Nicaragua | Nummer 198 - Dezember 1990

Neue Nicaragua-Bücher

Bernd Pickert

Zwei neue Nicaragua-Bücher sind im September 1990 erschienen. Der Schweizer Rolf Niederhauser hat in der Sammlung Luchterhand ein Nicaragua Tagebuch veröffentlicht, das von zwei Aufenthalten in Nicagarua berichtet, 1989 und 1990. Und die Edition Nahua hat in der Reihe “Scripte” eine längere Analyse des nicaraguanischen Soziologen Oscar René Vargas zur aktuellen Situation, zu den Gründen der Wahlniederlage der FSLN, zu den beiden Streiks im Mai uns Juli diesen Jahres veröffentlicht. Zwei völlig unterschiedliche Bücher und Vermitt­lungsansätze also, die allerdings beide letztendlich die gleichen Prozesse beschreiben und Antworten auf die gleichen Fragen finden wollen.
“Nahua-Scripte wollen nicht zum x-ten Mal neue Materialberge heranschaffen, die in eine Neuauflage der alten Sprachrohrpolitik münden”, schreibt die Redakteurin in ihrem Editorial, in dem – zum x-ten Mal – die Notwendigkeit des fruchtbaren Gedankenaustausches zwischen hiesiger sozialer Bewegung und Befreiungsbewegung dort im Gegensatz zur Projektion der eigenen Politik­wünsche auf die Befreiungsbewegungen gefordert wird. Angesichts des hohen Anspruchs, den die Redaktion an die Neugestaltung der “Scripte” stellt, verwundert dann allerdings die Wahl dieser Analyse von Oscar-René Vargas, die vor allem über eine zeitlich befristete Aktualität nicht hinausgeht. Der größte Teil des Buches besteht aus einer chronologischen Information über die Ereignisse in Nicaragua von der Regierungsübernahme der UNO am 25. April 1990 bis zum Ende des Generalstreikes im Juli, mit Kommentaren und Bilanzen versehen, die oft so wenig weitblickend wirken, als seien sie am Tage des Ereignisses selbst für die Morgenausgabe der “Barricada” geschrieben worden.
Da, wo es tatsächlich um programmatische Auseinandersetzungen geht – also der Punkt, wo sich lateinamerikanische und europäische Linke noch am ehesten in einem gemeinsamen Dilemma befinden – steht geschrieben:”Ich für meinen Teil gehöre zu denen, die “das Kapital” für einen Gipfelpunkt der klassischen poli­tischen Ökonomie und bis heute für unverzichtbar halte, wenn es um die Anatomie der Wirtschaftsprozesse geht, die jedoch anderseits den Marxismus als fertige und abgeschlossene Weltanschauung für überwunden halten – zum Glück. Er muß weiterentwickelt und angepaßt werden. Auf jeden Fall ist es not­wendig, ihn zu modernisieren und ihn damit zu einem wesentlichen Element der täglichen politischen Praxis machen (S. 45f.).”
Dies ist nun nicht nur eine Binsenwahrheit, es ist sogar eine alte Binsenwahrheit, eine Forderung, die wohl seit mindestens 15 Jahren in der nicht-orthodoxen Linken erhoben wird. “Das Verschwinden des Stalinismus, der die Basis für die antikommunistische Ideologie abgab, eröffnet neue Alternativen für die Umgruppierung der progressiven Kräfte auf internationaler Ebene”, schreibt Vargas an anderer Stelle und meint damit die Verbindung zu anderen Ländern der “dritten Welt”, die durch die “technologische Revolution und die Internatio­nalisierung der Wirtschaft erleichtert werde. Als ob der Antikommunismus eine Reaktion auf den Stalinismus gewesen wäre! Genauso könnte behauptet werden, die US-Aggression gegen Nicaragua wäre eine Reaktion auf die Menschenrechts­verletzungen der SandinistInnen gewesen. Und derZerfall des stalinistischen Systems eröffnet gerade für die nicaraguanische Linke zunächst mal gar nichts außer der klaren Perspektive jedes revolutionären Projekts, keine wirtschaftliche Unterstützung mehr erwarten zu können.
