Aktuell | Corona | Kolumbien | Nummer 551 - Mai 2020 - Onlineausgabe

ROTE TÜCHER ALS ZEICHEN DES PROTESTS

Während immer mehr Menschen unter der Ausgangssperre verzweifeln, schlägt die kolumbianische Regierung Proteste nieder

Der Corona-Virus und vor allem die damit verbundene Ausgangssperre hat Kolumbien nach wie vor im Griff. Gegen das zögerliche Agieren der Regierung organisieren sich Bürgermeister*innen und Nachbarschaften durch soziale Vernetzung.

Von Katherine Rodriguez und Fabian Grieger


Desinfektionsmittel hilft nicht gegen den Hunger Viele Menschen haben durch die Krise ihre Arbeit verloren (Foto: Liberman Arango)

Seit dem ersten bestätigten Coronafall am 6. März – inmitten der Debatte um den Wahlbetrug des Präsidenten Ivan Duques (siehe LN 550) – ist die Zahl der Infizierten in Kolumbien auf 14.939 (Stand 17.05.20) gestiegen – nach offiziellen Angaben sind 562 Menschen an Corona gestorben. Die Dunkelziffer der nicht erfassten Infektionen ist ungewiss, denn wie auch in anderen Ländern sind in Kolumbien die Testkapazitäten begrenzt.

Dabei handelte sich die Regierung vor allem in der Anfangszeit die Kritik ein, den Virus zu unterschätzen. So zögerten Präsident Duque und sein Gesundheitsminister Fernando Ruiz beispielsweise damit, die internationalen Flughäfen zu schließen.

Angesichts der Untätigkeit der Regierung gingen die Bürgermeister*innen landesweit in vielen Gemeinden mit eigenen Schutzmaßnahmen voran. Doch Präsident Duque zwang per Dekret die Lokalverwaltungen sogar zur Rücknahme der eingeleiteten Corona-Maßnahmen. Erst unter dem Druck der Öffentlichkeit machte die Regierung eine 180-Grad-Wende und verhängte ab dem 20. März für alle über 70-Jährigen eine Ausgangssperre, die vier Tage später auf die gesamte Bevölkerung ausgeweitet wurde. Seit dem 11. Mai gibt es einige Lockerungen der bis zum 25. Mai vorgesehenen allgemeinen Ausganssperre. Diese gilt nun nicht mehr für jene Landkreise, die keine neuen Fälle aufweisen. Dort kann das öffentliche Leben weitestgehend zur Normalität zurückkehren. Restaurants bleiben jedoch geschlossen und Veranstaltungen mit großen Gruppen sind auch dort weiterhin verboten.

Nachdem über viele Wochen von der strengen Ausgangssperre lediglich Menschen in systemrelevanten Berufen ausgenommen waren und alle anderen nur zum Einkaufen im nächstgelegenen Supermarkt oder zum Spaziergang mit dem Hund in der Nähe des eigenen Hauses auf die Straße durften, sind die Regeln nun auch in den noch betroffenen Landkreisen etwas gelockert. So dürfen alle Menschen über 6 Jahren jetzt dreimal die Woche für eine halbe Stunde draußen Sport machen und auch einige Wirtschaftszweige, vor allem Teile der Industrie und das Handwerk, aber auch Buchläden, dürfen wieder öffnen.

Duque will Reaktivierung der Wirtschaft auf Kosten der Gesundheit

Zuvor legten einige große Städte, in denen die Ansteckungsgefahr wegen der dichten Besiedlung besonders hoch ist, zeitweise sogar fest, dass jede*r das Haus nur noch an zwei bestimmten Wochentagen verlassen darf. In Bogotá führte Bürgermeisterin Claudia Lopez ein genderbasiertes System ein, bei dem Frauen und Männer an jeweils unterschiedlichen Tagen das Verlassen des Hauses erlaubt ist, was auf große Kritik aus der queeren und trans Community stieß.

Hauptstadtbürgermeisterin Lopez und Präsident Duque sind gegenüberstehende Protagonist*innen der Krise. Während Lopez öffentlich immer wieder die Aufrechterhaltung der Maßnahmen forderte, will Duque möglichst schnell den Weg für eine Reaktivierung der Wirtschaft einschlagen – laut seiner Kritiker*innen auf Kosten des Gesundheitsschutzes.

Das kolumbianische Gesundheitssystem ist eine öffentlich-private Mischform. Zwar garantiert die öffentliche Minimalversicherung laut Regierungsangaben 95% der Kolumbianer*innen Zugang zur ärztlichen Grundversorgung (laut BBC sind es nur 76%); für jegliche weitere Leistungen, die oft noch im Bereich des medizinisch Notwendigen liegen, sind jedoch private Zusatzversicherungen notwendig, die sich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung leisten kann.

Auch die Anzahl der Intensivbetten mit 5349 bei knapp 50 Millionen Einwohner*innen (zum Vergleich: Deutschland verfügt über 31.500 Intensivbetten) ließ zunächst befürchten, dass das kolumbianische Gesundheitssystem schnell an seine Belastungsgrenze kommen würde, zumal sich die Intensivbetten im Wesentlichen auf einige wenige Regionen konzentrieren. In 4 Departamentos gibt es kein einziges. Arbeitende im Gesundheitswesen beklagen zudem den Mangel an Schutzmaterial, wie Handschuhen oder Masken, um sich während der Epidemie schützen und eine weitere Ausbreitung verhindern zu können.

