Film | Nummer 371 - Mai 2005

Von Trauben und Träumen

Der kolumbianische Film Maria voll der Gnade

Filmstart: 21. 4. 2004
Maria voll der Gnade, Kolumbien

Anja Witte

Ihr konzentrierter Gesichtsausdruck reflektiert sich in dem kleinen Badezimmerspiegel. Sie legt den Kopf in den Nacken und führt die Weintraube – keine von den kleinen sondern eine große pralle – in den Mund und lässt sie in den Rachen rollen. Jetzt noch schlucken, ihr Gesicht verkrampft sich, sie hustet und spuckt das Obst aus. Angewidert schüttelt sie ihre langen Haare und blickt zweifelnd ihrem Spiegelbild in die Augen. Noch einmal von vorne. Maria übt. Die Siebzehnjährige hat sich für einen Weg entschieden, der sie raus führen soll aus den Zwängen ihres bisherigen Lebens. Dieser Weg führt durch ihren Hals, führt über die Grenzen ihres eigenen Körpers hinweg und über die Grenze, die von Migrationspolizei und DrogenfahnderInnen auf US-amerikanischen Flughäfen kontrolliert wird. Maria will als mula, als „Mauleselin” – also heimliche Drogenkurierin – Kokain in ihrem Magen aus Kolumbien in die USA transportieren.
Der Film Maria voll der Gnade vom Regisseur Joshua Marston erzählt auf einfache, sehr geradlinige Weise die Geschichte der jungen Maria. Gezeichnet wird das Porträt einer selbstbewussten, trotzigen Frau aus einer ländlichen Kleinstadt in der Nähe von Bogota. Zunächst sehr langsam, fast schleppend entfaltet sich das Bild eines öden Alltags zwischen der schlecht bezahlten Arbeit und beengten Wohnverhältnissen mit der Familie. Aber Maria erhofft sich mehr vom Leben, als tagein tagaus in einer stickigen Rosenexportfabrik mit schlecht geschützten Händen Dornen von Stengeln der Rosen für den internationalen Markt abzukratzen.
Zu Hause ist wenig Platz für Individualität. Marias Mutter, Großmutter und ihre Schwester teilen sich das bisschen Raum. Außerdem ist da noch Pachito, der Säugling, den Marias Schwester alleine aufziehen muss, seit der Vater des Kindes sie im Stich gelassen hat. Mit ihrer Schwester hat Maria ständig all das vor Augen, was sie nicht will: andauernde Abhängigkeit, eine müde Resignation vor den miesen Bedingungen und ein passives Ausharren dessen, was da kommen mag. Das wenige Geld, das Maria verdient, muss sie ganz selbstverständlich für den Unterhalt von Pachito abliefern. Voller Verachtung ringt Maria jedes Mal mit sich, bevor sie sich in die Notwendigkeit fügt.
Ihr Freund Juan, Automechaniker und Kindskopf von Beruf, ist langweilig und der aufgeweckten jungen Frau und ihren Ansprüchen nicht annähernd gewachsen. Als Maria ihm mitteilt, dass sie schwanger ist, macht er ihr das Angebot sie zu heiraten, doch sie lehnt ab. Sich an Juan zu binden, den sie ohnehin nicht liebt, wäre nur ein weiterer Schritt in Richtung eines Lebens, in dem Maria keine Entwicklungsmöglichkeiten für sich sieht. Die Krise ist perfekt, als sie nach einem hässlichen Zwischenfall mit ihrem schikanösen Chef ihren Job in der Fabrik hinschmeißt. Schwanger und arbeitslos steht sie mit leeren Händen da, als sie über einen entfernten Bekannten Kontakt zur Drogenhandelszene knüpft.
Jetzt beginnt der spannende Teil des Films. In dem kleinen sterilen Raum hinter der Apotheke empfängt Maria die erste der rund 60 Gummikapseln à 10 Gramm aus der Hand des Drogenboss Javier. Manche Zuschauerin im Kino schluckt laut, wenn Maria die Kapsel von der Größe eines Weinkorkens runterwürgt: der Schmerz überträgt sich fast körperlich von der Leinwand.
Spannend ist vor allem die klaustrophobische Reise im Flugzeug. Dort sind gleich mehrere mulas unterwegs, um so die Chance zu erhöhen, selbst wenn eine erwischt wird, doch einen großen Teil der geheimen Fracht durchzubringen. Die ängstlichen bis hilfesuchenden Blicke der Mädchen treffen sich stumm zwischen den vollbelegten Sitzreihen. Physisch gut geht es keiner von ihnen, aber Lucie leidet besonders. Wenn eine der Kapseln sich öffnet, dann ist der Ausgang mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich.
Maria wird glänzend gespielt von der Kolumbianerin Catalina Sandino Moreno. Der Film gewann auf der Berlinale einen Silbernen Bären. Und die Oscarnominierung der jungen Schauspielerin für die beste weibliche Hauptrolle löste in Kolumbien Euphoriestürme aus, die auch nicht kleiner wurden, als der Oskar schließlich an Hillary Swank vergeben wurde für ihre Darstellung der mittellosen Kellnerin in Million Dollar Baby, die ihren Ausweg aus Armut und Perspektivlosigkeit im Boxkampf sucht.
Der Film ist auf jeden Fall sehenswert und es empfiehlt sich die Orginalversion mit Untertitel zu wählen, da sonst viel vom Lokalkolorit verloren geht. Der Film bleibt unterhaltsam und gelungen auf einer sehr persönlichen Ebene. Politische Dimensionen wie zum Beispiel die Rolle der USA im Drogenhandel, als eines der weltweit größten Drogenkonsumentenländer, bleiben jedoch unreflektiert.
Etwas unbefriedigend bleibt auch die implizite Botschaft zum Schluss des Films. Die Schwester der Drogenkurierin Lucie, die schon vor Jahren in die USA migrierte, erklärt, dass sie vor allem dort bleibe, um ihrem ungeborenen Kind eine Chance zu geben. Alles ist besser, als in Kolumbien ein Kind aufzuziehen, scheint der Film zu vermitteln. Auch Maria entscheidet sich am Ende für die „Freiheit”: Sie geht nicht zurück nach Kolumbien. Damit entkommt sie der ökonomischen Situation in ihrer Heimatstadt, dem direkten Einfluss ihrer Familie und auch den Forderungen der Drogenbosse, die eine einmal „ausgebildete” mula immer wieder engagieren – freiwillig und unfreiwillig. Marias ungeschickte und naive Freundin begibt sich in diese Gefahr, als sie den Rückflug antritt.
Und so steht am Ende die USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem die Starken weiterkommen. Zweifellos ist das auch die Hoffnung vieler MigrantInnen. Aber darüber, wie das Leben ohne Papiere und Angehörige in den USA für die fiktive Maria oder die vielen anderen Frauen in ihrer Situation sein wird, schweigt der Film.


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