Chile | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

Warten auf den »trickle down«

Chiles Arme und der Wirtschaftsboom

Zum Jahresanfang 1993 glichen die Finanz-und Wirtschaftsseiten im “Mercurio” zoologischen Abhandlungen: Chile – Tiger oder Jaguar Lateinamerikas? Patricio Aylwins Wirtschafts(wunder)-Minister, Alejandro Foxley, durfte sich geschmeichelt von den KarikaturistInnen als die kämpferisch angreifende Großkatze aus der Esso-Werbung feiern lassen. Der von positiven Wirtschaftsdaten genährte Traum vom “Chile 2000”, der dynamischen Wirtschaftsmacht am australen Ende der Erde, ließ WirtschaftskolumnistInnen und BörsenmaklerInnen in schwärmerische Euphorie (“Tigremania”) geraten. Die Euphorie bei den “Armen” Chiles hält sich indes in Grenzen. Das Fehlen einer Einkommensverteilungspolitik und die dürftige Sozialpolitik der Regierung Aylwin ermöglichte nur eine marginale Teilhabe am “Boom”. Neuerdings wird die Aussicht auf die Fortsetzung des “Booms” und die damit verbundene Hoffnung, daß der Wohlstand doch noch zu den “Armen” durchsickert, getrübt. Der Grund: sinkende Weltmarktpreise für die chilenischen Hauptausfuhrprodukte Kupfer, Fischmehl, Holz sowie Absatzschwierigkeiten beim Obstexport infolge der protektionistischen Politik der Europäischen Gemeinschaft (EG).

Jürgen Schübelin

Die “Tigremania” ging soweit, daß sich Chiles Zentralbankchef, Roberto Zahler in der ersten Januarwoche genötigt sah, dem konzertierten Größenwahn der Chicago- und Harvard-Boys einen Dämpfer aufzusetzen: “Viel eher als Tiger haben wir ChilenInnen hinter uns und vor uns Katzengeschichten, mit einer Kultur, Angewohnheiten und Perspektiven von Katzen – die zudem ein Hang zum Manisch-Depressiven auszeichnet”. Und nach der verheerenden Schlamm- und Geröllawinenkatastrophe vom 3. Mai, die in den Armenvierteln im Südosten von Santiago um die 100 Menschenleben kostete, machte unter den in den Schulen von Peñalolén und La Florida notdürftig einquartierten Überlebenden der Witz die Runde, daß 75 Minuten warmer Regen ausgereicht hätten, um aus dem stolzen Tiger ein ärmliches, nasses und frierendes Kätzchen zu machen…
In der Tat ist es im Vergleich zu den achtziger Jahren deutlich schwieriger geworden, ein kohärentes Urteil über die ökonomische und soziale Entwicklung im Chile der “transición” abzugeben.

Statistik versus Realität der “Armen”

