Pastrana verliert an Boden
In Kolumbien ist weiterhin kein Frieden in Sicht
Die Entführung des Linienfluges Bucaramanga–Bogotá Mitte April durch das ELN (Nationales Befreiungsheer) schien aus einem Agenten-Film zu stammen, allerdings mit offenem Ausgang. Die Guerillaorganisation, die in den kolumbianischen Medien in den vergangenen Monaten als stark geschwächt gehandelt wurde, ließ unter den Augen der Flugsicherheit eine Fokker 50 der Fluglinie Avianca mit mehr als 40 Personen an Bord regelrecht verschwinden. Trotz schwerster Sicherheitsmaßnahmen auf dem Flughafengelände von Bucaramanga war es einer Gruppe gut gekleideter Männer, darunter auch ein Pfarrer, gelungen, Waffen in die Maschine zu schmuggeln und wenige Minuten nach dem Start die Kontrolle über das Flugzeug zu übernehmen.
Erstaunen rief in den Medien vor allem hervor, daß einer der Entführer offensichtlich beste Kenntnisse über die Maschine besaß. So deaktivierte der Copilot der ELN sämtliche Ortungsgeräte, brachte das Flugzeug damit vom Radar der Kontrollstationen und ließ die Maschine wenig später auf einer stillgelegten Piste nahe der Kleinstadt Simití in der Provinz Bolívar landen. Nach Berichten von freigelassenen Passagieren sei die Landebahn dort bereits von mehreren Hundert ELN-Guerilleros gesichert gewesen. Auch in den anliegenden Ortschaften, in die man während der folgenden mehrstündigen Autofahrt gelangt sei, habe „alles grün ausgesehen“, so die Augenzeugen.
Die Omnipräsenz der Guerilla besaß eine klare Botschaft, immerhin hat das 8.000 Quadratkilometer große Gebiet im Süden der Provinz Bolívar für beide Seiten enormen Symbolwert: Armeespitze und Paramilitärs hatten zur Jahreswende großspurig verkündet, die ELN aus der Gegend vertrieben zu haben, in der 80 Prozent der kolumbianischen Goldvorkommen vermutet werden. Auf der anderen Seite wollte die Guerillaorganisation die Gemeinden Simití, Morales, San Pablo und Santa Rosa zum Sitz der zwischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Guerilla im vergangenen Jahr vereinbarten Nationalkonvention machen.
Ein dramatisches Warnsignal
Im April nun ließ sich die ELN nicht mehr aus dem Gebiet vertreiben. Nach Angaben der Tageszeitung Vanguardia Liberal aus Bucaramanga seien so viele Guerilleros zwischen Simití und San Pablo zusammengezogen worden, daß die Armee auch nach über einer Woche nicht in der Lage war, die Stellungen der Rebellen einzunehmen. Die Militärs seien daher dazu übergegangen, die Region aus der Luft unter Feuer zu nehmen. Bei Redaktionsschluß war die Situation so kritisch, daß sowohl die Angehörigen der Entführten als auch der Gouverneur der Provinz Santander eine Einstellung der Bombenangriffe forderten. Die Regierung Pastrana lehnte dies jedoch nicht nur strikt ab, sie kappte auch noch den letzten Kanal zur ELN. Die in Medellín inhaftierten ELN-Sprecher Felipe Torres und Francisco Galán wurden schweren Repressalien unterworfen. Man nahm den beiden Guerilleros, die als Vertreter ihrer Organisation gewisse Sonderrechte besitzen, Funkgeräte und Telefone ab und untersagte ihnen alle Besuche.
Auch in anderen Landesteilen ist die Entwicklung dramatisch. In den Provinzen Córdoba, Antioquia, Cauca, Boyacá und Arauca kam es zu weiteren schweren Angriffen durch die ELN, in Bogotá zündete die Untergrundorganisation mehrere große Sprengsätze vor Armeekasernen. Dabei äußerten ELN-nahe Quellen in Europa, daß sich die Organisation durchaus des Ernstes dieser Eskalation bewußt sei. Immerhin wurde die Flugzeugentführung von mehreren Menschenrechtsorganisationen, unter ihnen auch die Angehörigen der Verschwundenen, ASFADDES, offen kritisiert. Es besteht nämlich kein Zweifel, daß damit die Genfer Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung verletzt wurden. Doch die gleichen Quellen bekräftigten auch, daß die ELN ein dramatisches Warnsignal habe abgeben wollen. Wenn in den nächsten Monaten kein gesellschaftlicher Dialog über eine politische Lösung in Gang kommt (und die Voraussetzung dafür vor allem ein Ende des paramilitärischen Terrors), wird Kolumbien in einen blutigen Bürgerkrieg stürzen.
Eine Meinung, die auch der exilierte Journalist und Soziologe Alfredo Molano teilt. Im El Espectador äußerte der Publizist, die Guerilla sei jahrelang ein Randphänomen der Gesellschaft gewesen. Erst durch die Paramilitärs sei die kolumbianische Gesellschaft so stark polarisiert worden, daß nun ein offener Bürgerkrieg zwischen Staat und Aufständischen nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich sei.
