Bolivien | Nummer 229/230 - Juli/August 1993

“Yankee” Goni wird Präsident

Gonzalo Sánchez de Lozada, der Kanditat der oppositionellen MNR (Nationalistische Revolutionäre Bewegung) ist der unerwartet eindeutige Sieger der Präsidentschafts-und Parlamentswahlen vom 6.Juni. Eigentlich reichen die von ihm erreichten 36 Prozent der Stimmen nicht zur Ernennung zum Präsidenten aus, denn die bolivianische Verfassung schreibt dafür eine absolute Mehrheit der Stimmen vor. Doch weil sein schärfster Konkurrent, der ehemalige Diktator Hugo Banzer von der bisherigen Regierungskoaltion “Acuerdo Patriotico”, zwei Tage nach der Wahl seinen Verzicht auf die Bewerbung für das Präsidentenamt erklärte, ist Sánchez de Lozada, besser bekannt als Goni, die Wahl zum neuen Präsidenten praktisch sicher. Multimillionär Goni hat sich bis heute nicht seinen US-amerikanischen “Yankeeakzent” abgewöhnen können – er wuchs als Sproß eines reichen Minenbesitzers in den USA auf. Völlig offen ist jetzt noch, mit welchen anderen Parteien Goni und seine MNR eine Regierungskoalition eingehen wird, um eine stabile Mehrheit im Parlament zu sichern.

Thomas Oberfrank

Diesmal wird der Erste nicht leerausgehen

In den vierten und nach Aussagen von allen BeobachterInnen fairsten allgemeinen Wahlen nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie 1982 scheint sich eine bolivianische Eigentümlichkeit nicht zu wiederholen. 1985 und 1989 wurden nicht diejenigen Kandidaten Präsident, die die relative Stimmenmehrheit hatten, sondern durch politische Deals der jeweils geschlagenen Parteien wurden die zweit- oder drittplazierten Kanditaten vomm Parlament zu Präsidenten gekürt. So wurde 1985 die Wahl von Hugo Banzer verhindert. Vier Jahre später hatte Sánchez de Lozada das Nachsehen, weil Banzer und seine rechtsgerichtete Partei ADN (Demokratisch Nationalistische Aktion) und die sozialdemokratische MIR (Bewegung der Revolutionären Linken) ein Bündnis schlossen. Nach monatelangem Hin und Her wurde der Kandidat der MIR, Jaime Paz Zamora, zum jetzt noch amtierenden Präsidenten gewählt, obwohl seine Partei nur knapp 20 Prozent erreicht hatte. Die “Ströme von Blut”, die MIR und ADN aufgrund der Verfolgungen während der Diktatur Banzers in den 70er Jahren trennten, waren plötzlich irrelevant. Daß Hugo Banzer ein Bündnis mit der relativ schwachen MIR einging und Paz Zamora zum Präsidenten machte, war mit einem längerfristigen Kalkül verbunden. Einerseits konnte die ADN dadurch wichtige Schlüsselpositionen in der Regierung besetzen und deren Politik entscheidend mitbestimmen, andererseits hatte die MIR als die Partei des Präsidenten die politische Verantwortung zu tragen. Dem Ex-Diktator stand damit der Weg offen, sich auch im Falle politischer Krisen und der Abnutzung der Regierung in den nächsten Wahlen als unverbrauchter Retter zu profilieren.
Dieses Kalkül hat sich mit der Wahl vom 6. Juni als falsch herausgestellt. Obwohl die Meinungsumfragen andeuteten, daß Banzer allmählich zu Sánchez de Lozada aufschließen kann, erreichte das “Patriotische Bündnis” um Banzer, das diesmal neben der verschlissenen MIR noch die Christdemokraten und die sich links gebärdende Revolutionäre Front umfaßte, nur magere 21 Prozent. Damit ist Banzer auch in seinem fünften Versuch, auf legalem, parlamentarischen Wege Präsident zu werden gescheitert – nachdem er nach 7-jähriger Militärdiktatur 1978 von seinem Generalskollegen Juan Pereda aus diesem Amt geputscht worden war. Vielleicht war die Last der Vergangenheit am Ende doch zu schwer. Es wird wahrscheinlich sein letzter Versuch gewesen sein; er hat schon angekündigt sich bei einer Nichtwahl aus der Politik zurückziehen zu wollen.
Goni hingegen fehlen nur fünf Sitze im Parlament, um am 6. August endgültig von den Abgeordneten gewählt zu werden. Unmittelbar nach der Wahl hat er angekündigt, daß er bereit ist, mit allen im Parlament sitzenden Parteien zu verhandeln, um seine Wahl und darüber hinaus eine längerfristig stabile Regierungskoalition zustandezubringen. In Frage kommen vor allem die erfolgreichen populistisch orientierten Parteien. CONDEPA (Vaterlandsbewußtsein) unter Carlos Palenque, einem Besitzer eines Radio-und Fernsehsenders, der vor allem durch an die städtischen Unterschichten gerichtete Sendungen populär wurde, konnte den spektakulären Erfolg der letzten Wahlen wiederholen und gewann 16 Prozent der Stimmen. CONDEPA war vor vier Jahren eher zufällig entstanden, geriet aber schnell zur politischen Bewegung, in der die marginalisierte Bevölkerung indianischer Herkunft ihren Protest gegen die Diskriminierung durch das “weiße” Establishment artikuliert sieht. Mittlerweile ist die Partei schon stärker etabliert und erweitert allmählich die bisher auf La Paz beschränkte regionale Begrenzung.
Die UCS (Bürgerunion und Solidarität) des schwerreichen Brauereibesitzers Max Fernández enttäuschte dagegen und erreichte als vierte nur 13 Prozent der Stimmen. In den Umfragen lag Fernandez lange Zeit an zweiter Stelle hinter Goni. Auch die UCS existiert erst seit 4 Jahren und rekrutiert ihre WählerInnen tendenziell eher aus dem Milieu der indianisch geprägten Mittelschichten. Populär ist Fernandez vor allem durch zahlreiche “Geschenke” an verschiedene Dörfer und Städte in Form von infrastrukturellen Anlagen wie Krankenhäusern, Fußballplätzen und Trinkwasseranlagen, die er aus der Firmenschatulle seines Brauereiunternehmens finanziert.
Die MBL (Bewegung Freies Bolivien), eine Abspaltung der MIR, erreichte als einzig dezidiert linke Partei, die nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist, sieben Parlamentssitze. Im Gegensatz zu den anderen eher orthodox orientierten Linksparteien vertritt sie das Konzept einer sozial orientierten Marktwirtschaft und einer plurikulturellen Nation.