Nein, dem Anspruch der Redaktion und dem Untertitel “Bilanz und Perspek­tiven” wird dieses Buch nicht gerecht; es liefert allerdings eine -streitbare – kommentierte Chronologie der Ereignisse von 100 Tagen UNO Regierung in Nicaragua, die für Interessierte ein brauchbarer Teil des Materialberges aus Lateinamerika zum Studium der dortigen Prozesse ist.
Ganz anders, mit unverhohlen europäischem Blick und in der Form des klas­sischen Reiseberichtes gehalten, beschreibt Rolf Niederhäuser im ersten Teil seines Buches persönliche Eindrücke von seiner Reise nach Nicaragua, Ein­drücke, die jedeR Nicaragua-Reisende nachvollziehen kann. Bisweilen beschreibt er bewußt die Kollision zwischen europäischem Denken und nicaraguanischem Handeln; an einer Stelle des Buches tritt aber die Betrachtungsweise eines euro­päischen Mannes derartig dümmlich hervor, daß sie hier kurzzitiert werden soll. Niederhauser schreibt über den Eindruck, den das Militär aufihn hinterläßt: “Da zudem viele ihre Uniform auch später noch-Männer wie Frauen, wenn sie aus dem Dienst entlassen sind – als billige Arbeitskleidung tragen, hat die Uniform sogar etwas Ziviles – vor allem, wenn Frauen diese Uniform tragen. Wieder und wieder passiert es mir, daß ich auf dieser Straße stehenbleibe , ein wenig ver­stohlen vielleicht, weil ich einige dieser jungen Frauen einfach ansehen muß: ihre schönen dunklen Gesichter, ihr schwarzes Haar, ihre grazile Weiblichkeit in Uniform. Wieso sieht MANN so schöne und selbstbewußte Frauen hier über­haupt fast nur in Uniform?” Auf nach Nicaragua, Jungs, zu den geilen Mandelaugen in Uniform!
Wie gesagt, die dümmste Stelle des Buches, die sonst mit durchaus feinfühlig aufs Papier gebrachten Beobachtungen ein recht plastisches Bild vermittelt – nicht von Nicaragua, aber von Reisen nach Nicaragua. Das ist kein Vorwurf, sondern der Gattung “Reisebericht” immanent.
Der zweite Teil des Buches, seine Reise zu den Wahlen, ist deutlich allgemein­politischer geprägt, vermischt die Darstellung des politischen Geschehens mit den Schilderungen persönlicher Erlebnisse. Wie alle Nicaragua-Interessierten – auch dies kein Vorwurf – überkommt auch ihn die Lust am Spekulieren, wie es in Nicaragua weiterhgehen könnte, wägt auch er Kräfteverhältnisse, politische Spaltungen der UNO, Umstrukturierungs-Diskussionen der FSLN gegenein­ander ab. Problematisch ist jedoch, daß er zu Thesen kommt, die für Nicaragua-Interessierte, nicht nur für weniger Informierte aus den vorangegangenen zwei Dritteln des Buches nicht nachzuvollziehen sind. Die Aussage, die der Verlag im Klappentext als “verblüffendes Ergebnis” präsentiert, ist recht schlicht: “Der Ausgang der Wahlen (…) stellt mitsamt der Niederlage der Sandinisten weniger einen Widerspruch zum sandinistischen Programm dar, als vielmehr dessen schiere Konsequenz – nur daß sich die neue Situation sehr viel komplexer präsentiert als die Schöpfer dieses Programms erträumt haben”. Anders gesagt, bürgerlicher Leser, der Du bist in Deutschland: Guck, die SandinistInnen haben ja wirklich eine Verfassung erlassen, die die Ablösbarkeit der Regierung vorsieht. Nur wollten sie halt gewinnen.
Die Stärke des Buches liegt in den gut zu lesenden Beschreibungen der Eindrücke und Erlebnisse, im eigentlichen Reisebericht, nicht in der Analyse, deren argumentatives Fundament zu stark im Unklaren bleibt. Wer die Literatur-Gattung “Reiseberichte” schätzt, wird in diesem Buch zwar keinen zweiten Mark Twain oder Egon Erwin Kisch, aber einen gut zu lesenden Schweizer in Nica­ragua erleben.

Oscar René Vargas: Nicaragua nach dem Regierungswechsel. Bilanz und Perspektiven; Edition Nahua-Script. September 1990

Rolf Niederhauser: Requiem für eine Revolution. Tagebuch Nicaragua; Sammlung Luchterhand, September 1990

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