Warum wir weitermachen
Lydia Cacho über die traumatische Erfahrung, eine verfolgte Journalistin zu sein, und über den Hang der Medien zu Nervenkitzel statt Empörung
Den ersten Anruf vergisst man nie. Die Person, die die Todesdrohung ausspricht, hat sich tagelang auf diesen Moment vorbereitet, wenn sie einem zu verstehen gibt: Dein Schicksal ist besiegelt. Bis zu diesem Anruf, oder zu dieser Mail, waren Drohungen etwas Ätherisches und Fremdes, das anderen passierte.
Im Laufe der Zeit habe ich etwas gelernt, was viele Journalist_innen und Autor_innen vor mir schon verstanden hatten: Es erschüttert uns und entfremdet uns von denen, die wir lieben, wenn wir mächtige Feinde gegen uns aufbringen, weil wir tiefere Wahrheiten enthüllen. Gegen unseren Willen werden die Drohungen genau so wichtig wie die Geschichte, die wir eigentlich erzählt hatten.
Dieses Dilemma beherrscht den Rest unseres Lebens, denn um sicher zu sein, müssen wir in die Öffentlichkeit gehen und dürfen uns niemals den Mund verbieten lassen. Gleichzeitig müssen wir immerzu aufpassen, uns umdrehen, auf Militärs oder Polizei-Patrouillen achten. Wir müssen sofort reagieren, wenn wir so etwas wie einen Schuss hören, und spannen uns an, wenn ein Motorrad vorbeifährt oder beschleunigt. Immer wieder vergewissern wir uns, ob der Fahrer eine Waffe hat, ob er ein Killer ist. Und immer und immer wieder müssen wir auf allen Kanälen den Namen des Mafioso, des Politikers, des Polizisten, des korrupten Unternehmers hinausschreien, der einen Preis auf unseren Kopf ausgesetzt hat. Bis wir es wirklich satt haben, und alle anderen uns wirklich satt haben. Schließlich sehnen wir uns eigentlich danach, genug Privatsphäre und Anonymität zu haben, um uns unerkannt bewegen zu können. Wir sehnen uns nach den Zeiten, als wir noch nicht die Namen unserer Familienmitglieder verheimlichen mussten. Denn jetzt sind sie ebenso verwundbar wie wir.
Neben der Todesdrohung gibt es noch die Androhung von Haft. Viele meiner Kolleg_innen, vom Irak bis nach Kolumbien, Kambodscha bis Kenia, haben Memoiren herausgebracht, in denen sie ihren posttraumatischen Stress durch die Erfahrungen in der Gefangenschaft beschreiben. Wieder in Freiheit, müssen wir weiter arbeiten und Geld verdienen. Aber nicht mehr nur, um unsere Kinder zu ernähren, Benzin und Wasser oder auch Kinokarten zu bezahlen, sondern um die Anwält_innen zu bezahlen, in deren Händen unsere vorläufige Freiheit liegt. Wir sind wie ein kleiner Fisch auf dem Trockenen. Wir verbringen Jahre in Gerichtssälen, sammeln Beweise und überreden Zeug_innen, dass sie ihr Leben riskieren, um uns zu unterstützen. Oft beschuldigt man uns der Verleumdung, um uns emotional und finanziell auszulaugen. So werden die Gerichte zu einer weiteren Waffe in den Händen der Mafia und der korrupten Politiker_innen.
Daraus können wir lernen. Dadurch, dass mehr Journalist_innen Opfer der Gerichtsbarkeit werden, leiden auch die, deren leidvolle Geschichten wir erzählen. Wir müssen lernen, wie wir Opfer interviewen, ohne sie dazu zu zwingen, das Erlittene erneut zu durchleben. Lasst uns lernen, Mitgefühl zu zeigen für die, die uns dadurch ehren, dass sie uns ihre persönlichen Geschichten anvertrauen. Lasst uns herausfinden, wie wir so fragen können, dass wir die, die schon gelitten haben, nicht noch mehr verletzen. Lasst uns Recherchemethoden entwickeln, die die Opfer der Mafia, der Naturkatastrophen oder der häuslichen Gewalt während der Befragung beschützen.
Das alles müssen wir lernen in einer Welt, in der Mainstream-Medien vom Spektakel der Grausamkeit fasziniert sind, angezogen von der morbiden Pseudo-Pornografie der Gewalt, die keinen Schmerz ohne Blutvergießen kennt. In der fabelhaften Welt der Quoten sind Überlebende, die ihre Würde bewahren, einfach keine gute Nachricht. Die Nachfrage nach Drama ist zu groß: Ein paar Tränen von der mexikanischen Journalistin, die gefoltert und eingesperrt und schließlich vergewaltigt wurde, damit sie endlich still ist, nährt den morbiden Wunsch nach Nervenkitzel, nicht nach Empörung.
