Chile | Colonia Dignidad | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

Wo sie sind, bleibt ungeklärt

Mühsame Aufarbeitung von Mord und Folter in Chile

Im März 1990 trat General Pinochet nach siebzehnjähriger Herrschaft das Amt des Staatspräsidenten an den Christdemokraten Patricio Aylwin ab. Die Amtsübergabe bedeutete keinen Bruch mit der Vergangenheit, sondern war Teil der “transición”, des kontrollierten und schrittweisen Übergangs von der Diktatur zur Demokratie. Die transición begann formal mit dem Plebiszit vom 5. Oktober 1988, bei dem Pinochet sich einem Votum von “Ja” oder “Nein” stellte und verlor. Für diesen Fall sah die Verfassung als nächsten Schritt freie Parlamentswahlen vor. Als Bedingung für die Übergabe des Präsidentenamtes nach diesen freien Wahlen hatten sich die Militärs eine in der Verfassung von 1980 festgelegte Machtreserve vorbehalten.

Lothar Mergelstein

Das Konzept dieser transición hatte die chilenische katholische Kirche noch zu den schlimmsten Zeiten der Repression entworfen. Sie war die einzige Institution, die sich frei äußern konnte, und sie nutzte dieses Privileg, indem sie auf die Menschenrechtsverletzungen hinwies und zugleich einen einvernehmlichen Weg zurück zum Rechtsstaat vorschlug. Als Tausende von DemonstrantInnen während der monatlichen Protesttage ab 1982 “Brot, Arbeit und Gerechtigkeit” forderten, verbreitete die in ihrer Mehrheit christdemokratisch orientierte Kirche “Dialog” und “Versöhnung”. Die Diktatur hatte sich auf einen “repressiven Konsens” in der Bevölkerung stützen können, der aus einem Sich-Fügen in die herrschenden Verhältnisse und der Teilhabe am Konsumangebot der neoliberalen Wirtschaftspolitik bestand. Dieser repressive Konsens wurde durch das Kräftespiel innerhalb der Streitkräfte und Verhandlungen mit zivilen politischen Gruppierungen in einen politischen Konsens der Mehrheit der Bevölkerung transformiert. Auch der ausländische Druck und zwischen Regierung und Kirche ausgehandelte Ereignisse wie der Papstbesuch 1987 spielten dabei eine wichtige Rolle.
Unter Beibehaltung der Wirtschaftspolitik der Militärs sollte deren Macht eingeschränkt und zugleich institutionell abgesichert werden. Die Militärs sollten neun Senatoren des zu wählenden Kongresses benennen können und Pinochet bis 1997 Oberbefehlshaber der Streitkräfte, deren Haushaltsmittel nicht gekürzt werden durften, bleiben. Den Obersten Gerichtshof brachte der General durch Personalentscheidungen auf seinen Kurs.

Viele Opfer, aber keine Täter

So sorgsam die transición angebahnt war, blieb doch eine alte Wunde. Mord und Folter waren nicht konsensfähig. Deshalb machten sich die Protagonisten des Dialogs daran, die Fakten umzudeuten. Die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur wurden zu Verbrechen ohne Urheber, sie erschienen als Ereignisse ohne kausalen Zusammenhang, als das, was Pinochets Geheimdienst DINA mit dem Wort “das Verschwinden” politischer Gefangener hatte suggerieren wollen. Diese Neutralisierung auch noch des härtesten Bruches der geltenden Gesetze und Moralvorstellungen gelang nicht zuletzt deshalb, weil die Mehrheit der ChilenInnen die Fakten nie hatte wahrhaben wollen und viele der Opfer einfach alles vergessen wollten, was sie durchlitten hatten. Eine pauschale Selbstamnestie der Militärs für alle Menschenrechtsverletzungen vor 1978 fügte dem Konstrukt der Taten ohne Täter den juristischen Unterbau hinzu. Damit waren die Menschenrechte verhandlungsfähig und wurden zum ideologischen Schmiermittel der transición.

Eine Menschenrechtskommission ohne Vollmachten…

Kurz nach seiner Amtsübernahme im März 1990 kündigte Aylwin die Bildung einer “Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung” an, die die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur aufarbeiten sollte. Das Wort “Gerechtigkeit” war entgegen dem ursprünglichen Vorschlag nicht in den Titel der Kommission aufgenommen worden. Die Kommission hatte keine juristischen Vollmachten. Im März 1991 stellte Aylwin den Bericht der Kommission (nach dem Vorsitzenden auch als Rettig-Bericht bekannt) der Öffentlichkeit vor. Insgesamt 2.115 Menschen seien während der Dikatur “Opfer von Menschenrechtsverletzungen” geworden, so Aylwin bei seiner Fernsehansprache. Gemeint sind die als “Menschenrechtsverletzungen mit tödlichem Ausgang” beschönigten Morde, soweit die Kommission sie aus der Vielzahl der ihr vorgetragenen Fälle ausgewählt und als bewiesen angesehen hatte. Die mehr als 100.000 Fälle von Folter hatte die Kommission gar nicht erst untersucht. Mit Tränen in den Augen schloß Aylwin damals seine Fernsehansprache: “Laßt uns mit Verständnis und Großherzigkeit das Notwendige tun, damit die Wunden der Vergangenheit geheilt werden und für Chile eine Zukunft in Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden aufgebaut werde.” Mit Sätzen wie diesem kam Aylwin gut an, außer bei den unverbesserlichen PinochetistInnen und bei denjenigen Opfern der Diktatur, die erst einmal die Namen der Täter wissen wollten, bevor sie ihnen überhaupt würden verzeihen können.

