Mexiko | Nummer 492 - Juni 2015

„Mafia und Regierung sind nicht unterscheidbar“

Die Journalistin Marta Durán und der Anwalt Iván Baéz im Gespräch über die katastrophalen Zustände der Pressefreiheit in Mexiko

Die Arbeitsbedingungen für Journalist*innen in Mexiko verschlechtern sich seit Jahren. Durch die Entlassung der berühmten Investigationsjournalistin Carmen Aristegui ist das Thema Pressefreiheit wieder in den Fokus gerückt. Die LN sprachen mit Marta Durán und Iván Baéz über den medial weniger beachteten Alltag der Journalist*innen von unabhängigen Medien und die repressiven Strategien der Regierung.

Interview: Lea Fauth, Eva Bräth

Im März hat MVS Radio die bekannte Investigativjournalistin Carmen Aristegui entlassen (siehe LN 490). Wie ist die Situation für Journalist*innen im Vorfeld der Kongress- und Regionalwahlen am 7. Juni?
Iván Baéz: In Wahljahren gibt es immer mehr Gewaltdelikte gegen die Presse als sonst. Nicht nur weil von Korruption und Wahlkampagnen berichtet wird, sondern auch, weil die Politiker mit Hilfe der Berichterstattung Stimmen gewinnen wollen. Durch die Zwischenwahlen für den Kongress könnte die Regierungspartei PRI ihre Macht ausbauen. Ebenso ist denkbar, dass ihre Macht an den Wahlurnen eingeschränkt wird. In so einer Situation müssen wir besonders aufpassen, dass das Nationale Wahlinstitut die Presse nicht zensiert. Die PRI nimmt bereits vor den Wahlen Einfluss auf die Berichterstattung. Im Fall von Carmen Aristegui ist es sonderbar, dass die einzige landesweit zu empfangene Sendung, die gerade über Themen wie Korruption kritisch berichtet, so kurz vor den Wahlen eingestellt wird. Seit die PRI an der Macht ist, müssen aber auch Blogs und alternativen Medien sehr aufpassen, weil sie über Korruption und Straflosigkeit berichten.

Welche Rolle spielt das Internet in diesem repressiven Kontext?
IB: Berichterstattung im Internet ist essenziell geworden. Es gibt viele Journalisten, die über das Thema Gewalt anonym auf Blogs oder Facebookseiten schreiben, weil die großen Medien bestimmte Informationen nicht verbreiten. Die PRI-Regierung verübt systematische Cyberattacken gegen alternative Medien. Gleichzeitig eröffnet das Telekommunikationsgesetz der Regierung Möglichkeiten, bestimmte Inhalte im Internet zu kontrollieren. Wenn zum Beispiel jemand meinen Namen sucht, könnte ich beim Nationalen Institut für Transparenz (IFAI) beantragen, dass Google die Einträge nicht anzeigt. Das können beispielsweise Politiker und Unternehmer für sich nutzen, die in Korruption und Straflosigkeit verwickelt sind. Die neuen Kämpfe um die Meinungsfreiheit in Mexiko spielen sich im Internet ab.

Dabei haben viele Menschen in Mexiko gar keinen Internetzugang …
Marta Durán: Internet ist in Mexiko etwas für die jungen Leute, für die Mittelklassen und die gehobenen Klassen. Aber wer von den Leuten, die Internetzugang haben, nutzt diesen, um Nachrichten zu lesen? Vielen geht es eher um Spiele, soziale Netzwerke, oft auch um mit ausgewanderten Familienmitgliedern zu kommunizieren. In sehr gewalttätigen Staaten, wo Informationen gezielt unterbunden werden, sind Blogs sehr nützlich. Und es wurden schon Blogger verhaftet. Der schrecklichste Fall ist der einer Chefredakteurin von einer Tageszeitung in Chihuahua. Dort konnte man über viele Vorfälle der Organisierten Kriminalität und des Drogenhandels in der Zeitung nicht berichten. Also hat sie einen anonymen Blog eröffnet. Daraufhin wurde sie brutal getötet. Sie haben ihr den Kopf abgeschnitten und ihn auf einer Tastatur vor die Tür der Redaktion gelegt. Das zeigt, dass das Internet nicht so anonym ist, wie man glaubt. Wenn sie dich suchen, dann finden sie dich, denn die Organisierte Kriminalität hat Zugang zur besten Technologie und gut ausgebildeten Computerexperten.

