BEGEHREN NACH CORTÁZARS ART

„‚Sie sind wie die Katzen… wie zankende Katzen.‘ Carlos María dachte an das fürchterliche Geschrei nachts auf den Dächern. Aber er wusste auch, dass Katzen sich unter dem Vollmond nicht zanken.“ Was machen wohl Katzen nachts unter dem Vollmond? Und was ist das für eine Beziehung zwischen Marta und Carlos María, den Katzen in dieser Geschichte? Das fragen sich nicht nur die beiden selbst, sondern auch die Leser*innen. Als Cousin und Cousine wachsen Carlos María und Marta in der Familie Hilaire in Buenos Aires auf. Sie spielen zusammen, sie ziehen sich gegenseitig auf, sie mögen sich, sie hassen sich. So wie das Geschwister eben tun. Doch mit der Zeit verwandelt sich ihr Verhältnis in etwas Anderes. Für die Leser*innen ist die sexuelle Spannung spürbar, für die Hauptpersonen sind die Gefühle des*r jeweiligen Anderen ungewiss. Dann findet Carlos María einen Brief, der alles zu ändern scheint. Und als er seine Eltern damit konfrontiert, stiften sie noch mehr Chaos.


In Die Katzen behandelt Cortázar die Themen des Erwachsenwerdens und des verbotenen Begehrens. Auf fesselnde Weise schildert er die Zerrissenheit zweier junger Menschen zwischen ihren Gefühlen und den Tabus ihrer Umgebung. Deutlich ist auch der Konflikt mit den Eltern, die mit ihrer Geheimnistuerei das Leben der beiden ruinieren.
Form und Stil des Werks erinnern an andere Erzählungen Cortázars wie El Perseguidor (Der Verfolger) und die übrigen in dem Band Las armas secretas (Die geheimen Waffen). Man findet seine lakonischen und ironischen Kommentare wieder, das Ende ist offen. Nach typischer Art des Autors sollen die Leser*innen viele Leerstellen füllen. Was eine mehrfache Lektüre erlaubt, die jedes Mal anders ist.

Die Katzen ist die bisher einzige auf Deutsch erschienene Erzählung unter den 2009 in Cortázars Nachlass überraschend aufgefundenen papeles inesperados. Die Übersetzung ist innerhalb eines Mentoringprojekts der Kunststiftung NRW entstanden, die die Zusammenarbeit einer herangehenden Übersetzerin mit einem erfahreneren Kollegen erlaubt hat. Die Ausgabe ist zweisprachig, man kann den Text also wunderbar im Original genießen und auf die Übersetzung zurückgreifen, wenn verzwickte argentinische Wörter auftauchen. In der Theorie. In der Praxis empfinden das wohl die meisten Menschen mit nicht allzu perfekten Spanischkenntnissen schon nach kurzer Zeit als nervig und lesen einfach auf Deutsch weiter, weil der Text sie in seinen Bann zieht.

Überhaupt endet die Lektüre viel zu schnell, und es bleibt ein kurioses Gefühl der Nostalgie zurück, ein Bedauern, sich dafür nicht mehr Zeit genommen zu haben. Genau dann bietet es sich an, nochmal zurückzublättern und sich auch die Originalversion vorzunehmen.

SIEBEN LEERE SEELEN

Nichts ist sicher, nicht die Vergangenheit oder die Erinnerung, nicht die Gegenwart, erst recht nicht die Zukunft. Und schon gar nicht das eigene Zuhause. Sieben leere Häuser heißt Samanta Schweblins Band mit sieben Erzählungen, doch es geht auf den ersten Blick gar nicht so sehr um die Häuser selber, sondern darum, wie ihre Protagonist*innen die Häuser verlassen, einem unerklärlichen Drang folgend, dem sie sich nicht widersetzen können.

Schweblin, 1978 in Buenos Aires geboren, lebt zurzeit in Berlin. Nach dem Erzählband Die Wahrheit über die Zukunft (2010) und dem Roman Das Gift (2016; s. LN 503) ist Sieben leere Häuser nun ihr drittes Buch in deutscher Übersetzung. Die Erzählstimmen sind die von sechs Frauen unterschiedlichen Alters und eines Mannes. Da ist zum Beispiel die offenbar demente Lola, die auf der Suche nach dem Tod ist und ihn nicht finden kann, weil sie glaubt, von dem Nachbarsjungen terrorisiert zu werden. Da ist der Mann, der sich vor seiner Ex-Frau für seine nackt durch den Garten tanzenden Eltern rechtfertigen muss, und die Frau, die nur mit einem Bademantel bekleidet ihre Wohnung verlässt, um einem Gespräch mit ihrem Partner aus dem Weg zu gehen und schließlich im Wagen des Hausmeisters eine Spazierfahrt durch Buenos Aires beginnt. Und da ist ein achtjähriges Mädchen, das sich an seinem Geburtstag die Aufmerksamkeit der mit dem Notfall der kleinen Schwester beschäftigten Eltern zurückerkämpft, indem es mit einem fremden Mann ausbüxt, um eine Unterhose zu kaufen.