Die StatistikerInnen der Regierung Aylwin haben errechnet, daß zwischen 1990 und 1992 die Zahl der Armen in Chile um 700.000 zurückgegangen sei – und verhindert werden konnte, daß weitere 300.000 Menschen unter die Armutsgrenze rutschen. Gemäß ihren Zahlen ist der Anteil der unterhalb der Armutsgrenze lebenden ChilenInnen von 1990 bis Ende 1992 von 40,1 auf 33,4 Prozent zurückgegangen. Der Anteil der innerhalb dieser Gruppe als “Indigentes” bezeichneten Armen, Menschen also, die nicht in der Lage sind, auch nur das elementarste Grundbedürfnis einer ausreichenden Ernährung zu befriedigen, sank laut Regierungsstatistik von 13,8 auf 10,3 Prozent. Übrig bleiben in absoluten Zahlen, deren Authentizität jedoch umstritten ist, 4,2 Millionen Arme
Die wirtschaftspolitische Strategie der “Harvard Boys” in der Regenbogen-Koalition der Regierung Aylwin bestand darin, das “Chicago-Modell” des Militärstaates weitestgehend unverändert zu übernehmen: niemand rüttelte am Konzept einer liberalen Wachstumspolitik, gestützt auf Rohstoff- und Früchteexporte. Weder die totale Öffnung für den Weltmarkt, noch die teilweise unter mafia-artigen Begleitumständen vollzogenen Privatisierungen in der Torschlußphase des Pinochet-Regimes wurden in Frage gestellt. Aylwin erklärte die Aufnahme Chiles in eine gemeinsame Freihandelszone mit den USA, Kanada und Mexiko zum prioritären Ziel seiner Außenpolitik.
Demgegenüber erwies sich die programmatische Formel vom “crecimiento en equidad”, Wachstum hin zur Chancengleichheit, weitestgehend als rhetorische Hülse. Das zur magischen Ziffer erklärte statistische Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 2800 Dollar spiegelt in keinster Weise die Realität etwa der “pobladores” wider, der Menschen in den Armenvierteln der chilenischen Städte.
Was sich etwa im staatlichen Sozialbereich, in Krankenhäusern, öffentlichen Schulen – oder auch im Wohnungs- und kommunalen Infrastrukturbereich abspielt, ist, so urteilte die Pariser “Le Monde”, “schlicht dramatisch”. Die Grippe-Epidemie der zurückliegenden Juni-Wochen versetzte das staatliche Gesundheitssystem in Katastrophenzustand. Etwa zehn Prozent aller mit akuten Atemproblemen in die “postas”, “consultorios” und “hospitales” eingelieferten Kinder mußten nach teilweise 16stündiger Wartezeit wieder nach Hause geschickt werden, weil es niemanden gab, der sich die kleinen PatientInnen auch nur hätte anschauen können. In der Santiagoer Stadtrandgemeinde Renca sind derzeit von 14 ÄrztInnen-Planstellen neun unbesetzt, weil keine Geldmittel für Gehälter zur Verfügung stehen.
Die Politik der weitestgehenden Zerschlagung des Sozialstaat-Systems während der Jahre des Militärregimes ist von der Regierung Aylwin seit 1990 nur zu geringen Teilen revidiert worden. Obwohl die Regierung der “transición” öffentlich einräumt, daß das System der Marktwirtschaft keine ausreichenden Möglichkeiten für eine gerechte Einkommensverteilung bietet, wird nichts unternommen, um Alternativen auch nur zu diskutieren. Einziger Einkommensverteilungsmechanismus der chilenischen Ökonomie bleibt die klassische Idee des “trickle down”, des Sicker-Effekts, der durch Akkumulation von Reichtum bei den Wohlhabenden – laut Theorie – Mittel- und Unterschichten in den Prozeß des Wirtschaftswachstums und zunehmenden allgemeinen Wohlstands einbeziehen soll.
Daß es den chilenischen Gewerkschaften bei den Verhandlungen mit Regierung und UnternehmerInnenverbänden lediglich gelungen ist, den staatlich festgesetzten Mindestlohn von umgerechnet 152 auf 175 Mark anzuheben, einen Betrag, der einer vierköpfigen Familie auch nicht annähernd eine Mindesternährung von 2000 Kalorien am Tag ermöglicht, verdeutlicht die Unzulänglichkeit des Sicker-Effekts.
Als besonders alarmierend bezeichnet die Nicht-Regierungs-Organisation PET (“Programas de Economía del Trabajo”) im Wirtschaftsbericht 199293 die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unter prekärsten Bedingungen als Hilfskräfte in Industrie und Wirtschaftsbetrieben mitarbeiten, um für ihre Familien das Überleben sichern zu helfen.
Dem Alt-Guru und Sozialisten Carlos Altamirano genügt all das als Argument, um mit Entschiedenheit zu bestreiten, daß die chilenische Gesellschaft einen Modernisierungsprozeß durchlaufen habe. Altamirano: “Chiles Gesellschaft ist weder demokratisch, noch ist sie in der Lage, einen erwähnenswerten industriellen Entwicklungsprozeß hervorzubringen. – geschweige denn ist ein Fortschritt im Bereich von Wissenschaft und Technologie zu registrieren.” Stattdessen, so Altamirano in einem Seminar über Sozialismus und Modernität, “leben wir in einem fortgeschrittenen Zustand der Selbstbeweihräucherung – wenn wir die Augen öffnen würden, wären wir in der Lage, die gigantischen Defizite in Infrastruktur, im Bildungswesen, dem Gesundheitsbereich und der Ökologie wahrzunehmen.”
Eine der Chancen, um das Ruder herumzureißen – etwa die Idee einer progressiven Einkommens-, Gewinn- und Kapitalbesteuerung, die dem Staat tatsächlich die Möglichkeit geben würde, mehr Mittel – etwa für das Gesundheits- und Schulwesen – zur Verfügung zu haben, gehört zu den absoluten Tabu-Themen der chilenischen Politik, etwa genauso verpönt wie der Vorschlag, über die Einführung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung oder gar ein Gesetz zum Thema Ehescheidung nachzudenken. Während die Regierung es in der vergangenen Woche als bahnbrechenden Erfolg feierte, mit der “gemäßigt”-rechten Renovación Nacional (Partei der Nationalen Erneuerung) ausgehandelt zu haben, daß der Mehrwertsteuersatz weiterhin auf 18 Prozent festgeschrieben bleibt – und nicht gesenkt wird, wie ursprünglich vereinbart – ist in Chile an eine Unternehmens- oder Gewinnbesteuerung über die Zehn-Prozent-Marge hinaus nicht zu denken.