Man spricht bei diesen Gewalttaten und Drohungen immer von „Organisierter Kriminalität“. Aber wer steckt dahinter, und welches ist die eigentliche Rolle des Staates dabei?

MD: Drohungen und Aggressionen, die von Staatsbeamten ausgehen, sind sehr häufig. Sie kommen von Polizisten, Bürgermeistern, Landräten, Abgeordneten und anderen. Und es ist sehr einfach, der Organisierten Kriminalität die Schuld zu geben. In vielen Fällen werden Journalisten von Polizisten ermordet – manchmal auf Befehl von Organisierter Kriminalität, manchmal auf Befehl irgendeines Politikers. Das Problem ist, dass man in den meisten Fällen Organisierte Kriminalität und Regierung nicht unterscheiden kann.

IB: Die Regierungen Calderón und auch Peña Nieto versuchen, die Organisierte Kriminalität für die Aggressionen gegen Journalisten verantwortlich zu machen. Tatsächlich begehen aber öffentliche Beamte mehr als 40 Prozent der Angriffe gegen die Presse. In meiner Organisation Artículo 19 haben wir im vergangenen Jahr 326 Aggressionen gegen die Presse dokumentiert. Weniger als ein Prozent davon wurden von der Organisierten Kriminalität verübt. Der Regierung passt das Argument natürlich gut, dass alles von der Organisierten Kriminalität ausginge.

Wie genau sehen die Repressionen aus?
MD: Eine subtile aber sehr effektive Form, die Presse zu zensieren und anzugreifen, sind Anklagen. Wenn ich dich wegen Diffamierung anklage, bist du die nächsten Jahre mit deiner Verteidigung beschäftigt. Dann kommen die Drohungen. Wenn sie dir drohen, dich umzubringen oder dein Kind zu entführen, lähmen sie dich. Sie verändern dein Leben. Ich sage das, weil es mir passiert ist. Am 13. Mai letzten Jahres hat mich jemand zu Hause angerufen und eine Nachricht hinterlassen: „Ich werde dich umbringen“. Du bist rastlos, beunruhigt, denn in Mexiko werden die Drohungen wahrgemacht. Ich habe Glück gehabt, dass das bei mir nicht der Fall war, aber das ist auch keine Garantie für die Zukunft. Es gibt Journalisten, die ihren Beruf aufgegeben haben und trotzdem umgebracht wurden, auch drei Jahre später. Diese Drohungen schaffen Angst, Schrecken, Terror. Viele Journalisten zensieren sich aus Angst selbst.
Und dann gibt es noch schlimmere Dinge, wie Folter und Haftstrafen aufgrund fingierter Delikte. Dem Journalisten Jesús Lemus Barajas aus Michoacán haben sie Verbrechen untergeschoben, die er nicht begangen hatte. Sie beschuldigten ihn des Drogenhandels. Jede Nacht von zwei bis vier Uhr morgens haben sie ihn gefoltert. Nachdem drei seiner Anwälte ermordet wurden, wollte ihn niemand mehr verteidigen, sodass er seine Verteidigung selbst übernehmen musste.

IB: Dann gibt es noch die subtile Zensur, die durch offizielle Werbung der PRI erzeugt wird. „Ich bezahle dich nicht, damit du mich schlägst“. Wenn ich dir, einem Kommunikationsmedium, Geld gebe, dann schreibe nicht gegen mich. Viele lokale Medien sind auf die offizielle Werbung der Regierung angewiesen, ohne sie würden 85 bis 90 Prozent der Medien in Mexiko verschwinden. Dadurch kann die Regierung Einfluss auf die jeweilige Redaktionslinie nehmen, das zeigt auch der Fall Carmen Aristegui. Es gibt viele Entlassungen aus angeblich arbeitsrechtlichen Gründen, die in Wirklichkeit auf die kritische Berichterstattung eines Journalisten zurückzuführen sind.

MD: Eines dürfen wir dabei allerdings nicht vergessen. Es gibt korrupte Ratten, die sich als Journalisten ausgeben. Manche sind es zwar wirklich, aber als Journalisten sind sie nicht minder korrupt, sie machen eine Zeitung auf, bekommen massenhaft Werbung von der Regierung und widmen sich von dort aus der Aufgabe, ein Echo der Regierung zu sein und die kritische Presse anzugreifen.

