Die Liebe in den Zeiten der Revolution
Eine kubanische Geschichte mit autobiographischen Zügen
Douglas Rudd hat sich um die Revolution verdient gemacht. Der in Havanna aufgewachsene Sohn englischer Eltern beteiligt sich schon als Jugendlicher an militanten Aktionen gegen das Batista-Regime. Für seinen Einsatz als Luftwaffenoffizier während der US-Aggression in der Schweinebucht wird er als „Nationaler Held“ ausgezeichnet. Und er setzt sich wie sein Vorbild, der Comandante Che Guevara, aktiv für den Export der Revolution ein. Der Vietcong ehrt ihn für seine Dienste als Militärberater während des Vietnamkrieges mit dem Ho-Chi-Minh-Orden.
Douglas Rudd ist der Autor des Romans „Unsere Zeit zu leben“. Doch er schreibt unter dem Pseudonym Jorge C. Oliva Espinosa, weil er seiner kubanischen Heimat im Jahre 1991 den Rücken gekehrt hat und mit der Veröffentlichung seinen zurückgebliebenen Sohn nicht unnötig gefährden möchte. Ausgerechnet in die USA ist er ausgereist, in die „Gedärme der Bestie“, wie Kubas Idol José Martí das Landesinnere des übermächtigen und verhaßten Nachbarn nannte. Zuvor war Rudd in Kuba wegen oppositioneller Äußerungen in Schwierigkeiten geraten, aus der Luftwaffe entlassen und inhaftiert worden. Im Exil bleibt ihm nicht viel Zeit, er stirbt 1992 in Miami. Die deutsche Übersetzung des Romans ist schon in Druck, als die Ausreise seines Sohnes nach Buenos Aires bekannt wird. So kann der Aufbau-Verlag in einer Nachbemerkung den Schleier um die wahre Identität des Autors lüften.
Der Held seines in der Ich-Form geschriebenen Romans heißt Joaquín Ortega. Auch er gehört als junger Mann seit dem Staatsstreich Batistas dem Widerstand gegen den Diktator an. Sein Traum ist es, direkt unter dem Kommando eines Fidel Castro oder Ernesto Guevara in der Sierra Maestra zu kämpfen, doch er macht sich vergeblich auf den Weg dorthin. Und auch in der Schweinebucht ist er dabei. Er meldet sich freiwillig bei den Revolutionären Streitkräften, um die Invasoren an Kubas Südküste zu bekämpfen.
Doch Ortegas Werdegang ist ebensowenig geradlinig wie der seines Schöpfers. Der begeisterte Revolutionär gerät in den siebziger und achtziger Jahren als Universitätsdozent immer mehr in die Mühlen der Parteibürokratie. Im vierten Jahrzehnt der Revolution, mit Beginn des período especial in Kuba, der bitteren Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ist er ein Mann, der seine Illusionen verloren hat. Er zieht sich in sein Privatleben und seine Arbeit zurück.
Die jungen Revolutionäre
Ortega ist der Repräsentant einer Generation, die im Widerstand gegen Batista erwachsen wurde. Deren Werdegang nur auf dem Hintergrund der kubanischen Geschichte zu verstehen ist. Deren Idole jene Männer und Frauen um Fidel Castro waren, die 1953 zum Sturm auf die Moncada-Kaserne ansetzten, 1956 mit der Granma an der kubanischen Küste landeten und den Guerillakampf in den Bergen begannen. Deren Wege aber nach dem siegreichen Einzug der Revolutionäre in Havanna auseinandergehen.
Die persönliche Entwicklung der Jugendfreunde Joaquíns macht das deutlich. Ihre Geister scheiden sich schon am Prozeß gegen den ehemaligen Revolutionskommandanten Huber Matos im Dezember 1959. Da ist Joaquíns bester Freund Juan, der frühzeitig ins Ausland fliehen muß, um den Schergen Batistas zu entgehen, der aber nach der Revolution nicht wieder zurückkommt und mit Joaqu¡n in Briefkontakt bleibt. Da ist Carlos, der in der Sierra Maestra kämpft, aber schon früh nach Miami emigriert, da er glaubt, die Kommunisten gewännen zuviel Einfluß auf der Insel. Und da sind Vicentico und „el Chino“, die sich auch später noch für die Ideale der Revolution einsetzen. Der eine fällt bei dem Versuch, dem Beispiel des Che zu folgen und für die Befreiung ganz Lateinamerikas zu kämpfen, an der Küste Venezuelas. Der andere steigt in der Parteihierarchie auf und macht Karriere. Joaquín selbst reift zunächst zum Kommunisten und sieht sich später als Linksabweichler.
Der geschlossene Kreis der Zeit
Der Zeitrahmen des Romans reicht über vierzig Jahre. Vom Staatsstreich Fulgencio Batistas bis zur Dollarisierung der Wirtschaft im Jahre 1992. Die Zeit ist für Rudd ein geschlossener Kreis, in dem wir zeitlebens gefangen sind. Dabei ist es gleichgültig, ob wir in der Zeit vorangehen, indem wir sie leben, oder ob wir in ihr zurücklaufen, indem wir uns erinnern. Wir kehren immer an denselben Punkt zurück. Ursachen und Wirkungen tauschen ihre Zeitfolge. Die Auswirkungen werden zuerst erlebt, die Ursachen aber erst später erkannt. Aus dieser Einsicht heraus durchbricht Rudd in Joaquín Ortegas Zeit zu leben die chronologische Reihenfolge. Doch er bleibt dabei systematisch. Denn im ersten Kapitel ordnet er die Zeit bis zum Einzug der Rebellen in die Sierra Maestra nach Wochentagen. Die Abfolge geht durcheinander, aber der Zeitkreis schließt sich. Das Kapitel endet da, wo es beginnt: an einem Freitag, der dem Samstag vorangeht, an dem alles anfängt.