Auf der Suche nach dem sozialen Gesicht des Neoliberalismus

Wie schon 1990/91 bewegte sich im Verlaufe des Jahres die Inflationsrate auf einem niedrigen Niveau bei 10,5 Prozent im Jahr. Das Bruttosozialprodukt stieg um beachtliche 3,7 Prozent. So gesehen scheinen die wirtschaftlichen Daten ein positives, befriedigendes Bild zu geben. Betrachtet man die ökonomische Entwicklung aber differenzierter, löst sich das optimistische Gemälde wirtschaftlicher Stabilität etwas auf. Denn das Wachstum von 3,7 Prozent ist vor allem der enormen Ausweitung des Baugewerbes (+15 Prozent) und des Finanzsektors (+15,6 Prozent) geschuldet, was auf ein vorwiegend auf spekulativen Kapitalanlagen beruhendes Wachstum verweist. Die eigentlich produktiven Sektoren Exportlandwirtschaft, Bergbau und Erdgas schrumpften um ein Prozent. Sinkende Exporte (von 848 Millionen 1991 auf 751 Millionen Dollar 1992) und steigende Importe (plus 42 Millionen Dollar) ergaben 1992 ein Handelsbilanzdefizit von 382 Millionen Dollar.
Wichtiger als die Bewertung der ökonomischen Situation anhand quantitativer Indikatoren ist aber, daß die “Nueva Política Económica” (Neue ökonomische Politik), wie sie von Paz Estenssoro 1985 installiert und von der Regierung von Paz Zamora bis 1993 brav weiterverfolgt wurde, neben relativer Stabilisierung auch die ohnehin krassen sozialen Ungleichheiten weiter verschärfte und die Ressourcen des Landes in immer weniger Händen konzentrierte. Der aktuelle politische Diskurs scheint anzudeuten, daß das Erreichen der “sozialen deadline” heute auch den hegemonialen Block der etablierten Parteien berührt, weil dadurch ein wichtiges Fundament der “Neuen ökonomischen Politik” allmählich untergraben wird: Die politische Stabilität und die formale Demokratie.

