DIE BLUTIGE SPRACHE DES GELDES

Mit Waffen von Sig Sauer 38.000 Kleinwaffen wurden von Sig Sauer nach Kolumbien exportiert (Foto: Mikel Szinetar)

Die Freude im Bündnis Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! ist riesig. Am 1. Juli hat der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe für den Frieden und gegen die Waffen entschieden. Der deutsche Rüstungsfabrikant Sig Sauer muss 11,1 Millionen Euro zahlen – die Summe, die das Unternehmen durch rechtswidrige Exporte in das Konfliktland Kolumbien verdiente. Bereits 2019 verurteilte das Landgericht Kiel drei Manager von Sig Sauer zu Geld- und Bewährungsstrafen. Die Staatsanwaltschaft ordnete zudem die Einziehung des Gewinns an. Dagegen legte die Firma aus dem schleswig-holsteinischen Eckernförde Revision ein. Der Rechtsstreit kam vor den BGH.

Ohne den Einsatz der Friedensaktivist*innen rund um das Bündnis Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel! wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen. Von einem „großen Erfolg“, einem „Meilenstein“ spricht Ralf Willinger, Kinderrechtsexperte der Organisation terre des hommes. Holger Rothbauer, verantwortlicher Rechtsanwalt der Aktion Aufschrei, hebt die historische Tragweite der BGH-Entscheidung hervor: Es sei „die höchste Summe, die je von einem Kleinwaffenhersteller eingezogen worden“ sei.

Doch der Weg zur Gerechtigkeit war ein langer. Vor sieben Jahren stieß das Bündnis den Prozess an. Jürgen Grässlin und Paul Russmann stellten im Juli 2014 Strafanzeige gegen Sig Sauer. Der Verdacht: Illegale Exporte der Pistolen Typ SP 2022 nach Kolumbien. Die Staatsanwaltschaft in Kiel nahm die Ermittlungen auf. Dabei schien die Strategie des Waffenherstellers zunächst aufzugehen: Etwa 47.000 Pistolen gingen in die USA. Das Land wurde in der sogenannten Endverbleibserklärung als Zielland angegeben. Dann wurden von dort aus 38.000 Kleinwaffen gesetzeswidrig ins südamerikanische Kolumbien exportiert. Eindeutig illegal – denn die Genehmigung für den Export lag nur für die USA vor. Ein Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz.

„Jede Pommesbude wird besser kontrolliert als die Empfänger von Rüstungsgütern“

Krisenregionen mit Waffen zu versorgen, von der Misere zu profitieren, das untersagen die Rüstungsrichtlinien der Bundesregierung ohnehin. Denn sobald „die innere Lage des betreffenden Landes dem entgegensteht“, komme eine Ausfuhr nicht in Betracht, heißt es auf Seite vier eines Grundsatzpapiers der Bundesregierung. Konkreter heißt es in einem Beispiel, dass etwa „bei bewaffneten internen Auseinandersetzungen und bei hinreichendem Verdacht des Missbrauchs zu innerer Repression oder zu fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen“ keine Genehmigungen erteilt werden sollen. Die Menschenrechtssituation im Empfängerland spiele hierbei eine zentrale Rolle.

Dass auch bei den anhaltenden Protesten in Kolumbien zurzeit friedliche Demonstrant*innen durch Pistolen aus deutscher Produktion sterben, ist wahrscheinlich. Zweifelsfrei nachweisbar ist es allerdings nicht. „Sig Sauer sah die eskalierende Gewalt in Kolumbien. Dennoch wollten sie möglichst viele Waffen dorthin exportieren. Dem Unternehmen ist offenbar egal, wie die Waffen dort eingesetzt werden“, sagt Ralf Willinger von terre des hommes gegenüber LN. Er kritisiert fehlende Endverbleibskontrollen der Bundesregierung. Bereits durch das regelmäßige Nachfragen, ob sich die gelieferten Waffen noch am Bestimmungsort befänden, wären solche illegalen Exporte nicht möglich, sagt der Kinderrechtsexperte. „Jede Pommesbude wird hierzulande besser kontrolliert als die Empfänger von Rüstungsgütern.“

Besonders relevant ist der Zeitpunkt der Exporte: Sig Sauer schickte die tödliche Ware zwischen 2009 und 2011 nach Kolumbien. Damals hielt der insgesamt mehr als 50 Jahre dauernde bewaffnete Konflikt noch an. Erst 2016, mit dem Eintreten des Friedensabkommens, stabilisierte sich die Sicherheitslage etwas.

Eindeutig illegal – Exportgenehmigung lag nur für die USA vor

Doch in einer 2020 erschienenen Studie von terre des hommes heißt es, dass mehrere Fälle dokumentiert werden konnten, „in denen Sig Sauer-Pistolen bei der Ermordung von Kindern benutzt worden sind und paramilitärische Einheiten diese Waffen bei der Ausbildung von Kindersoldat*innen eingesetzt haben.“

Auch in den Händen der Polizei verursachen die Waffen Elend. Milena Meneses hat ihren Sohn durch die Willkür des Staates verloren. Am Telefon berichtet sie, wie es geschah. Am 1. Mai dieses Jahres habe sich ihr Sohn Santiago Murillo auf dem Heimweg befunden. Die Hände in den Hosentaschen. Ortszeit etwa 20:20 Uhr, in Ibagué in Zentralkolumbien, eingebettet in die Andenregion. Sie sei daheim gewesen, sagt Milena Meneses, dann kam der Anruf ihrer Schwester: Santiago sei im Krankenhaus, sein Zustand gravierend. Sie bricht in Tränen aus: „Mein Sohn wurde getötet, die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun.“ Der Bericht des Krankenhauses, der LN vorliegt, konstatiert als Todesursache ein „Projektil einer Feuerwaffe in der Thorax-Region“. Übersetzt heißt das: Santiago wurde in die Brust geschossen.