… erstellt einen Bericht, ohne die Verantwortlichen zu nennen

Der Bericht war zumindest die erste offizielle Anerkennung seitens einer chilenischen Institution, daß die Pinochetdiktatur gemordet und gefoltert hatte. Aber so gut die Kommission gearbeitet hatte, so kompromißlerisch war das Ergebnis formuliert. Die RedakteurInnen des Berichtes fochten um Worte. Wie etwa sollte der Putsch vom 11. September 1973 genannt werden? Vorgeschlagen wurden “pronunciamento” (das beschönigende Wort der Militärs, dt.”Auflehnung”), “Staatsstreich” und “Regierungssturz”, und schließlich einigte man sich auf das scheinbar unverfängliche “11.September”. Der Bericht enthält keine Namen der Schuldigen, obwohl die Kommission viele davon kannte, er klärt das Schicksal der mehr als tausend in ihm dokumentierten Fälle “verschwundener” politischer Gefangener nicht auf und er nennt die Opfer des Staatsterrors im selben Atemzug mit den paar Dutzend Opfern unter den Sicherheitskräften. Der Regierungskoalition aus ChristdemokratInnen und SozialistInnen kam diese Art der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen gelegen. Der als “nationaler Konsens” bezeichnete wachsweiche Kompromiß der Regierung war einmal mehr legitimiert. Einer Seite war Genugtuung widerfahren, indem die Fakten benannt worden waren, zugleich aber war der Konflikt mit den Streitkräften vermieden worden. Der Bericht enthüllte die Wahrheit, damit sie vergessen werde.

Erst Gerichtsprozesse nennen endlich Namen

Das Kalkül ging allerdings nur teilweise auf. Es gab längst inoffizielle Informationen über die Menschenrechtsverletzungen und ihre Urheber. Die Presse lieferte die vom Kommissionsbericht vorenthaltene Wahrheit scheibchenweise nach. Die Sozialistin Luz Arce, die unter der Folter zerbrochen war und lange als Agentin von DINA und CNI gearbeitet hatte, hatte viele Stunden lang vor der Kommission ausgesagt. Ihre Aussage erschien in der Presse. Obwohl die veröffentlichte Version des Kommissionsberichts keine Namen von Schuldigen nannte, gingen die Kommissionsakten unzensiert an die jeweils zuständigen Gerichte und trugen dazu bei, daß 30 Menschenrechtsprozesse, die die Diktatur nicht endgültig eingestellt hatte, wiedereröffnet wurden. Hinzu kommen 170 weitere Prozesse, die ebenfalls nicht endgültig eingestellt worden waren und in denen neu verhandelt werden kann, wenn neue Beweismittel auftauchen.
Die chilenische Justiz ist dem Pinochetregime bis auf die Knochen hörig gewesen und hat sich seitdem nicht geändert. Aber sie konnte die in den Akten protokollierten Ungeheuerlichkeiten nicht gänzlich ignorieren. Das große Offenlegen war verhindert worden. Aber die Menschenrechtsprozesse, die nach der Diktatur neu verhandelt wurden (siehe die Aufzählung in LN 226), fügten der halben Wahrheit des Kommissionsberichts immer neue Beweisstücke hinzu. Für die Angehörigen der “Verschwundenen” waren diese Prozesse ein Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung. Zum ersten Mal wurden in verbindlichen Zusammenhängen Namen genannt. Täter wurden greifbar. Der berüchtigste Folterer der DINA, Osvaldo Romo, wurde 1992 in Brasilien, wo die DINA ihn versteckt hatte, verhaftet. Macia Alejandra Merino, die unter der Folter zerbrochen war und jahrelang mit DINA und der Nachfolgeorganisation CNI gearbeitet hatte, legte Anfang 1993 ihre Lebensbeichte ab.