Kurz vor der Ausgangssperre in Medellín Mittlerweile haben sich viele Kollektive zum Verteilen von Lebensmittelspenden gegründet (Foto: Liberman Arango)

Die landesweite Ausgangssperre brachte viele Kolumbianer*innen in existenzielle Probleme. Ein großer Teil der Menschen lebt vom informellen Sektor. Ob Straßenverkäufer*innen, Tagelöhner*innen, Selbstständige, Inhabende von kleinen Läden oder Sexarbeiter*innen sowie jene, die ihre Arbeit im Zuge der Krise verloren, brach die ökonomische Grundlage schlagartig weg. Haushalte, die sich nicht mehr selbst versorgen können, begannen damit, rote Tücher an ihre Fenster zu hängen, um so nach Hilfe in der Krise zu rufen. „Ich war traurig, als ich von der Arbeit kam, weil sie mir nur die Hälfte meines Lohnes gezahlt haben und nun muss ich entscheiden, ob ich die Miete oder das Essen für meine Familie bezahle“, erzählt Jorge, der als Kurier nach wie vor arbeiten muss, um Medikamente und Lebensmittel auszuliefern, ohne dabei von seiner Firma Masken oder Desinfektionsmittel zu erhalten. Auf einer seiner Lieferfahrten stieß Jorge auf eine Demonstration von Menschen mit roten Halstüchern, die herausschrien, dass sie Hunger haben. „An diesem Tag konnte ich nicht schlafen.“

Der Hunger ist in Kolumbien ein alter Virus. Die roten Tücher entwickelten sich neben dem Hilferuf auch zum Protestsymbol. Immer wieder kam es zu Straßenblockaden, die gewaltsam von der Polizei aufgelöst wurden. Besonders in den peripheren Regionen und jenen Vierteln der Städte, in denen es nicht einmal eine öffentliche Wasserversorgung gibt, spitzt sich die Situation mit jedem weiteren Tag der Quarantäne zu. Die staatlichen Hilfen sind ungenügend. Zwar gab es neben Aushilfskrediten für Unternehmen auch ein Verbot von Zwangsräumungen für die Zeit der Ausgangssperre, Essenslieferungen und zeitlich begrenzte Mehrwertsteuersenkungen für einkommensschwache Familien sowie regional auch Einmalzahlungen; doch die Umsetzung der Maßnahmen ist viel zu langsam. Sie wird unter anderem dadurch erschwert, dass viele Bedürftige in den staatlichen Systemen nicht erfasst sind.

Gefängnisaufstände werden brutal niedergeschlagen

Dazu droht Kolumbien durch den fallenden Ölpreis sowie eine abstürzende Währung eine Verschärfung der wirtschaftlichen Probleme. Durch seine extraktivistische Exportorientierung ist das Land außerdem in hohem Maße vom schwächelnden Weltmarkt abhängig.

Auch weitere gravierende Probleme bleiben in der Krise bestehen: So ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Funktionäre in 8 Departamentos wegen der Veruntreuung der Corona-Hilfsgelder. Derweil investierte das Innenministerium mitten in der Krise in den Kauf von 5 gepanzerten Fahrzeugen für die Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD im Wert von 1,86 Millionen Euro. Ein Versuch, das sowieso schon ramponierte Image der für ihre Brutalität berüchtigten Einheit etwas aufzupolieren, war, die ESMAD-Einheiten in voller Ausrüstung Lebensmittelspenden verteilen zu lassen. Überhaupt scheint die Regierung auf Militarisierung zu setzen. Neben der Unterdrückung von Protesten wurde der „Krieg gegen den Virus“ ausgerufen, den paramilitärische Gruppen in vielen Teilen des Landes nun umsetzen, indem sie mit Androhung von Waffengewalt für die Einhaltung der Ausgangssperre sorgen.

In den überbelegten und unterversorgten Gefängnissen wiederum breitete sich wenige Tage nach Beginn der Ausgangssperre Panik aus. Im Hauptstadtgefängnis La Modelo reagierten die Sicherheitsbeamten mit einem Massaker auf einen Aufstand und brachten 23 Gefangene um, 83 wurden verletzt. Auch in weiteren Gefängnissen kam es zu Rebellionen, die allesamt niedergeschlagen wurden.

Die sozialen Bewegungen versuchen derweil autonom der Krise durch Solidarität etwas entgegen zu setzen. Mit Beginn der Ausgangssperre gründeten sich spontan viele Kollektive zum Sammeln und Verteilen von Lebensmittelspenden. Es entstanden freie Radioprogramme, die den Ausnahmezustand kritisieren, sowie ein breites selbstorganisiertes Bildungsangebot. So wurde die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen ebenso laut wie Kritik an der Verletzung des Arbeitsschutzes, dem unzureichenden Gesundheitssystem oder den Zuständen in den Gefängnissen. Es waren vor allem unabhängige Journalisten, die vom Hunger, dem Protest und der staatlichen Unterdrückung berichteten.

Als in Medellín aus dem Helikopter ein Konzert zur Unterhaltung der Menschen angekündigt wurde, waren die Proteste mit der Forderung nach echter Hilfe anstatt eines sündhaft teuren Konzerts so laut, dass das Konzert abgesagt wurde. Neue Formen des Protests brachte auch der erste Mai mit sich. Gewerkschaften riefen zur Kampagne „Demonstrieren wir im Netz“ (marchemos en la red) auf. Die Mitorganisatorin der Kampagne Araceli Cañaveral erklärt mit Blick auf den Anstieg der Ermordungen von sozialen Aktivist*innen im Monat der Quarantäne: „Hier kam alles zum Stillstand außer dem Paramilitarismus“. Die illegalen bewaffneten Gruppen bewegten sich sogar noch ungestörter in ihren Territorien. Im Cauca, Nariño, Antioquia und Norte de Santander wurden im Monat April 15 soziale Aktivist*innen sowie Ex-FARC-Kämpfende ermordet.

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