Wer ist verantwortlich für den Tod des 19-Jährigen? Warum musste er sterben? Fragen, die sich auch seine Mutter immer wieder stellte. Ihr Bauchgefühl und die ersten Erzählungen von Zeug*innen bestätigen später: Die Polizei schoss auf den Jugendlichen. Dabei stand Santiago Murillo gar nicht in Zusammenhang mit den Protesten, gegen die die Exekutive in Ibagué meist repressiv vorgeht. Das ballistische Gutachten, das der LN ebenfalls vorliegt, beweist: Murillo wurde mit einer Sig Sauer SP2022 erschossen. Dabei war er unschuldig. Er war einfach nur auf dem Weg nach Hause, geriet zwischen die Frontlinien – mit den Händen in den Hosentaschen.

Santiago Murillo ist aktuell Nummer 17 auf der Liste der während der Proteste Getöteten. Die Organisation Indepaz aus der Hauptstadt Bogotá dokumentiert akribisch die Opfer, Täter und Umstände getöteter Demonstrant*innen. 74 Ermordete zählen sie nach aktuellsten Zahlen, fast alle Anfang, Mitte 20. Dazu kommen Hunderte Verschwundene, sexuelle Übergriffe gegen Frauen, widerrechtliche Festnahmen – die Menschenrechtslage ist fatal.

Der Unmut der Bevölkerung entlädt sich aktuell fast täglich auf den Straßen, die Gründe dafür sind vielfältig (siehe LN 563 und 564). Es ist die größte Protestwelle, die Kolumbien je erfahren hat. Bereits im November 2019 zogen Hunderttausende beim paro nacional (Generalstreik) hinaus, um gehört und verstanden zu werden. Die Streikenden kritisieren die Korruption, die ökonomisch schwierige Situation, ausufernde Gewalt gegen Sozial- und Umweltaktivist*innen sowie Indigene, die extreme soziale Ungleichheit, Polizeigewalt und eine unzureichende Umsetzung des Friedensabkommens von 2016. Daran hat und hatte die Regierung von Iván Duque jedoch kein Interesse. Bereits am ersten Tag des Generalstreiks, dem 21. November 2019, schickte sie 170.000 Einsatzkräfte und antwortete mit Gewalt. Dialog? Fehlanzeige. Drei Menschen starben bereits an diesem Tag.

Die willkürliche Gewalt der kolumbianischen Exekutive ermöglicht auch ein enger Verbündeter Deutschlands – die USA. Die Ausstattung von Polizeieinheiten mit dem nötigen Equipment durch die USA kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International scharf. In einer Pressemitteilung fordert sie einen sofortigen Stopp der Ausfuhr von Tränengas, Kleinwaffen, Überwachungstechnologie sowie Munition. Was Kolumbien angeht, so seien die „Waffen aus den USA das größte Problem“, sagt Christine Hoffmann, Sprecherin der Aktion Aufschrei und Generalsekretärin von Pax Christi.

Kein Interesse an Dialog

Für den Waffenhersteller Sig Sauer scheint es jedoch eine gute Gelegenheit für den Verkauf zu sein. Nach der schrittweisen Auflösung des deutschen Standorts Eckernförde verlagerte man die Produktion in die USA. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Sig Sauer damit Exportkontrollen ihrer Rüstungsgüter in der Bundesrepublik entziehen will – zumal ihnen von den Behörden und der Öffentlich viel Aufmerksamkeit zuteilwird. „Genau das ist der Hintergrund, warum sie das gemacht haben“, erklärt Christine Hoffmann gegenüber LN. Der Kampf für Frieden und Gerechtigkeit der Aktivist*innen geht unterdessen weiter. Im April 2020 wurde erneut Strafanzeige gestellt. Es geht wieder um illegale Exporte von Sig Sauer – dieses Mal nach Mexiko, Nicaragua und erneut Kolumbien.

Der SWR konnte durch Recherchen Einsicht in Dokumente des US-Handelsministeriums bekommen. Diese Unterlagen belegen, dass selbst nach dem Urteilsspruch im April 2019 und der Verurteilung dreier Führungskräfte noch 10.000 Pistolen von Sig Sauer nach Kolumbien gelangten. Die Staatsanwaltschaft in Kiel ermittelt nach wie vor.

Genugtuung durch langwierige Gerichtsprozesse gibt Menschen wie Milena Meneses ihren Sohn nicht zurück, der durch die Brutalität eines autoritären Systems gestorben ist. Doch es ist ein Schritt in die richtige Richtung, ein „Signal an die gesamte Rüstungsindustrie“, so Ralf Willinger von terre des hommes. Der entgangene Gewinn durch den gesetzeswidrigen Export von Kleinwaffen werde das Unternehmen empfindlich treffen, ist sich Christine Hoffmann sicher: „Die Sprache des Geldes ist die Sprache, die die Rüstungsindustrie versteht.“ Sollten die aktuellen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft die Sig Sauer-Bosse allerdings eindeutig belasten, wird es nicht mehr bei Geld- und Bewährungsstrafen bleiben.

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