Die Entlarvung der Folterer

Hatte der Rettig-Bericht einen für fast alle Parteien und die Militärs akzeptablen Kompromiß gefunden, so prallten jetzt die Kräfte des Pinochetismus und das uneingelöste Wahrheitsversprechen der Demokratie aufeinander. Schauplatz waren diesmal nicht Fernsehstudios und Pressekonferenzen, vielmehr standen sich nun als Zeugen geladene ehemalige politische Gefangene und ihre Folterer vor Gericht gegenüber. Die ehemaligen DINA-Agenten, mittlerweile in den Rang von Generalmajoren aufgerückt, machten sich mit Leibwachen und Militärrechtsanwälten in irgendeinem Büro des Gerichts breit, als seien sie in einer Kaserne. Es gab teilweise 15-stündige Verhandlungen. Zeugen und Beschuldigte, das Gerichtspersonal und die stets präsente Schar von JournalistInnen richteten sich in den Korridoren häuslich ein.
Während der Pinochetdiktatur war die Justiz heruntergewirtschaftet worden und stellte nun die schäbige Bühne für Prozesse von historischer Dimension dar. Es fehlte an allem: Zum Kopieren mußten Originalakten zu irgendeinem nahegelegenen Copy Shop gebracht werden. Wichtige Protokolle wurden von studentischen Hilfskräften aufgenommen. Die Dürftigkeit der Utensilien schmälerte jedoch nicht die Bedeutung des Verhandelten. Worüber hier verhandelt wurde, war real, nicht symbolisch, nicht medial geglättet und durch nichts zu beschönigen. Den Überlebenden ging es um die Genugtuung, die Täter vor Gericht zu sehen, ob als Zeugen oder als Angeklagte, wog weniger stark. Den Angehörigen der “Verschwundenen” ging es um die Wahrheit. Eine gerechte Strafe für hundertfache Folter und hundertfachen Mord gibt es im Rechtsstaat ohnehin nicht. Aber solange Gericht gehalten wurde und schlechtbezahlte GerichtsreporterInnen Tag und Nacht in den Fluren hockten und nach jedem Detail schnappten, solange wurde das Leiden der Opfer nicht verschwiegen. Den Folterern zerbrach ihre Lebenslüge, derzufolge nach einer Zeit des Ausnahmezustandes Normalität eingekehrt sei. Ihre Bilder waren in der Zeitung zu sehen, und sie wurden vor der Öffentlichkeit als Folterer entlarvt, eine Situation, die sie bis dahin sorgsam vermieden hatten.

Gegen die Hauptverantwortlichen wird zuletzt verhandelt

In der chilenischen Öffentlichkeit wirkten die Menschenrechtsprozesse dem schalen Gefühl entgegen, der Rettig-Bericht sei das letzte Wort zum pinochetistischen Staatsterror gewesen. Die meisten Prozesse fanden allerdings nur im engen Kreis des interessierten Publikums Widerhall. Der Prozeß um den in der Colonia Dignidad “verschwundenen” Alfonso Chanfreau aber eskalierte bis zu einem Spruch des Obersten Gerichtshofs und der darauf folgenden Absetzung eines obersten Richters und fand Eingang in die besten Sendezeiten des Fernsehens.
Es liegt in der Logik gerichtlicher Prozeduren, daß die großen Brocken zuletzt abgehandelt werden. Gegen die Chefs der DINA wird erst jetzt verhandelt. Aufhänger ist der Prozeß wegen der Ermordung des früheren chilenischen Außenministers Orlando Letelier im Washingtoner Exil 1976. Auch diesem Prozeß kommt ein politisches Gewicht zu, das über den verhandelten Tatbestand hinausgeht. Die Vorermittlungen waren so komplex, daß von DINA-Chef Manuel Contreras abwärts ein repräsentativer, bisher von Vorladungen verschonter Täterkreis auf der Anklagebank oder im Zeugenstand steht.
Das Säbelrasseln in Santiago am 28. Mai 1993 (siehe den Artikel von Jaime Gré in diesem Heft) war die symbolische Erinnerung daran, was die Militärs in Chile ausrichten können. Der oberste Herreskommandierende nach Pinochet, Santiago Sinclair, verlas das Programm zum wohlinszenierten Truppenaufmarsch in Kampfanzügen mitten in Santiago. Die Machtdemonstration richtete sich gegen die weitere Untersuchung von Scheckbetrügereien durch Pinochets Sohn, gegen das Recht der Zivilregierung, Offiziere in den Ruhestand zu versetzen, gegen die mögliche Freilassung der sechs Pinochetattentäter von 1988 und gegen die aktuellen Menschenrechtsprozesse, in denen sich Militärs verantworten müssen.

Die Angehörigen der Verschwundenen kämpfen weiter für die Wahrheit

Die “verschwundenen” politischen Gefangenen Chiles wurden, wie man heute weiß, ermordet. Wie, wann und durch wen sie ermordet wurden, ist nur in wenigen Fällen geklärt. Solange das so ist, ist die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in Chile nicht abgeschlossen. Im Alltagsbewußtsein wird dieser Prozeß gerne als abgeschlossen betrachtet. Das Schicksal der “Verschwundenen” bricht mit diesem Verständnis. Deshalb verstummt das “Wo sind sie” der Angehörigen nicht und löst immer neue Prozesse und Proteste aus. Selbst wenn die Angehörigen vergessen wollten, könnten sie es nicht, denn Vergessen setzt Trauer voraus, und um zu trauern bedarf es der Gewißheit des Todes. Die Opfer des staatlichen Terrors in Lateinamerika widersprechen aufgrund der Unaufgeklärtheit ihres Schicksals allen Appellen zur Versöhnung. Sie weisen kompromißlos auf die Halbwahrheiten staatlicher Kommissionsberichte hin und erweisen eingestellte Prozesse als faule Kompromisse mit den Tätern, die oftmals heute noch in einflußreichen Positionen sitzen.

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