichts entgegen“, findet Eduardo Sebastião. Der 24jährige verteilt Wahlwerbung für die linke Oppositionspartei Sozialismus und Freiheit P-SOL vor einem Shoppingcenter im Zentrum São Paulos, das vor allem von Jugendlichen Hip-Hop und Punkrock-Fans frequentiert wird. Die Partei, die er unterstützt, ist von ehemaligen PT Mitgliedern gegründet worden, die entweder aus der Partei ausgeschlossen wurden, oder freiwillig ausgetreten sind. Ihre Präsidentschaftskandidatin ist Heloisa Helena, die nach den aktuellen Umfrageergebnissen gleich nach Alckim auf den dritten Platz kommt, und neun Prozent Zustimmung erhält.
Eduardo ist im letzten Jahr mit einigen KommilitonInnen der Universität von São Paulo in die venezuelanische Hauptstadt Caracas gefahren. Als sie zurückkamen, waren sie begeistert von den Ideen der „Bolivarianischen Revolution“ und einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Eduardo ist kein Mitglied von P-SOL. „Für mich ist die P-SOL einfach ein gutes Instrument, um eine solche sozialistische Bewegung aufzubauen“, erzählt er. In die PT hatte er die gleichen Hoffnungen gesetzt, als er vor sieben Jahren begann, sich sozialistisch zu engagieren. „Die PT hat sich während der Regierung Lulas in ein Projekt der Machterhaltung, der Verstaatlichung der sozialen Bewegungen verwandelt. Die PT ist eine reine Wahlmaschine geworden. Da gibt es keine Mobilisierung der Arbeiter, keine Diskussion darüber, wie ein wirklicher Sozialismus aussehen könnte“, erklärt er seine Enttäuschung über die aktuelle Regierung. Warum es mit der P-Sol aber besser funktionieren sollte, darüber ist sich Eduardo hingegen nicht im Klaren.

Korruption und Sicherheit

Um für sich zu Punkten, versucht Alckmin zwei andere Themen auf die Agenda zu bringen: Korruption und Sicherheit. So viele Korruptionsskandale, in denen Kongressmitglieder beteiligt waren, wie in den letzten beiden Jahren, sind noch nie in Brasiliens Geschichte aufgedeckt worden. Alckmin versucht, Lula als den Kandidaten der Korrupten darzustellen. Schließlich war Lulas engster Vertrauter, Regierungsminister José Dirceu, Drahtzieher des mensalão, der Vergabe monatlicher Schmiergelder an Kongressabgeordnete anderer Parteien, um deren Stimmen für Gesetzentwürfe zu erkaufen. Dirceu musste letztes Jahr den Hut nehmen, doch Lula versicherte, von dem Skandal nichts gewusst zu haben, und blieb Präsident.
Aktuell sind es aber die „Blutegel“, die die Schlagzeilen füllen. Damit sind Kongressabgeordete gemeint, die gegen Bestechungsgelder den Verkauf überteuerter Ambulanzwagen in ihren Wahlbezirken organisierten. Luiz Antônio Vedoin, der Unternehmer, der die Krankenwagen produzieren ließ und die Schmiergelder bezahlte, bekam es mit der Fiskalpolizei zu tun, und ließ den ganzen Plan auffliegen. Abgeordnete aller Parteien gehören zu dieser „Mafia der Blutegel“, wie die Gruppe in der Presse inzwischen genannt wird. Auf der Homepage von Geraldo Alckmin ist eine Karikatur von Lula zu sehen, wie er hinter einem Krankenwagen hervorlugt. „Ich habe nichts gesehen, ich weiß von nichts“, so die Pointe.
Das andere Thema, mit dem Alckmin zu punkten versucht, ist die Sicherheit. Nach den Unruhen in São Paulo um die Gefängnismafia Erstes Hauptstadtkommando PCC in den vergangenen Monaten sind viele BrasilianerInnen verunsichert. Alckmin verspricht, mit harter Hand gegen das Verbrechersyndikat vorzugehen.
Das PCC protestierte mit seinen Angriffen auf staatliche Einrichtungen vor allem gegen das differenzierte Disziplinarregime RDD, eine verschärfte Einzelhaft, der die Anführer der Mafia unterworfen sind. Dies nutzt Alckmin, um sich als Gegenspieler der Verbrecher zu inszenieren. Er hat in seiner Zeit als Gouverneur von São Paulo das RDD eingeführt.
KriminalexpertInnen halten die Einzelhaft für ungeeignet, um das PCC zu bekämpfen, und fordern statt dessen eine Reform des menschenunwürdigen Gefängnissystems. Nichtsdestotrotz kommt das Versprechen repressiver vorzugehen bei vielen Leuten an. Ludimilla Medeiros zum Beispiel ist 57 Jahre alt und Zahnärztin. Sie wartet im Viertel Bom Retiro im Zentrum von São Paulo auf den Bus, der sie wieder ins Mittelklasseviertel Peridzes fahren wird. „Man sollte den Häftlingen sämtliche Privilegien streichen, keine Besuche mehr, keine Handys mehr in den Gefängnissen“ so ihre Antwort auf die Frage, was gegen die Kriminalität getan werden sollte. Selbst der Todesstrafe steht sie gespalten gegenüber: „Als Christin bin ich dagegen, aber als Bürgerin dafür“, so ihre Meinung. Sie will auf jeden Fall Alckmin wählen, „weil er ein großartiger Gouverneur war.“ Wen sie als Gouverneur wählen will, weiß sie noch nicht. „Aber auf keinen Fall jemanden von der PT. Die regieren doch nur für die Armen! Die Ober- und Mittelklasse sind aber auch Teil des Landes, für sie muss die Regierung auch da sein“, findet Ludmilla. Abgeschlagen wie der Pluto ist Geraldo Alckmin also noch lange nicht. Zumindest in den Vierteln der Ober- und Mittelschicht ist er der beliebteste Kandidat.


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