Bolivien | Nummer 450 - Dezember 2011

Wie antastbar ist unantastbar?

Die Gemeinden des „Indigenen Territoriums und Nationalparks Isiboro Securé“ (TIPNIS) haben sich mit ihren Forderungen durchgesetzt – vorerst

Nach monatelangen Protesten ging die Regierung Morales auf die Forderungen der Indigenen aus dem Tiefland nach dem Schutz des Regenwaldgebiets ein. Doch sind damit nicht alle Probleme vom Tisch. Welche wirtschaftlichen Aktivitäten legal sein sollen und welche nicht, bleibt weiter unklar.

Börries Nehe

Tausende säumten die Straßen, als der Protestmarsch der indigenen Bewegungen Boliviens gegen den Bau einer Überlandstraße durch das „Indigene Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure“ (TIPNIS) am 19. Oktober den Regierungssitz La Paz erreichte. Nach 65 langen Tagen ging auf einmal alles ganz schnell. Etwa eintausend Aktivist_innen von den Tieflandorganisationen „Konföderation der indigenen Völker Boliviens“ (CIDOB) und der „Versammlung des Volkes der Guaraní“ (APG) sowie der Hochlandindigenenorganisation CONAMAQ hatten sich auf den Weg gemacht, um über TIPNIS zu verhandeln. Auf dem Marsch sahen sie sich heftigen Anschuldigungen der Regierung, Drohungen durch Regierungstreue und einer brutalen Repression durch Polizeikräfte ausgesetzt. Doch sie mussten nur zwei Nächte Stellung vor dem Regierungspalast beziehen, dann erklärte Präsident Evo Morales den Bau der Straße durch das TIPNIS für hinfällig.
Wenige Tage später unterzeichnete der Präsident das „Gesetz zum Schutz des TIPNIS“, welches das indigene Territorium zum „unantastbaren“ Schutzgebiet erklärt und jedweden Straßenbau explizit untersagt. Und auch in den Verhandlungen zwischen der Regierung und den Aktivist_innen über die weiteren fünfzehn Punkte des Forderungskatalogs der indigenen Organisationen scheinen alle Beteiligten um eine rasche Einigung bemüht gewesen zu sein: Nach weniger als einer Woche verabschiedeten die Teilnehmer_innen des Marsches sich als strahlende Sieger_innen wieder von La Paz, unterm Arm die Zusagen der Regierung Morales, alle ihre Forderungen zu erfüllen.
Der Konflikt um das TIPNIS, der das Land seit Monaten in Atem gehalten hatte, ist damit erst einmal entschärft – vom Tisch ist das Thema jedoch noch lange nicht. Denn noch während die indigenen Aktivist_innen sich auf dem Heimweg befanden, erklärte ein hoher Vertreter der Regierung, diese hätten dem Land eine „große Lüge“ verkauft: statt „unberührter Wälder“ gäbe es in dem Nationalpark eine „rücksichtslose Ausbeutung von Flora und Fauna“ in Form von Luxustourismus, Handel mit Edelhölzern sowie Aufzucht und Verkauf von Echsen. Die Vizeministerin für Umweltpolitik hat daraufhin eine Überprüfung aller kommerziellen Aktivitäten im TIPNIS angeordnet und bereits verlauten lassen, dass diese im Widerspruch zu dem neuen Gesetz stünden, welches den Nationalpark als „unantastbar“ deklariert.
Vertreter_innen der indigenen Gemeinden des TIPNIS hingegen argumentieren, dass sie seit Jahren über staatliche Autorisierungen für die genannten Aktivitäten verfügen. Statt Luxustourismus gäbe es zwei Hütten für Angler_innen, und die Rodungen fänden im Rahmen eines von den Gemeinden und dem Staat kontrollierten Programms zur Nutzung des Waldes statt.
Der Senator der Bewegung zum Sozialismus (MAS), Isaac Ávalos, und die Gewerkschaftsführerin der Kokabauern, Leonilda Zurita, gingen mit der Auslegung des Gesetzes zum Schutz des TIPNIS noch weiter. Ihrer Meinung nach ist auch das Jagen, Fischen und jede Nutzung der natürlichen Ressourcen durch die indigene Bevölkerung des TIPNIS jetzt gesetzlich verboten. Vorsorglich stellten die sechs Föderationen der Kokabauern Cochabambas den Holz- und Tourismusunternehmen sowie allen Nichtregierungsorganisationen Ende Oktober ein Ultimatum, sofort aus dem TIPNIS abzuziehen. Gleichzeitig