Die Gespräche mit den FARC bleiben „eingefroren“
Auch vom Treffen zwischen Friedensberater Victor Ricardo und der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbien) am 20. April gab es keine guten Neuigkeiten. FARC-Kommandant Raúl Reyes erklärte nach der Zusammenkunft bei San Vicente de Caguán (Südkolumbien), die Gespräche blieben vorerst eingefroren. Seine Organisation wolle zunächst einmal prüfen, ob die Regierung tatsächlich Maßnahmen gegen die Paramilitärs ergriffen und Verbindungen zwischen Armee, hochrangigen Politikern und Todesschwadronen gekappt habe. „Das Treffen war nicht dazu da, eine neue Dialogrunde zu eröffnen, sondern von der Regierung Ergebnisse im Kampf gegen den Paramilitarismus präsentiert zu bekommen“, äußerte Reyes kühl. Wenn in der Frage nichts passiert sei, sei eine schnelle Wiederaufnahme der Verhandlungen unwahrscheinlich.
Die FARC hatten die erst Anfang Januar aufgenommenen Gespräche für drei Monate ausgesetzt, nachdem paramilitärische Gruppen in einer Woche 200 Personen ermordet hatten. Die Guerillaorganisation erklärte, sie könne nicht mit einer Regierung diskutieren, die die Massaker an der Bevölkerung mitzuverantworten habe, und legte ein 20seitiges Dokument über die Hintermänner des schmutzigen Krieges vor. Zwar wurden nach der Ermordung von drei US-amerikanischen Umweltschutzaktivisten (siehe LN Nr. 298) auch die FARC von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert, doch die Vorwürfe der Guerilla gegen die Armee bleiben dennoch richtig. Selbst das US-State Department, das die kolumbianischen Militärs mit jährlich 400 Millionen US-Dollar unterstützt, mußte letztlich zugeben, daß „örtliche Militärkommandanten in verschiedenen Regionen taktische Vereinbarungen mit den paramilitärischen Gruppen getroffen haben“.
In der Tageszeitung El Colombiano äußerten der eher rechte Politologe Alfredo Rangel und der CINEP-Mitarbeiter Mauricio García daher auch unabhängig voneinander, daß Pastrana geschwächt in die neue Verhandlungsrunde gehe. „Die Regierung hat es nicht verstanden, die Unterbrechung (…) zu nutzen und wieder die Initiative zu ergreifen“, äußerte Alfredo Rangel. Der Pfarrer Mauricio García betonte darüberhinaus, daß Pastrana keine schlüssige Sozial- und Entwicklungspolitik verfolge, die eine Grundlage für den Friedensprozeß schaffe.
Die einzige nennenswerte Aktivität des Präsidenten war die Abberufung der wegen ihrer Verbindungen zu den Paramilitärs schwerbelasteten Generäle Fernando Millán und Alejo Rito del Río, die in Santander, Bolìvar und Urabá an der Vorbereitung mehrerer Massaker beteiligt waren. Die Armee protestierte zwar gegen den „Kniefall vor den FARC“, aber als ernsthafte Maßnahme gegen den schmutzigen Krieg wird Pastrana die Entlassung der Generäle dennoch nicht darstellen können. In den von der Armee scharf kontrollierten Ortschaften um die entmilitarisierte Zone im Süden des Landes herum häufen sich die paramilitärischen Drohungen. Wenn das Gebiet der FARC weiterhin geräumt bleibe, werde man ins Gebiet der FARC vordringen und die Dorfbewohner massakrieren, kündigten die Todesschwadrone an.
Die sozialen Proteste nehmen wieder zu
Besonders katastrophal für Pastrana, von dem inzwischen nur noch 35 Prozent der KolumbianerInnen ein positives Bild besitzen, ist jedoch die Verschärfung der sozialen Probleme. Praktisch alle Wirtschaftsdaten sind rückläufig. Der kolumbianische Mittelstand, der in den vergangenen 20 Jahren auf das stabilste Wirtschaftswachstum des Subkontinents zählen konnte, ist am Verarmen. Das verarbeitende Gewerbe ist eingebrochen wie noch nie in der Geschichte. Die Industrieproduktion schrumpfte im Januar 1999 um 13,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, in der Automobilindustrie waren es gar 63 Prozent. Die Arbeitslosigkeit – wegen der hohen Dunkelziffern sowieso schwer zu registrieren – erreichte im April 19 Prozent, die Nachfrage nach Energie fiel um etwa den gleichen Wert.
Von sozialem Ausgleich will Pastrana schon gar nichts wissen. Die Reichtumsgegensätze wachsen enorm, und der Präsident ist weit davon entfernt, von der neoliberalen Politik seiner Vorgänger abzurücken. So ist es denn auch wenig überraschend, daß die Protestbewegungen wieder wachsen. Die Lehrergewerkschaft FECODE hat sich bei den letzten Wahlen spürbar radikalisiert und im April einen unbefristeten Streik aufgenommen. Staatsangestellte, StraßenverkäuferInnen, Schuldnerverbände und StudentInnen nahmen sich die Straße, zudem kam es im Nordosten des Landes erneut zu Bauernprotesten. Die Landbewohner errichteten in der Nähe Bucaramangas Straßensperren und forderten die Asphaltierung von Zufahrtswegen in ihre Dörfer.
Pastrana antwortete auf all diese Proteste nur mit der Entsendung von Truppen. Der noch im vergangenen August so gefeierte „Friedenspräsident“ hat sich verbraucht – keine Seite setzt mehr besondere Hoffnung in ihn. Korruptionsfälle und schwere Zerwürfnisse innerhalb des Kabinetts haben das Ansehen der Regierung stark erschüttert. So teilten viele BeobachterInnen, was der republikanische Abgeordnete des US-Bundesstaates Florida, Lincoln Diaz-Balart, gegenüber dem El Espectador erbost äußerte: „Pastrana ist ein Desaster, seine Regierung besteht aus Amateuren.“