Der ugandische Journalist, dem die Hände abgehackt wurden, damit er nie wieder schreibt, soll seine Stümpfe heben, als bettele er um Gnade. Die irakische Journalistin muss den Medien hundertmal erzählen, wie US-amerikanische Soldaten ihre Kinder töteten, um sie zum Schweigen zu bringen, und wie sie die Leichen danach alleine zu Hause gewaschen hat. Diese Medien sagen dem südafrikanischen Dichter, er möge aufhören, seine liebes- und hoffnungsvollen Verse vorzulesen und stattdessen im Geiste lieber in seine dunkle Zelle zurückkehren. Er soll die Narben der Folter zeigen, die er seit zehn Jahren zu vergessen versucht, und erzählen, wie die Unterstützung durch seine Familie immer mehr nachließ und eines Herbstabends niemand mehr zu Besuch kam. Und sie fragen Anna, eine russische Journalistin, zwei Monate vor ihrem Tod: „Hast du keine Angst zu sterben? Was soll aus deinen Kindern werden?“. Da sie ihren Kampf als moralisch und politisch betrachtet, muss sie darauf stoisch antworten, dass unser Leben nie sicher ist, solange andere sich in Gefahr befinden. Später, allein in ihrem Hotelzimmer, weint sie in ihr Kissen. In ihren Träumen bittet sie ihre Kinder um Vergebung und stellt sich eine Welt vor, in der niemand mit seinem Leben bezahlt, weil er oder sie die Wahrheit sagt über schändliche Kriegstaten, die Unfähigkeit der Menschen, Konflikte zu verhandeln, und über die Gier der Mächtigen, die Kriege benutzen, um zu zerstören oder materielle Güter zu erlangen.
Als korrupte Polizisten mich entführt und eingesperrt hatten, dachte ich während der ganzen 20 Stunden, die sie mich folterten: „Wenn es das ist und ich sterbe, so habe ich wenigstens für die Kinder, die ich interviewt habe, das Richtige getan.“
Ich liebe meinen Beruf. Ich glaube, dass er der Gesellschaft nützt, und ich bin stolz darauf. Es ist ein Privileg, dass ich die Ergebnisse meiner Recherchen veröffentlichen und dabei am Leben bleiben kann. Unsere Aufgabe als Journalist_innen ist es, die Leute aus ihrem Wohlbehagen herauszuholen. Es geht dabei nicht um Ruhm oder Quoten, sondern darum, denen eine Stimme zu geben, die sonst keine haben. Jeden Morgen denke ich daran, dass ich Menschen verlässliche, gut recherchierte Informationen zur Verfügung stelle, wenn ich meinen Job ordentlich mache. Und diese Informationen helfen ihnen, in ihrer Umgebung Entscheidungen zu treffen. Das ist eine machtvolle Position. Sie erinnert mich daran, dass ich der Gesellschaft etwas Bedeutungsvolles gebe.
Lydia Cacho möchte folgende Journalist_innen erwähnen, die ebenfalls denen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört werden: Carolin Emke aus Deutschland, Amal Jumah Khamis aus Palästina, Blanche Petrich und Lucía Lagunes aus Mexiko, Natasha Walter aus Großbritannien und den österreichische Fotojournalist Renee Nowtarger.
Dieser Artikel ist eine überarbeitete und aktualisierte Version des Textes „Widerwillige Helden“, der zuerst in der Sonderausgabe von Index on Censorship Beyond Bars: 50 years of PEN´s writers in prison comittee erschien. Der ursprüngliche Text erschien zuerst auf www.englishpen.org und www.indexoncensorship.org. Wir danken für die Rechte zum Nachdruck.
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Vorübergehendes Exil
Trotz jahrelanger Todesdrohungen wollte die mexikanische Journalistin Lydia Cacho nie ihr Land verlassen. Doch die letzten Anrufe waren so ernst, dass sie für eine Weile nach Europa geflohen ist.„Ich bin nicht besonders ängstlich“, sagte die mexikanische Journalistin Lydia Cacho Anfang September dem englischen Guardian. Ihr Mut ist ihre wichtigste Waffe. Seit Ende der 1990er Jahre deckt Cacho als investigative Journalistin die Verbindungen zwischen Politik, Unternehmertum und Organisiertem Verbrechen in Mexiko auf. Seit 2000 betreibt sie zudem das Frauenhaus CIAM im karibischen Cancún. Drohungen und Einschüchterungen, auch physische, begleiten sie seit Beginn ihrer Karriere. Den Mund verbieten lassen hat sie sich nie.
