“VIELE ALTERNATIVEN ENTSTEHEN MITUNTER GANZ UNSPEKTAKULÄR”

Die Bilder des mit Giftschlamm verseuchten Rio Doce gingen um die Welt. Im November 2015 war der Damm eines Bergwerkdeponiebeckens im brasilianischen Bundesstatt Minas Gerais gebrochen, die Minenfirma Samarco musste sich dafür verantworten (siehe LN 504). In dem neu erschienenen Buch von Ulrich Brand und Markus Wissen ist Brasiliens größte Umweltkatastrophe ein anschauliches Beispiel für die zerstörerischen Bedingungen und Folgen unserer Produktionsweise. „Imperiale Lebensweise“ ist der Titel und zugleich der zentrale Begriff, der der kritischen Analyse der Autoren zugrunde liegt. So ist die sozial-ökologische Katastrophe vom Rio Doce exemplarisch für die verschleierten Kosten unserer Automobilität. Deutschlands Eisenerzimporte stammten 2014 zu 56 Prozent aus Brasilien. Und die deutsche Autoindustrie ist einer der größten industriellen Endverbraucher von metallischen Rohstoffen.

Mitte März berichteten zahlreiche Medien, dass im Jahr 2016 in Deutschland fast 906 Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt wurden. Die Emissionen stiegen damit im Vergleich zum Vorjahr um etwa vier Millionen Tonnen laut dem Umweltbundesamt. Insbesondere der Verkehrssektor emittierte mehr: Die Emissionen liegen in dem Sektor inzwischen zwei Millionen Tonnen über dem Wert von 1990. Dabei möchte Deutschland im Jahr 2020 eigentlich 40 Prozent weniger Kohlendioxid freisetzen als 1990. Dass Industrie und Politik fundamental etwas ändern müssen, ist offensichtlich. Die Grünen-Politikerin Annalena Baerbock fordert einen Masterplan für den Verkehrsbereich: Der Warenverkehr solle von den LKWs auf die Schienen verlagert werden und Elektro-Autos müssten gefördert werden. Reicht das?

Die negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise werden ausgelagert.

Angesichts der multiplen Krisen, die uns weltweit begegnen, finden in unserer Gesellschaft zwangsläufig Veränderungen statt. Im Mainstream gewinnt die Idee einer sozial-ökologischen Transformation an Glanz. Auf den Straßen sollen zum Beispiel, so ja auch Baerbock, Elektro-Autos rollen. Brand und Wissen demaskieren die diesem Transformationsbegriff zugrundeliegende Logik: Mensch und Natur würden weiterhin zerstört und ausgebeutet. Sie sagen, unsere Lebensweise war und ist imperial. Um das deutlich zu machen, legen die Autoren in einem Kapitel den Schwerpunkt auf die „imperiale Automobilität“. Es ist aufschlussreich, was der Geländewagen-Boom in Deutschland über ungleiche Klassen- und Geschlechterverhältnisse aussagt. Aber auch eine „ökologisch modernisierte“ Automobilität mit Elektro-Autos, die an unseren Mobilitätskonzepten nichts ändert, sondern weiter Neukäufe von Privatfahrzeugen fördert, statt viel mehr aufs Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, externalisiert soziale und ökologische Kosten. Solche marktförmigen und technologischen Lösungen stellen nämlich nicht die Frage nach gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und der notwendigen Suffizienz.

Was steckt hinter dem Begriff „imperiale Lebensweise“? Brand und Wissen fragen sich, warum eine emanzipatorische Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse trotz der sich zuspitzenden Krisen und Konflikten so schwerfällt. Stattdessen zeigten rassistische und nationalistische Reaktionen auf Migration besonders drastisch, wie der Wohlstand des globalen Nordens, der auf Kosten anderer erreicht wurde, gegen die Teilhabeansprüche Anderer gewaltsam verteidigt wird. Diese Beständigkeit ausbeuterischer Verhältnisse versuchen die Autoren mit der imperialen Lebensweise zu erklären. Sie soll vor allem die normalerweise verschleierten Grundlagen unserer alltäglichen Handlungen sichtbar machen, das heißt, die externalisierten Kosten unser Produktions-, Distributions- und Konsumnormen. In dem Buch wird dabei vor allem die imperiale Lebensweise der Bevölkerung des globalen Nordens beleuchtet, aber auch die im globalen Süden.
Allerdings sollten Leser*innen aufgrund des Titels keine tiefgehende Auseinandersetzung mit der klassischen Imperialismustheorie erwarten. In der skizzierten Geschichte der imperialen Lebensweise wird der historische Imperialismus ab 1870 benannt. Auf die Theorie beziehen sich Brand und Wissen lediglich, wenn sie erklären, dass der Kapitalismus eines nicht-kapitalistischen Außens bedarf. „Imperial“ beschreibt bei den Autoren vor allem, dass die Grundlagen und negativen Konsequenzen der hegemonialen Lebensweise ausgelagert werden. Deren globaler und ökologischer Dimension wird im Buch besonders Rechnung getragen, die Analyse der aktuellen globalen Verallgemeinerung und Vertiefung der imperialen Lebensweise gelungen mit diversen Daten fundiert. Hierzu werden vor allem die globalen Mittelklassen betrachtet.

Zerstörung und Ausbeutung halten an: Unsere Lebensweise war und ist imperial.

Brand und Wissen zeigen, warum weder eine ausschließliche Fixierung auf strukturelle Ungleichheitsverhältnisse noch einseitige Konsumkritik für eine emanzipatorische Perspektive ausreichen. Zugleich öffnet der Fokus auf die alltäglichen Handlungen – vom Autofahren über das Essen in der Schulkantine bis zur Fürsorge für die Mitmenschen – auch den Blick für Alternativen, die mitunter ebenso ganz unspektakulär im Alltag entstehen. Die Perspektive auf sozialen Widerstand, die sich durch das Buch zieht, ist ein weiterer wertvoller Beitrag zur politischen Debatte.

Dieser Blick für die „kleinen“ Handlungen hat glücklicherweise nicht zur Folge, dass die Autoren die Strukturebene aus dem Blick verlieren. Sie erläutern, wie Transformationen dem Kapitalismus inhärent sind und warum die Logik der Transformation dafür entscheidend ist, ob Veränderungen emanzipatorisch sind. Verschiedene neue Mechanismen der Inwertsetzung und Externalisierung, zum Beispiel in Form der Bioökonomie, werden erklärt (siehe LN-Dossier Nr. 13). Somit wird klar, warum „grüne Ökonomie“ die existierenden Widersprüche herrschaftskonform bearbeitet und ein grün-kapitalistisches Projekt befeuert.
Gegenhegemonie gegen die imperiale Lebensweise bedeute, strukturelle und alltägliche Alternativen zu formulieren. Brand und Wissen appellieren, in den umkämpften gesellschaftlichen (Natur-)Verhältnissen den Konflikt zu suchen und der imperialen eine solidarische Lebensweise entgegenzusetzen. Wiederholt beziehen sie sich auf (gewerkschaftliche) Arbeitskämpfe im globalen Süden und globalen Norden, auf den Widerstand indigener Gruppen oder von Feminist*innen. Somit schließt das Buch auch mit einem Blick auf andere Logiken der sozial-ökologischen Reproduktion und Akteur*innen, die die soziale Frage stellen. Ob „Ende Gelände“ für den sofortigen Kohleausstieg, Suffizienz-Debatten auf Klimacamps oder geschlechtergerechte Reproduktionsarbeit durch die „Care-Revolution“ – das letzte Kapitel inspiriert, das Buch einzupacken und aktiv zu werden.

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