haben sie jedoch gemeinsam mit anderen regierungsnahen Kleinbauernorganisationen sowie einigen aus dem südlichen, von Kokabauern und -bäuerinnen besiedelten Teil des TIPNIS stammenden indigenen Gemeinden erste Straßenblockaden errichtet. Dadurch wollen sie die Regierung doch noch zum Bau der Straße quer durch das indigene Territorium bewegen. Zudem kündigten sie für Anfang Dezember eine Großdemonstration in La Paz für die Fortsetzung des Bauprojekts an, zu der anscheinend auch die MAS mobilisieren will. Dabei stoßen sie in Regierungskreisen durchaus auf offene Ohren. So hat der Vizeminister für die Koordinierung mit den soziale Bewegungen schon eine Änderung des Gesetzes in Aussicht gestellt. Und auch Evo Morales ließ durchscheinen, dass die Überlandstraße durch das TIPNIS eventuell doch noch gebaut werden könnte, wenn es dafür ausreichend Druck von unten gäbe.
Die Reaktionen einzelner Regierungsmitglieder und der MAS-nahen Bauerngewerkschaften auf das neue Gesetz sind ganz offensichtlich eine späte Rache für die empfindliche politische Niederlage, welche die indigenen Bewegungen und die mit ihnen solidarischen Organisationen der Regierung Morales beschert haben. Dabei wird auch das grundlegende Unverständnis deutlich, mit dem die regierungsnahen Bewegungen den Tieflandindigenen begegnen: Als einzige Alternative zu der von der Regierung Morales propagierten nationalistischen Fortschrittsideologie bieten sie den indigenen Gemeinden des Tieflandes die Rolle der edlen Hüter_innen der „unberührten Wälder“, die in der Realität selbstverständlich keine Entsprechung findet. Das Recht auf ein eigenes Entwicklungsmodell jedoch enthalten sie den Bewohner_innen des TIPNIS vor.
Allerdings zeigt die derzeit recht hitzig geführte Diskussion um den Sinn und die Reichweite der „Unantastbarkeit“ des TIPNIS auch die Defizite des Ansatzes der indigenen Bewegungen des Tieflandes auf. So hatten diese auf der Verwendung des Begriffs im Gesetzestext bestanden, ohne diesen jedoch genauer zu definieren. Zwar haben sie durchblicken lassen, dass nachhaltiges Wirtschaften und politische Autonomie die Grundpfeiler für die Zukunft des indigenen Territoriums bilden sollen, doch welche Aktivitäten legal sein sollen und wer die Kontrolle über diese ausüben soll, bleibt weitgehend unklar. Nun soll eine aus indigenen Aktivist_innen und Parlamentarier_innen, Repräsentant_innen des TIPNIS und Regierungsvertreter_innen zusammengesetzte Arbeitsgruppe die strittigen Fragen klären.
Ganz gleich, zu welchem Ergebnis die Verhandlungen kommen: klar ist, dass der Kampf um das TIPNIS die sozialen Bewegungen Boliviens entzweit hat wie kaum ein anderes Ereignis zuvor. Mit ihm wurde das definitive Ende des sogenannten „Einheitspaktes“ besiegelt, zu dem sich die fünf großen sozialen Organisationen des Landes zusammengeschlossen hatten, und der das Rückgrat der Regierung von Evo Morales und des „Prozesses des Wandels“ bildete. Zu dem nationalen Kongress des „Einheitspaktes“, der Mitte November in Sucre stattfinden soll, wurden die beiden indigenen Organisationen CIDOB und CONAMAQ, welche an dem Marsch zur Verteidigung des TIPNIS teilgenommen hatten, schon nicht mehr eingeladen – stattdessen wird er einzig von den die Regierung bedingungslos unterstützenden Kleinbauerngewerkschaften bestritten werden. Dabei sollen in Sucre eigentlich die grundlegenden Forderungen der sozialen Bewegungen für den „nationalen Dialog“ erarbeitet werden. Diesen hatte Evo Morales für Dezember dieses Jahres anberaumt. Dort sollen die Ziele und Strategien seiner Regierung neu definiert werden. Gelingt es der Regierung und den ihr verbundenen Organisationen aber nicht, diese gemeinsam mit den indigenen Bewegungen zu formulieren, stehen Bolivien kritische Zeiten bevor.

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