Beliebigkeiten der Bündnisse

Diese Beobachtungen korrespondieren auch mit anderen bedeutsamen Veränderungen der politischen Kultur Boliviens. Seit einigen Jahren ist bedingt durch die soziale Krise des Landes das Entstehen neuer sozialer Akteure zu beobachten, die sich ihre eigenen politischen RepräsentantInnen suchen und so einen politischen Erdrutsch der bolivianischen Politik bewirkten. Während die linken Parteien fast völlig von der Bildfläche verschwanden, liefen die marginalisierten Gruppen, wie die städtische Bevölkerung aus dem informellen Sektor (Informales) zu neuen populistischen Parteien über. Die Parteien hängen faktisch von der Popularität ihrer charismatischen Führer ab, sind aber gleichwohl zu Sprachrohren der Armen und Diskriminierten aufstiegen.
Dies gilt für die CONDEPA von Carlos Palenque, in der sich ein guter Teil der armen “Informales” repräsentiert sehen, wie auch für die UCS von Max Fernández, die eher bei den bessergestellten “Informales” aus der Chola-Bourgoisie (indianische Herkunft) ihren Rückhalt hat. Die politische Herausforderung dieser neuen populistischen Parteien zwang auch die traditionellen Parteien zur Annäherung an die neuen sozialen Akteure. Diese Annäherung ist der späten Einsicht der Altparteien geschuldet, daß auch dise sozialen Gruppen potentielle WählerInnen sind, die über die Machtverteilung bei Wahlen mitbestimmen können. Das scheint aber das einzigste Interesse der etablierten Parteien an diesen Menschen zu sein. Die realen Probleme der Informales werden über die rhetorische Phrasen des Wahlkampfs hinaus nur dann Thema der politischen Debatte, wenn sie sich zu sozialen Bewegungen formieren und als unabhängige kollektive, politische Akteure ihre Interessen gegenüber dem politischen Establishment einfordern können.
Eine zweite Tendenz ist die zunehmende Annäherung der traditionellen Parteien MNR, ADN und MIR. Die Politik in Bolivien verliert zunehmend ihre in den Zeiten der Diktaturen so scharfe Links-Rechts-Konturen, alle treffen sich in der mehr oder minder neoliberalen Mitte. Und so entsteht die Möglichkeiten des vorher Undenkbaren. Der neue Zentrismus hat zur Folge, daß jede Koalition und jeder Pakt zwischen politischen Parteien möglich wird. Die Wahl von Paz Zamora von der MIR zum Präsidenten 1989 durch das Bündnis mit seinem vormaligen Todfeind Hugo Banzer (ADN), der ihn und seine Parteigenossen während der Diktatur verfolgt und ins Exil getrieben hatte, war insofern nur eine bestürzende Überraschung über die Normalität von heute.

