Ihre größte Stärke

Bild aus Chile-Nachrichten 50 zum Nachruf von Rudi Dutschke auf Elisabeth Käsemann “Die Genossin Käsemann ist ein (…) besonderes Beispiel internationaler Solidarität”

Die Chile-Nachrichten (ab Oktober 1977: Lateinamerika Nachrichten) entstanden in einer Zeit, in der sich in der Neuen Linken ein nie zuvor dagewesenes Interesse an den politischen Verhältnissen der damals sogenannten „Dritten Welt“ entwickelt hatte. In einer Welt, in der sich die gelebten politischen Alternativen auf liberale Demokratie und autoritären Realsozialismus verengt hatten, versuchten westdeutsche Linke in Solidarität mit dem Tercermundismo (linke, antiimperialistische Bewegung, welche die Zwei-Blockordnung während des Kalten Kriegs infrage stellte) gesellschaftliche Befreiung zu denken. Die Studierendenbewegung der 60er Jahre wurde von der Suche nach einem demokratischen Sozialismus umgetrieben und es war jene Suche, die in vielen die Leidenschaft für die politischen Verhältnisse in der „Dritten Welt“ entfachte.

Es war die Idee eines gemeinsamen Kampfes mit den Ländern der „Dritten Welt“, die Rudi Dutschke 1964 dazu veranlasste, vom „Beginn unserer Kulturrevolution“ zu sprechen, nachdem der kongolesische Separatist*innenführer Moïse Tschombé, durch deutsche Studierende mit Tomaten beworfen wurde. Tschombé war zuvor für den Mord an dem kongolesischen Unabhängigkeitsführer Patrice Émery Lumumba verantwortlich gemacht worden. Ab Februar 1965 begann Dutschke Informationsabende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zum Vietnamkrieg zu veranstalten, ab Mai 1965 protestierte er gegen die damalige Militärinvasion der USA in der Dominikanischen Republik.

Elisabeth Käsemann studierte seit 1966 Soziologie und Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, wo sie SDS-Mitglied wurde und bald zum Freund*innenkreis ihres Kommilitonen Rudi Dutschke gehörte. Ab 1967 beteiligte sie sich an der von Dutschke geleiteten SDS-Projektgruppe „Metropole und Dritte Welt“, die die konkrete Zusammenarbeit mit den Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ zum Ziel hatte. Nach einer einjährigen Reise durch Lateinamerika entschloss sich Käsemann in Argentinien zu bleiben – auf dem Höhepunkt des dreckigen Krieges (guerra sucia) – der tödlichen Repression von Sicherheitskräften gegen vermeintliche Linke.

Die klügsten Köpfe der 68er Jahre verband ein feines Gespür für jeglichen Auswuchs des Autoritären. Es mag diese Sensibilität gewesen sein, sie Rudi Dutschke dazu bewegte, Käsemann in seinem Nachruf (erschienen in Chile-Nachrichten 50, „Ermordetes Leben“) nicht zur Märtyrerin zu stilisieren. Rudi Dutschke und Elisabeth Käsemann, zwei einer Vielzahl westdeutscher Student*innen, erlebten den Kampf der Prager Reform­kommunist*innen im Jahr 1968 aus nächster Nähe. Der Vietnamkrieg verdeutlichte ihnen die Brutalität des Imperialismus der USA, die sich in den vorigen zwei Dekaden zur Weltmacht hochgemausert hatte. So düster der politische Erfahrungshorizont Mitte der 60er war, so entwickelte die Studierendenbewegung doch ein Gefühl für politische Möglichkeitsräume, sei es der erfolgreiche Widerstand der vietnamesischen Guerilla gegen US-Truppen oder der Sieg der Unidad Popular (UP) in Chile. Es war dieses wachsende globale Klassenbewusstsein, das Dutschke trotz des Niedergangs des SDS 1970 verkünden ließ: „Der Kampf um die Befreiung hat gerade erst begonnen.“

Auch die Redaktion der Chile-Nachrichten teilte die von Dutschke beschriebene nachdenkende und solidarische Leidenschaft der Generation, in ihrem Fall für das politische Projekt der UP – dem Linksbündnis, das unter dem Versprechen zur Wahl antrat, Chile in den Sozialismus zu führen. Die Hoffnung auf das politische Überleben eines demokratischen Sozialismus wich ab dem Militärputsch am 11. September 1973 der Solidarität mit den Geflüchteten und den in Chile verbleibenden Linken. In seinem Nachruf auf Käsemann spricht Dutschke auch ihnen Mut zu, als er Kommunist*innen als „Tote auf Urlaub“ bezeichnet. Er, der selbst knapp einen anti-kommunistischen Anschlag in Westberlin 1968 überlebte, an dessen Spätfolgen er 1979 verstarb.

„Die Arbeiterklasse geht nicht ins Exil“

Käsemanns Politisierung über den Vietnam-Krieg, zur Pazifistin, hatte sie ins Herz des lateinamerikanischen Kalten Kriegs geführt. Sie kam zu einer Zeit nach Argentinien, in der das Land der Hotspot der exilierten lateinamerikanischen Linken war. Für sie war es, so beschrieb sie es ihrem Freund Sergio Bufano, der Dreh- und Angelpunkt des politischen Schicksals des Kontinents. Ein Grund, weshalb sie auch nach der Machtübernahme des Militärs und dem gewaltsamen Verschwindenlassen ihrer Genoss*innen nicht das Land verlassen wollte. „Die Arbeiterklasse geht nicht ins Exil“, erklärte sie Bufano als dieser nach Mexiko ausreiste. Kurz zuvor hatten sie und Bufano sich geweigert den Mord an einem argentinischen Folterer und Militär auszuführen, den ihnen eine trotzkistische Untergrundgruppe aufgetragen hatte. Sie hätten sich zwar für den bewaffneten Kampf entschieden, doch mit dem Tod seien sie nicht einverstanden, so Bufano später.