Einige Figuren suchen die Grenzüberschreitung, um sich lebendig fühlen zu können. Andere wiederum klammern sich auf der Suche nach dem Sinn ihres Daseins an irgendeine Art von Ordnung – wie die der Lebensmittel im Kühlschrank oder des perfekten Zuschnitts der Pinien im Garten – oder legen repetitive Verhaltensmuster an den Tag, werfen zum Beispiel regelmäßig die Klamotten des verstorbenen Sohnes in den Nachbargarten oder fahren in reichen Vierteln herum, um sich dort die Häuser anzusehen und wertvolle persönliche Dinge zu stehlen, nur um diese dann im eigenen bescheidenen Garten vergraben zu können.

Manche der Erzählungen eskalieren am Ende, andere lassen uns im Ungewissen. Die Sprache, im Einklang mit der unterschwelligen Spannung, ist auch in der Übersetzung lakonisch, schlicht und geradlinig. Die Gefahr lauert in allen Ecken, doch wir wissen meistens gar nicht, worin sie besteht oder warum sie überhaupt gefährlich ist. Wir wissen nur, dass alle Figuren etwas verloren haben oder etwas zu verlieren glauben, dass sie trotz der Gesellschaft der Familie oder der Partnerschaft, in der sie sich allesamt befinden, schonungsloser Einsamkeit ausgesetzt sind und dieser zu entkommen versuchen, indem sie durch die Straßen ziehen und sich Fremden anvertrauen, ohne jedoch je wirklich etwas preiszugeben. Namenlos die meisten Erzählstimmen, namenlos die Fremden. Er, sie, die Frau, mein Mann, meine Mutter. Schweblin führt uns rücksichtslos in die Hölle der zwischenmenschlichen Beziehungen des 21. Jahrhunderts und lässt nichts als leere Häuser und leere Seelen zurück. Und das auf äußerst virtuose Art und Weise.

EIN GEWISSER BLUES

„Du trägst das Abbild der Nostalgie im Gesicht“ heißt es, als sich zwei Menschen in einem Hauseingang begegnen. Habana Light von Lien Carrazana Lau ist eine von sieben zeitgenössischen Erzählungen aus Kuba, die gerade in der zweisprachigen Ausgabe Unbekanntes Kuba erschienen sind.

Ein gewisser Blues entspringt der Sammlung zweifellos. Mal geht es um ein Havanna, das vom dichten Qualm einer Zigarette verschleiert wird, mal um das Havanna eines Exil-Kubaners, der zurückkehrt, einen „Friedhof vorsintflutlicher Saurier“ vorfindet und eben jenen Schleier der Nostalgie verzweifelt sucht.

Surreales und Realität mischen sich, wobei sich fragen lässt, was von beidem mehr Absurdität beinhaltet. In jeder der Erzählungen taucht Gesellschaftskritik auf, mal mehr, mal weniger subtil, nicht zuletzt jedoch häufig mit einem gewissen Witz. „Als vorbeugende Maßnahme gegen eine starke Reizung meiner Kopfhaut, meiner ach so empfindlichen Epidermis, schlafe ich an den Nationalfeiertagen“ heißt es zum Beispiel bei Lia Villares in Eine halbe Minute westlicher Stille. Oder so werden in Erick J. Motas Erzählung nach und nach ganze Stadtviertel von funktionierenden Zombies bevölkert, die man nur noch als Expert*in des „Zentrums für die Erforschung und Entwicklung der Zombies“ von Normalsterblichen unterscheiden kann.

Aus den Erzählungen sprechen Kummer, Perspektivlosigkeit und politischer Verdruss, aber auch Komik und Erotik. Wenn beispielsweise über mehrere Seiten hinweg der gewaltige Hintern einer Liebhaberin beschrieben wird. Oder die uralte Großmutter den Zombie, der sich als Beamter ausgegeben hat, wortlos mit einem gezielten Schlag ihres berüchtigten Spazierstocks erschlägt, um sich sogleich wieder, ebenso stumm, in den Fernsehsessel fallen zu lassen.

Alle Geschichten handeln von persönlichen und gesellschaftlichen Grenzen, vom Stagnieren eines politischen Systems und dem damit verbundenen Stillstand der Protagonist*innen. „Ein Engel, gefangen in einem Gesellschaftssystem ohne Himmel (Die Justiz ist menschlich, allzu menschlich in Kuba)“. Obgleich sie fiktiv sein mögen, könnten alle Figuren genauso existieren: Der Exil-Kubaner, der auf seinem Rückflug nach New York feststellt, dass er das verhasste Kuba liebt. Die Studentin, die über den Dächern von Havanna eine Stadt im Rauch ihrer Zigarette verschwinden lässt, und deren Freund, der der „Krankheit der Nostalgie“ zum Opfer fällt.

Dtv hat die Ausgabe mit „Texte für Könner“ betitelt, was durchaus zutrifft. Praktisch sind die beigefügten Anmerkungen und Kurzbiographien zu den Autor*innen. Aber nicht nur um Spanischkenntnisse aufzufrischen, sondern vor allem der Poesie wegen ist diese Sammlung zu empfehlen. Ein lesenswertes Nachwort des Übersetzers Enno Petermann rundet den Band ab.

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