Das zweite Kapitel ist nach Monaten geordnet, vom Dezember bis zum Januar. Die Jahre springen zwischen 1952 und 1992 hin und her. Aber nicht beliebig, es gibt immer einen Zusammenhang, eine Verbindung.
Da findet beispielsweise im März 1968 in der Universität von Havanna eine Gedenkfeier für den von Batistas Schergen ermordeten Studentenführer José Antonio statt. Ein Vertreter der Studentenschaft liest aus dem Vermächtnis des Märtyrers vor. Danach schreitet der Máximo lider höchstpersönlich ans Mikrofon. Er greift seinen Vorredner heftig an, weil dieser eine Stelle aus dem Vermächtnis ausgelassen hat, wo José Antonio von Gott spricht und seinen Glauben bekundet. Ob jemand gläubig sei oder nicht, so Fidel, das tue seiner Größe keinen Abbruch.
Danach werden die Leser in den März 1977 versetzt. Ortega ist Hochschuldozent. Einer seiner besten Studenten hat seit seiner Immatrikulation auf allen Formularen unter der Rubrik Religionszugehörigkeit eingetragen, daß er nicht gläubig sei. Doch nun, so berichtet er seinem Professor betrübt, hätte er aus Gewissensgründen erstmals seine Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft zugegeben, und schon drohe ihm der Ausschluß von der Hochschule.
Der Roman ist packend geschrieben. Rudds gebrochene Chronologie tut der Spannung keinen Abbruch. Die verlorenen Handlungsfäden werden nach kurzen Zwischensprüngen schnell wieder aufgenommen. Das Portrait des Joaquín Ortega, der von seinen Jugendfreunden ob seines Draufgängertums und seiner Spontaneität auch „der Wahnsinnige“ genannt wird, ist facettenreich gezeichnet. Die vermeintlichen Brüche in seinem Werdegang werden durch die vielen Rückblicke und Vorausgriffe gekittet. Dadurch wird deutlich, wie sehr Ortega ein Produkt seiner Zeit ist.
Doch er ist in den achtziger Jahren noch derselbe „Wahnsinnige“ wie in seiner Jugendzeit. Die Wut auf das verhaßte Batista-Regime und sein Gerechtigkeitsempfinden treiben ihn bei den ersten konspirativen Aktionen an. Er agiert als junger Haudrauf, hat schnell die Waffe zur Hand und bringt seine Genossen durch unbedachte Handlungen unnötig in Gefahr. Der ältere Ortega reagiert immer noch spontan und direkt. Als er beispielsweise 1966 von einer Kommission vorgeladen wird, die über seine Aufnahme in die Partei zu entscheiden hat, kritisiert er deren Fragen und beantwortet nur solche, die er für akzeptabel hält. Natürlich wird er nicht aufgenommen.
Nach dem gleichen Muster verläuft ein Gespräch im Jahre 1987, bei dem es um die Frage geht, ob ihm ein Revolutionsorden für heldenhaftes Agieren im Widerstand gegen Batista zusteht. Ihn stört es, daß sich auch Lügner und Geschichtenerzähler diesen Orden erschleichen, und so legt er sich wieder mit der zuständigen Kommission an. Das Resultat: ihm geht zusätzlich die höhere Rente durch die Lappen, die mit der Verleihung des Ordens verbunden gewesen wäre.
Probleme sterben, wo Kommunisten geboren werden
Wer sich für die Widersprüche der kubanischen Revolution interessiert, wer nicht mit Che Guevara glaubt, daß dort, wo Kommunisten geboren werden, die Probleme sterben, dem sei dieser Roman ans Herz gelegt. Doch selbstverständlich geht es darin nicht nur um bewaffneten Kampf und Politik. An jenem Samstag im Jahre 1953, an dem die Handlung des Romans einsetzt, ist Joaquín bis über beide Ohren verliebt. Das Mädchen seiner Träume heißt Irene. Doch sie verläßt ihn nach einem Jahr. Joaquín trauert ihr sein ganzes Leben lang nach. Obwohl er zweimal heiratet.
Der Roman endet damit, daß Joaquín Irene noch einmal aufsucht, im Januar des Jahres 1992. Seine anschließende Erkenntnis: „Ich habe mein Leben damit verbracht, auf etwas zu warten, das einmal war und nicht mehr ist. Ich habe mich geweigert, zu sehen, was sich um mich herum veränderte, ich stand mit dem Rücken zur Gegenwart, den Blick auf die Vergangenheit gerichtet, die in der quälenden Erinnerung so unveränderlich schien.“
Es ist eben nicht die Geschichte von Fermina Daza und Florentino Ariza, die in einem berühmten Roman von Gabriel García Márquez erst in hohem Alter ihr gemeinsames Glück finden – eine Parallele, die der Autor selbst aufgreift. Hier geht es um die Liebe in den Zeiten der Revolution. Oder – aus der Sicht des Joaquín Ortega – um die Revolution in den Zeiten der Liebe.