Mit der historischen antiimperialistischen Linken 1990 starb auch das politische Projekt des „Dritten Weges“ zwischen Realsozialismus und liberaler Demokratie. Dass die Redaktion der Lateinamerika Nachrichten im Januar 1990 keine Euphorie verspürt, liegt darin begründet, dass die UP-Regierung einst mehr bedeutete für Teile der westdeutschen Linken (siehe LN 188, Editorial). 1990 ahnte die Redaktion, dass der neoliberale Umbau der Wirtschaft, den die chilenische Militärjunta hinterließ, zur Entwicklungsdoktrin der neuen Welt werden würde. Eben weil die Utopie der 68er eine umfassende, auf die Transformation wirtschaftlicher Abhängigkeiten gerichtete, gewesen war, überlebte die Redaktion die demokratische Wende der lateinamerikanischen Gesellschaften. Und obwohl sie bereits den Sirenengesang des Kapitals zu hören meinen, wirbt die Redaktion 1990 für das Erringen gesellschaftlicher Mehrheiten, auch wenn es zu diesem Zeitpunkt nur noch Ausblick auf eine „gerechtere (…), sozialere (…) und friedlichere (…) Welt“ zu geben schien.

Heute sind die Regierungen einiger lateinamerikanischer Länder die Nachkommen der Guerillakämpfe von damals. Ihre autoritäre Entwicklung hat uns nachdenklicher gestimmt. Dennoch verlieren sich in der Redaktion mehrere Generationen von Linken, die sich noch heute mit dem „Schicksal dieses Kontinents identifizieren“, wie Käsemann 1969 an ihre Eltern schrieb. Sei es, weil Familie und Freund*innen dort leben oder weil die Menschen in dieser Region uns nachhaltig in unserer Politisierung geprägt haben. Wir hoffen, dass das antiautoritäre Gespür der Käsemanns und Dutschkes auch die nächsten Generationen Redaktionsarbeit überdauert. In dem Wissen, dass es nicht ihr Scheitern, sondern die größte Stärke als 68er Bewegung gewesen ist.

JETZTZEIT

Angeregt durch die Filmaufnahmen seiner Mutter, die Salles 40 Jahre nach ihrer privaten Kulturreise nach China entdeckte, montiert er aus fremden, meist privaten Filmaufnahmen eine filmische Analyse der Veränderungsprozesse jener Jahre. Im ersten Kapitel des Films, „Vor den Fabriken“, beschreibt er die Entwicklungen im eher kulturrevolutionären Mai der Studenten in Paris, das Glück dieses Augenblicks, das bis zum Unwillen, zu schlafen, führt, und in sich die Hoffnung auf tatsächliche Veränderungen trägt. Besonders im Fokus ist Daniel Cohn-Bendit in seiner eher widersprüchliche Rolle als Leitfigur, die auf dem Höhepunkt der Ereignisse zu einer bezahlten und gut dokumentierten Reise nach Berlin aufbricht.


Foto: Berlinale

Die Filmrollen aus Prag, die Salles in den Archiven entdeckt hat, tragen nicht einmal die Namen derjenigen, die sie aufgenommen haben, sondern nur Nummern: Angesichts der anrollenden Panzer der Sowjetunion schien bereits die Dokumentation der Ereignisse gefährlich. Noch viel stärker als die Szenen in Paris zeigen die Bilder aus Prag bereits unübersehbar das Ende der Hoffnung auf Veränderung. Die Szenen aus Prag gehen unmittelbar in das zweite Kapitel des Films über („Nach den Fabriken“), das Salles den großen Beerdigungen von Mitgliedern der Bewegungen in jener Zeit widmet: Jan Palach verbrannte sich aus Protest gegen die allmähliche Gewöhnung an das Ende der revolutionären Hoffnungen selbst. Seine Beerdigung wurde Anfang 1969 zum Trauermarsch des Protests, an dem Tausende teilnahmen. Auch die Beerdigungen wenig bekannter Mitglieder der Studentenbewegungen in Paris und in Rio de Janeiro wurden zum politischen Akt mit massenhafter Beteiligung. Leider zeigt „No Intenso Agora“ sonst kaum Szenen aus Brasilien – schade, denn bei 127 Minuten Filmlänge wäre durchaus Platz für eine Auseinandersetzung mit der brasilianischen Studentenbewegung der 1960er Jahre gewesen.

„Jetztzeit“ nennt Walter Benjamin die historischen Phasen, in denen – wie während der französischen Revolution – entscheidende Umbrüche stattfinden. Der von Benjamin formulierte Gegensatz zur Jetztzeit ist die „homogene und leere Zeit“ des „Kontinuums der Geschichte“. Auch wenn Salles den Begriff „Jetztzeit“ weder in Interviews noch im Film erwähnt, scheint der Titel Im Intensiven Jetzt auf die Geschichtsdefinition von Benjamin zu verweisen. Doch Salles´ filmische Reflexion der Phasen des möglichen revolutionären „Tigersprungs“, eingesprochen in einem poetischen Portugiesisch, entdeckt vor allem die Trauer über das Ende der Hoffnung nach der kurzen Phase intensiven Glücks. Auch wenn dies historisch richtig sein mag, in der gegenwärtigen Phase der brasilianischen und internationalen Geschichte hätte man sich einen hoffnungsvolleren Film gewünscht.

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