Ex-Diktator und Ex-Guerillero vereint

Diese Tendenzen wurden auch im zurückliegenden Wahlkampf deutlich. Die Debatten um KandidatInnen, Programme und mögliche Allianzen waren trotz aller pathetisch vorgetragener Kontroversen einer extremen Vereinheitlichung der Themen und Positionen unterworfen. So war es für für das regierende Bündnis der “Patriotischen Übereinkunft” überhaupt kein Problem mit dem Ex-Diktator Banzer und dem knorrigen Ex-Guerillero Oscar Zamora von der Linken Revolutionären Front zusammen als Präsdentschafts- und Vizepräsidentschaftskandidaten aufzutreten. Neben Banzer als Garant des herrschenden ökonomischen Modells trat Oscar Zamora als das personifizierte soziale Gewissen auf, galt der ehemalige Arbeitsminister in der Regierung seines Neffen Paz Zamora doch als “sensibler Vermittler” der mit Massenentlassungen verbundenen Privatisierungspolitik.
Ein ähnlich ungewöhnlich scheinendes Gespann schickte die MNR in den Wahlkampf, die 1952 noch die Revolution angeführt hatte, heute aber schon lange zur rechtsnationalistischen Partei mutiert ist, in den Wahlkampf. Überraschend nominierte er Víctor Hugo Cárdenas zum Vizepräsidenten, einen Intellektuellen indianischer Herkunft und Führer der einer wichtigen Bauernbewegung. Auch diese seltsame Symbiose zwischen Minenbesitzer und Bauernführer ist aus der Notwendigkeit der neoliberal orientierten Parteien zu erklären, sich ein menschlicheres Gesicht zu verpassen und zu versuchen, auch bei der marginalisierten ländlichen und städtischen Bevölkerung eifrig Stimmen zu sammeln.
Die gleiche instrumentelle Beliebigkeit drückt sich auch in den Programmen der größeren Parteien aus. Beide, Goni und Banzer, gaben sich besorgt um den “sozialen Frieden” im Lande und ergingen sich in rosaroter Zahlenmalerei bezüglich der Wachstumsprognosen der nächsten vier Jahre. Während Goni von völlig aus der Luft gegriffenen 8 Prozent Wachstum jährlich, von 287.000 neuen Arbeitsplätzen, 1,4 Milliarden Dollar für das Bildungssystem und 3,077 Milliarden für Investitionen im ländlichen Sektor faselte, sprach Banzer eben von 7 Prozent Wachstum und 356.000 Arbeitsplätzen. Beide unterscheiden sich nur in der Frage, wie das postulierte bolivianische Wunder finanziert werden soll. Während Banzer weiterhin die Privatisierung vorantreiben will und auf Privatinvestitionen in gigantischen Höhen hofft, möchte Goni die Staatsbetriebe mit einer Kapitalsumme der Privatwirtschaft ausstatten lassen, die den Wert der Betriebe um das Dreifache übersteigt, sie aber letzlich unter staatlicher Kontrolle lassen.
All diese völlig überzogenen Verlautbarungen sind nach der Wahl nicht mehr sein, als sie es auch vorher waren: in Luft aufgelöste Sprechblasen und bedrucktes Papier.

Mögliche Koalitionen

Obwohl alle Parteien um ein unabhängiges Image vor der Wahl bemüht waren, saßen alle schon in den Startlöchern, um nach der Stimmabgabe ihre Seele dem Teufel zu verkaufen, Allianzen zu schmieden mit wem auch immer, wenn sie nur das Ziel allen Strebens erbringen: die politische Macht. Die Wahl ist vorbei und der nächste Präsident steht fest. Jetzt wird das große Gemauschel um Interessen, Kalküle, Angebote und Ablehnung ausbrechen, das eine längerfristig stabile Koalition hervorbringen soll. Es gibt zwei möglich Szenarien. Entweder die MNR schließt mit der sich anbiedernden CONDEPA und der pragmatischen Linkspartei MBL ein vergleichsweise heterogenes Bündnis, das die UnternehmerInnen, die internationalen GeldgeberInnen wie auch die BäuerInnen und städtischen Unterschichten gleichermaßen als Klientel abdeckt.
Oder es geschieht das, was auch schon den Kommentatoren des Wahlkampfs ins Auge sprang. Die programmatische Nähe, der vorherrschende Pragmatismus und die relative Sanftheit, mit der sich die politischen Häuptlinge Banzer und Goni behandeln, legen eine Erweiterung der “patriotischen Übereinkunft” nahe, diesmal mit der MNR und Goni an der Spitze. Mit einer Koalition von Banzer und Goni wäre auf jeden Fall das vorrangige Ziel des die nationale Politik nach wie vor dominierenden Blocks der weißen Oberschicht abgesichert: die alternativlose Fortführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Dabei wird es wohl bleiben. Ein zunehmender Verschleiß und die fortgesetzte Erosion des politischen Systems wird die Folge sein. Das die soziale Grenze der Leidensfähigkeit des bolivianischen Volkes nicht unendlich ist, wird die verantwortlichen Politiker auch in Zukunft nur am Rande interessieren. Bis zur nächsten Wahl.

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