Wie sind denn die Arbeitsbedingungen für kritische Organisationen wie Artículo 19?
MD: Nun, ich habe eine Morddrohung erhalten.
IB: Seit Peña Nieto regiert, erhalten wir Drohungen, die nicht konkret sind, aber trotzdem ihre Wirkung haben. Wir haben einen Brief bekommen, in dem wortwörtlich stand: „An den Chef und die Stricher, wir werden euch zusammenschlagen bis euch das Herz stehen bleibt“. Das Bedeutende bei diesem Brief ist, dass sie ihn in die Tür legten und unserem Videoüberwachungssystem dabei entgangen sind. Sie wussten also ganz genau, welches unsere blinden Punkte waren. Letztes Jahr, ein paar Tage bevor wir ein Gutachten präsentieren wollten, haben sie uns unser ganzes Arbeitsmaterial gestohlen, vor allem Computer.

Die Situation scheint hoffnungslos. Was kann man machen, was machen Sie insbesondere bei Artículo19?
IB: Informieren. Was mit den Aggressionen bewirkt werden soll, ist Schweigen. Und wenn man auf die Aggressionen mit mehr Information antwortet, dann ist die Botschaft klar: Man kann die Presse nicht mit Gewalt zum Schweigen bringen. Was passiert mit der Mehrheit der ermordeten Journalisten? Worüber haben sie berichtet, wozu recherchierten sie? Das weiß fast niemand, außer den Menschen aus unmittelbarer Nähe oder den Organisationen, die sich diesen Fällen widmen. Artículo 19 versucht seit Jahren, ein informatives Echo aufzubauen: Wenn einem Journalisten etwas passiert, sollen sich alle möglichen Kommunikationsmittel solidarisieren und die Information verbreiten, die der betroffene Journalist veröffentlichen wollte. Auf die Attacken muss mit Informationen geantwortet werden.

Ein anderes Problem ist die Konzentration des mexikanischen Medienmarktes.
MD: Das mexikanische Fernsehen erreicht 98 Prozent aller mexikanischen Haushalte. Der Fernseher gibt den Politikern die Legitimität, die sie durch die Stimmzettel nicht bekommen haben. Das private Radio und das private Fernsehen sind immer in Symbiose mit der jeweiligen Regierung gewesen, in einem offenen Austausch von Gefälligkeiten. In Mexiko ist das Fernsehen wie ein Privatunternehmen entstanden. Das öffentliche Fernsehen ist erst 20 Jahre danach entstanden. Es ist politisch gewollt schwach, damit es dem kommerziellen Fernsehen keine Konkurrenz machen kann.

Wie kommt es, dass im Bezug auf vermeintlich mangelnde Pressefreiheit immer Venezuela im Fokus steht, nicht aber Mexiko? Bei Mexiko spricht man immer nur von Kriminalität, nicht von einer repressiven Regierung.
MD: Mexiko ist ein Investitionsland. Es macht nichts, dass Menschenrechte verletzt werden, dass es Massaker gibt, dass es mehr als 100.000 Tote gibt, 30.000 Verschwundene…das sind kleine Details. Aber wenn das in Venezuela passieren würde! Dann wären sie schon längst einmarschiert. Denn Mexiko ist ein Wirtschaftspartner, der viele Fabrikanlagen hat, um Waren in die USA, nach China oder sonst wohin zu exportieren. Mexiko ist das Land der billigen Arbeitskraft, das seine Gesetze umgestaltet, um transnationalen Unternehmen Vorteile zu verschaffen, während Venezuela ein Land ist, das sich mit der Weltbank und mit den USA angelegt hat. Aber die Anzahl an Aggressionen gegen die Presse in Venezuela ist nicht vergleichbar mit denen in Mexiko. Soweit ich weiß, gab es in Venezuela einen ermordeten Journalisten. Das ist nicht so wie in Mexiko, wo sie beim Radio ins Studio kommen und dich live ermorden, wo alle Hörer den Schuss hören können, wo sie zu dir nach Hause kommen und dich mit der ganzen Familie töten, wo sie Granaten in die Redaktionen werfen, wo sie dir den Kopf abschneiden und dich in Stücke hacken.

Marta Durán
ist promovierte Soziologin und Journalistin. Sie arbeitet als Korrespondentin bei el Toque sowie für das Programm Radio Nederlands. Ihr Buch Yo marcos. Gespräche über die zapatistische Bewegung ist in deutscher Übersetzung bei Edition Nautilus erschienen.

Iván Baéz
ist Anwalt und Mitarbeiter der Organisation Artículo 19, die 1987 gegründet wurde und sich für Presse- und Meinungsfreiheit einsetzt. Mehr Informationen auf www.article19.org


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