Doch Anfang August entschied sie, Mexiko vorübergehend zu verlassen, weil die Todesdrohungen gegen sie eine neue Dimension angenommen hatten. Am 29. Juli erreichte sie ein Drohanruf auf der satellitengestützten Telefonanlage, über die sie zur Sicherheit seit einigen Jahren kommuniziert. Um über dieses System anrufen zu können, brauche es Technologie, so Cacho, die nur höhere Ränge der Marine haben – oder die Drogenkartelle. Ihre Berater_innen nahmen den Anruf so ernst, dass sie ihr rieten, das Land sofort zu verlassen. So reiste Cacho nach Europa. Da sie kein Problem mit der Marine hat, vermutet sie, dass hinter der Drohung eines der Kartelle aus dem Bundesstaat Quintana Roo an der Karibikküste Mexikos steckt, in dem sie seit 20 Jahren lebt und arbeitet.
Cachos Ziel ist es, die Strukturen der Korruption und Macht aufzudecken, die Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung möglich machen. 2005 erschien ihr Buch Los demonios del Edén (Teufel im Paradies), in dem sie zeigt, wie Unternehmer mit Hilfe von Politikern systematisch Kinder missbrauchen und Pornographie produzieren, die vor allem in die USA verkauft wird. Der Unternehmer Jean Succar Kuri wurde im August 2011 für diese Verbrechen in den USA zu 112 Jahren Gefängnis verurteilt. Seine Verurteilung bestätigt die Richtigkeit von Cachos Recherchen. Dennoch wurde die Journalistin Ende 2005 aus Cancún entführt und in den zentralmexikanischen Bundesstaat Puebla gebracht, wo sie der Unternehmer Kamel Nacif Borge wegen Diffamierung und Verleumdung anklagte. Unterstützung erhielt er von dem damaligen Gouverneur des Bundesstaates, Mario Marín. Cacho hatte in ihrem Buch Verbindungen zwischen dem Textilunternehmer Borge und Succar Kuri nachgewiesen. Cacho wurde quer durch das Land gefahren, misshandelt und eingeschüchtert. Ihre Unterstützer_innen kauften sie aus dem Gefängnis frei, in dem sie, wie ihr angekündigt worden war, „gefoltert und vergewaltigt“ werden sollte“ (siehe LN 380). Cacho wurde freigesprochen. Und blieb mit ihrer Arbeit bei dem Thema: Für das 2010 erschienene Buch Esclavas del poder (Sklavinnen der Macht) recherchierte sie weltweit undercover und zeigte die internationalen Verbindungen des Menschenhandels. Diese Informationen, so denkt sie, haben zu der aktuellen Warnung geführt.
Schon seit 2009 fordert der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die mexikanische Regierung auf, Cacho zu schützen. 2007 bot ihr der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen Asyl und rechtlichen Beistand an. Auch viele europäische Regierungen haben Cacho immer wieder politisches Asyl angeboten. Nur die mexikanische Justiz hat keinerlei Lösungsvorschläge für sie. Die Oberste Staatsanwältin Mexikos, Marisela Morales, riet ihr in Anbetracht der erneuten Drohungen, lieber ins Ausland zu gehen, berichtete Cacho am 20. August der spanischen Tageszeitung El País. „Das beste, was sie uns Journalisten anbieten, ist das Land zu verlassen. Sie haben weder den Willen noch die Mittel, Untersuchungen einzuleiten. Totales Scheitern“, resümierte sie.
Laut Reporter ohne Grenzen wurden seit dem Jahr 2000 in Mexiko 80 Journalist_innen ermordet. 14 weitere gelten als verschollen. Damit ist Mexiko weltweit eines der gefährlichsten Länder für Presseleute. Cacho will dennoch so bald wie möglich zurückkehren, um in Mexiko ihre Arbeit fortzusetzen. Sie will ihr Sicherheits-Netzwerk neu aufbauen und vor allem herausfinden, wer sie bedroht hat, sagte sie dem Guardian. Und dann den Namen öffentlich machen, wie sie es mit so vielen bereits getan hat.
//Dinah Stratenwerth