Editorial | Nummer 371 - Mai 2005

Kein Recht auf Straffreiheit

Adolfo Scilingo hat es erwischt. Der ehemalige Marineoffizier muss für seine Verbrechen während der argentinischen Diktatur (1976-83) hinter Gitter. Auch wenn der 58-Jährige höchstens 30 seiner 640 Jahre Haftstrafe absitzen muss – er gehört zu den wenigen Militärs, die für ihre Verbrechen bisher überhaupt belangt wurden. Die Weichen dafür, dass sich das künftig ändert, sind gestellt.
Dafür sorgt zum einen das Weltrechtsprinzip, nach dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor jedem Gericht der Welt belangt werden können, und zum anderen der seit 2004 aktive Internationale Strafgerichtshof. Der soll dann eingreifen, wenn Staaten nicht willens oder in der Lage sind, bestimmte schwere Straftaten ernsthaft zu verfolgen. Auch wenn der Internationale Strafgerichtshof nicht rückwirkend tätig werden kann, ist im Prinzip wenigstens in Zukunft der Straflosigkeit ein Ende gesetzt.
Rechtlich ein immenser Fortschritt, bis das Prinzip allerdings zur globalen Realität wird, ist es noch lange hin: Ein US-amerikanischer Militär auf der Anklagebank bleibt vorerst eine Utopie. Doch auch Adolfo Scilingo hat nicht im Traum daran gedacht, in Spanien angeklagt zu werden. Als Kronzeuge wollte er sich der spanischen Justiz zur Verfügung stellen, als er 1997 Madrid besuchte. Untersuchungsrichter Baltasar Garzón jedoch hatte anderes vor. Er steckte Scilingo, der während der Diktatur im Folterzentrum ESMA im Repressionsapparat der Militärs tätig war, in Untersuchungshaft und bereitete den Prozess vor. Dass dieser Wirklichkeit wurde, ist alles andere als selbstverständlich und nicht zuletzt auch dem dauerhaften Druck von argentinischen und europäischen Menschenrechtsorganisationen zu verdanken.
Die Verurteilung Scilingos ist ein Meilenstein im Prozess der Internationalisierung der Justiz. Erstmalig wurde die Anklage nicht nur wegen Verbrechen gegen spanische StaatsbürgerInnen erhoben, sondern – auf der Basis internationaler Rechtsprinzipien – auf Grund des Plans der Militärjunta, alles so genannte „Subversive“ auszumerzen.
Neu ist ebenfalls, dass ein Argentinier in Anwesenheit vor einem ausländischen Gericht für Verbrechen während der Diktatur zur Verantwortung gezogen wurde. Und zum ersten Mal wurde aus dem Weltrechtsprinzip ein konkretes Urteil. Den Kelch, der an Pinochet noch vorüber ging, muss Scilingo nun bis zur Neige leeren. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem langen Weg des Kampfes gegen die Straflosigkeit.
Damit hat die spanische Justiz den Spielraum genützt, den die Nürnberger Staatsanwaltschaft ungenutzt ließ. Letztere hat vor acht Monaten mit einem Paukenschlag der anderen Art alle Strafverfahren gegen argentinische Militärs eingestellt. Die deutsch-jüdischen Fälle mit der formaljuristischen Begründung, dass die Kinder der unter den Nazis zwangsausgebürgerten Deutschen rechtlich keine Deutschen seien. So wird Recht zur Fortschreibung des Nazi-Unrechts – 60 Jahre nach Kriegsende.
Madrid hat gezeigt, dass es anders geht. Die Nürnberger Staatsanwaltschaft sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Noch besser wäre, wenn die argentinische Justiz selbst den Diktaturschergen den Prozess machen würde. Immerhin überprüft der Oberste Gerichtshof in Buenos Aires derzeit die Rechtmäßigkeit der von Kirchner veranlassten Annullierung der Amnestiegesetze, die der innerargentinischen Strafverfolgung unter Alfonsín und Menem ein schnelles Ende setzten. Ein Recht auf Straffreiheit darf es nicht geben.
Der Fall Scilingo weist den Weg: Für vergangene Taten muss das Weltrechtsprinzip über nationale Gerichte umgesetzt werden. Für künftige muss der Internationale Strafgerichtshof freie Hand bekommen. Denn Straffreiheit war lange genug Rechtspraxis für privilegierte StraftäterInnen aus Militär und Politik.

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