Krisenanfällige Exportökonomie

Das entscheidende Strukturproblem bei alldem: Chiles Ökonomie ist und bleibt extrem krisenanfällig. Nicht einmal ein halbes Jahr nach der “Tiger”-Euphorie ist die wirtschaftliche Stimmung umgeschlagen: Sorgenvoll beobachten Wirtschafts- und Finanzministerium den Preisverfall der Hauptausfuhrprodukte Kupfer, Fischmehl und Holz-Schnipsel (“chips” zur Papierherstellung) auf dem Weltmarkt. Die Heldinnen von 1992, noch vor Monaten strahlende ExporteurInnen von Äpfeln, Trauben, Kiwis und Birnen, erscheinen angesichts der Protektionismuspolitik der Europäischen Gemeinschaft – und den wieder nach Valparaíso zurückgeschifften, unverkäuflich gewordenen Obstkisten, als jammernde BittstellerInnen auf den Fernsehbildschirmen, die von der Regierung Subventionen und Steuerhilfen erbitten.
Selbst Aylwin sah sich genötigt, in seiner Regierungserklärung vom 21. Mai auf mögliche Konjunktureinbrüche und heraufziehende Krisenzeiten hinzuweisen – und die Tendenz des gemeinen KonsumentInnenvolkes, sich über die Halskrause hinaus zu verschulden, als “unverantwortlichen Konsumismus” zu kritisieren. Santiagos EinzelhändlerInnen stoßen in dasselbe Horn: Sie warnen dringend davor, sich über Kreditkarten, per Telefon innerhalb von Minuten ausgehandelten VerbraucherInnen-Darlehen von “financieras” und Bank-Schulden in den Abgrund zu manövrieren. Wie schon in den “Wirtschaftswunderjahren” unter Pinochet vor dem großen Bankenzusammenbruch von 1981 wird ein erheblicher Teil des “Booms” von einer Binnennachfrage ausgelöst, die auf ordinärem Pump beruht.

Wachsende Verbitterung – Wachsende Proteste

Die Verbitterung derjenigen, die an all dem weder zu “Boom”- und natürlich erst recht nicht zu Krisenzeiten teilhaben, wächst. Mit spektakulären Hungermärschen, Besetzungen von Rathäusern – oder etwa des Wohnungsbauministeriums am 17. Juni reagieren die “allegados” (Organisation der Wohnungslosen), denen immer wieder Lösungen versprochen werden, die am Ende Makulatur bleiben. Feinsinnig unterscheidet die Regierungsbürokratie zwischen förderungswürdiger und nicht-würdiger Klientel: unter den Opfern etwa der Schlamm- und Geröllawinenkatastrophe in der “Quebrada de Macul”, die am 3. Mai nicht nur Angehörige, Hab und Gut, sondern auch ihre Hütten und Häuser verloren haben, zwischen denjenigen, die “propietarios”, also Eigentümer, waren – und denjenigen, die als “allegados” – Hinzugekommene – auf den kleinen Grundstücken in Bretterhütten mitlebten. Erstere werden in einer aus dem Boden gestampften Notsiedlung in “La Florida” untergebracht – und erhalten die Zusage, daß ihnen ein Haus im Rahmen eines Wohnungsbauprojektes für die Katastrophenopfer zustünde. Die “allegados” dagegen müssen in den zu Notquartieren umfunktionierten Schulräumen und unter Kirchendächern zusammengepfercht weitercampieren, mit der Begründung, sie hätten ja vor dem “aluvión” auch kein eigenes Haus gehabt.


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