Sparen bis zur Rebellion
Der IWF rettet das Land vorerst vor der Zahlungsunfähigkeit
Nicht viele dürften die Einschätzung von Argentiniens Präsidenten Fernando de la Rúa teilen: „Nun ist es vorbei mit der Unsicherheit.“ Grund für De la Rúas Optimismus war der neue Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), den das Land nach zähem zwölftägigen Ringen von der Washingtoner Institution Ende August zugestanden bekam. Acht Milliarden US-Dollar sollen das Land vor dem ökonomischen Kollaps und der Zahlungsunfähigkeit bewahren. Das mag kurzfristig wirken. Zumindest die Börse reagierte auf die Nachricht positiv. Die Aktienwerte stiegen am Tag darauf um über acht Prozent, schließlich gibt die IWF-Liquiditätshilfe den Kapitalisten mehr Zeit, ihre Depots umzudisponieren. Die Furcht, wegen eines Crashes nicht mehr dazu zu kommen, ist gebannt. Damit sind auch schon die Gewinner des IWF-Kredites genannt: all jene, die von der künstlichen Überbewertung des Pesos durch die strikte Dollarbindung profitiert haben. Mit spekulativen Anlagen in den Peso schöpften sie Gewinne ab, ohne der Gefahr einer plötzlichen Abwertung ausgesetzt zu sein, da diese per Gesetz im Rahmen des Plan Cavallo seit 1991 ausgeschlossen ist.
Eben dieser Domingo Cavallo, der unter Menem bis 1996 als Wirtschaftsminister fungierte und von Fernando de la Rúa im Frühjahr als Retter in der Not als Superminister zurückgeholt wurde, verkündete, dass der IWF keine „Bedingungen“ an den Kredit geknüpft hätte. Wenn Cavallo die Wahrheit gesagt hat, erreichte die Effizienz des IWF damit neue Gipfel – zwölf Tage verhandeln, um dann bedingungslos Kredite zu vergeben. Dass von den Geldern bei der Bevölkerung kein Cent ankommen wird, steht dagegen außer Frage.
Zinsen in Millionenhöhe
Allein für die Bedienung der Schulden muss Argentinien dieses Jahr elf Milliarden US-Dollar ausgeben und damit drei Milliarden mehr, als die neuerliche Finanzspritze beträgt. Unter Umständen ist diese die letzte für den Pampastaat, denn der US-Finanzminister Paul O´Neill hat schon angekündigt, dass die USA nicht Willens sind, länger „das Geld amerikanischer Klempner und Zimmerleute“ in Argentinien zu verpulvern. O´Neill wollte damit weniger einen Hinweis darauf geben, wer in den USA Steuern zahlt als vielmehr darauf, dass die USA sich selbst schließlich am nächsten stehen und bei stockender Inlandskonjunktur US-amerikanische Steuergelder im eigenen Land benötigt würden.
Auch wenn Cavallo bestritt, dass an den Kredit Bedingungen geknüpft seien, so ist doch klar, dass Argentiniens Regierung den eingeschlagenen Kurs des Null-Defizits um jeden Preis fortzusetzen hat. Im August hat es geklappt, nicht mehr auszugeben als an Steuereinnahmen hereinkamen. Dafür mussten die Angestellten des öffentlichen Dienstes und die Rentner zwangsweise 13 Prozent Einkommenseinbußen hinnehmen. Im September dürfte dies nicht mehr ausreichen, denn die Steuereinnahmen in dem seit 1998 von einer Rezession gebeutelten Land gehen weiter zurück. De la Rúa steht deswegen mit dem Rücken zur Wand. Weitere soziale Einschnitte sind angesichts wachsender sozialer Proteste und politischem Widerstand seitens diverser Provinzregierungen kaum durchsetzbar und so bleibt ihm nur die Flucht nach vorne: eine Sparkur im politischen System. Fernando de la Rúa, in der argentinischen Presse als Frenando (Bremser) verspottet, muss gewaltig Gas geben, um den Karren aus dem Sumpf zu ziehen. Er kündigte zu Überraschung aller ein Referendum an, in dem die Bürger über Kostensenkungen in der Politik und die aufgeblähten Parlamente ihre Meinung sagen sollen. 16.508 gewählte Volksvertreter in der Hauptstadt und den Provinzen kassieren derzeit jährlich rund 11 Milliarden DM und zehren damit sechs Prozent des Staatshaushalts auf. Dabei hat jeder argentinische Abgeordnete im Nationalparlament im Schnitt zwölf Mitarbeiter, die ebenfalls gute Gehälter beziehen, während jeder dritte Bürger der gut 35 Millionen inzwischen zu den Armen zählt und die Zahl der Armen täglich um 700 steigt. Ob De la Rúa wirklich eine ernsthafte Reform anstrebt, oder nur versucht, den wachsenden Unmut der Bevölkerung zu kanalisieren und Zeit zu gewinnen, bleibt offen.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die sozialen Bewegungen so einfach besänftigen lassen. Die Lehrer streiken auf unbestimmte Zeit gegen die 13-prozentigen Gehaltskürzungen, die Bus-und U-Bahnfahrer legen mit Spontanstreiks die Hauptstadt Buenos Aires lahm und selbst die in einen offiziellen und einen dissidenten Teil gespaltene Gewerkschaft CGT (Confederación General de los Trabajadores) demonstrierte Ende August erstmals seit 1996 gemeinsam – wenn auch strikt nach Straßenzügen getrennt – gegen die Regierungspolitik.
Piqueteros – Protest oder Zuflucht
Getragen werden die Proteste vor allem von den piqueteros genannten Streikenden, die seit Monaten strategisch wichtige Straßen und Brücken im ganzen Land blockieren. Ihre Aktionen ziehen sie stets nach erprobtem Schema durch. Binnen Minuten errichten sie Barrikaden aus brennenden Autoreifen und Brettern.
Die piqueteros stoßen bei der argentinischen Bevölkerung auf große Akzeptanz. Kein Wunder, wenn Politik darin besteht, 300.000 Kindern das Schulessen zu streichen, wie jüngst von der Provinzregierung Buenos Aires veranlasst. Da bleibt nur der Protest oder die Flucht – allein im US-Bundesstaat Florida werden Ende 2001 etwa 200.000 Argentinier leben, knapp zwei Drittel mehr als im Vorjahr. Auch vor den Konsulaten Spaniens und Italiens stehen jeden Morgen Hunderte an, um einen Pass zu beantragen. Wer einen italienischen oder spanischen Vorfahren nachweisen kann, hat einen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft. Zurück in die Zukunft.