Brasilien | Nummer 585 - März 2023 | Politik

„DIE NATION VOR SICH SELBST RETTEN“

Die Rolle des brasilianischen Militärs als politischer Akteur begann lange vor der Regierung Bolsonaro

Ende Februar fällte Alexandre de Moraes, Richter des Obersten Gerichtshofes (STF), eine Entscheidung, die für das zukünftige Verhältnis zwischen Militärs und Zivilen in Brasilien wegweisend sein könnte: Diejenigen Militärangehörigen, die tatenlos zusahen, als die Gebäude aller demokratischen Institutionen am 8. Januar von Bolsonaro-Anhänger*innen verwüstet wurden, müssen sich vor dem STF für „Attentate gegen die Demokratie“ verantworten und nicht vor Militärgerichten. Nach den Angriffen hat eine öffentliche Debatte über die gesellschaftliche Rolle der Militär als „Vormundes der Republik“ mit neuer Schärfe begonnen. Der Historiker Pedro Teixeirense, der zu Narrativen der Militärdiktatur forscht, analysiert die Politisierung der Streitkräfte seit 2014 und deren historische Wurzeln.

Von Pedro Teixeirense (Übersetzung: Claudia Fix)

Attentat auf die Demokratie am 8. Januar Militärs müssen sich vor dem Obersten Gericht verantworten (Foto: Joedson Alves, Agência Brasil)

In der Nacht des 30. Oktober 2022 kündigte das Oberste Wahlgericht (TSE) an, dass Luiz Inácio „Lula“ da Silva der nächste Präsident der Republik sein würde. Brasilien tauchte in einen Zustand vorsichtiger Euphorie ein. Zum ersten Mal, seitdem Brasilien die tragische Periode der Militärdiktatur überwunden hat, ging der Wahlprozess ohne die Sicherheit zu Ende, dass der Wille des Volkes respektiert werden würde. Die Euphorie, die sich angesichts der Wahlniederlage des autoritären Projektes der extremen Rechte einstellte, musste noch ein wenig warten. Zurückhaltung war das Gebot der Stunde. Hunderttausende Menschen gingen auf die Straßen der größten Städte des Landes, um die Ankündigung des Sieges der Arbeiterpartei (PT) zu feiern. Dabei schwebte der Verdacht in der Luft, dass die an den Urnen zum Ausdruck gekommene Souveränität des Volkes noch nachträglich bestätigt werden müsse.

Zwischen der Nacht des 30. Oktober und dem ersten Tag des Jahres 2023 – das Datum der Amtseinführung von Lula – befand sich das Land in einer dauerhaften Anspannung. Während die internationale Anerkennung des Sieges von Lula aus allen Winkeln des Planeten eintraf, erzeugten das Schweigen von Jair Bolsonaro und dubiose Signale von wichtigen Sektoren des Landes Zweifel über das Schicksal der jungen Demokratie. Die letzten zwei Monate der Regierung von Jair Bolsonaro besaßen dasselbe Markenzeichen wie die vier Jahre, in denen der ehemalige Hauptmann des Heeres an der Spitze des brasilianischen Staates stand: Es waren Monate der Koordination illegaler politischer Maßnahmen mit der Absicht, die konstitutionelle Ordnung zu unterminieren und so den fragilen Prozess der Weiterentwicklung der brasilianischen Demokratie umzukehren.

Es ist ein gefährlicher Mythos, dass die brasilianische Demokratie sich konsolidiert habe

Während der zwei Monate zwischen der Wahlniederlage des Bolsonarismus und dem Anfang des dritten Mandats von Lula als Präsident der Republik wurde die extreme Rechte des Landes in einem verborgenen Kampf besiegt. Ausdruck dessen ist vor allem die Flucht des ehemaligen Präsidenten in die USA. In anderen Worten: Der Bolsonarismus und die Koalition von reaktionären Kräften um ihn herum waren unfähig, für das faschistisch geprägte Projekt der Reorganisierung des brasilianischen Staates diejenigen politischen Akteure zu vereinen, die den Versuch eines Staatsstreiches hätten unterstützen können. Die Amtsübernahme von Lula am 1. Januar 2023 war, trotz des Bruchs mit bestimmten Traditionen des demokratischen Wechsels, dann vor allem eine Befreiung der zurückgehaltenen Euphorie.

Gleichzeitig nährte diese Feier des historischen Sieges von Lula einen gefährlichen Mythos, den Intellektuelle, Journalist*innen und Politiker*innen seit vielen Jahrzehnten propagieren: Die Idee, dass die brasilianische Demokratie sich konsolidiert habe. Die Beständigkeit dieser Idee in der brasilianischen Vorstellungswelt hat unterschiedliche historische Gründe. In gewissem Maße drückt sie das falsche Verständnis des demokratischen Systems als Synonym für die repräsentative Demokratie aus. Im Zentrum dieser tropischen Mythologie liegt der Trugschluss, dass die brasilianischen Militärs sich der Vorherrschaft der zivilen Macht bewusst wären und ihre gesetzlich geregelten Aktivitäten ausüben würden, ohne tatsächlich am nationalen politischen Leben teilzunehmen.

Seit der im Jahr 2014 aufgekommenen Krise – und verschärft durch den parlamentarischen Putsch, der die Präsidentin Dilma Rousseff (PT) aus ihrem Amt entfernte – werden die Streitkräfte als politischer Akteur unsichtbar gemacht. Damit sollen gerade die Prozesse den Anschein von Legitimität erhalten, die jetzt in der aktuellen neofaschistischen Welle gipfelten. Die Spitze der Streitkräfte sorgte im Hintergrund für die illegale Amtsenthebung von Dilma Rousseff im Jahr 2016. Seit diesem Moment waren die Militärs offensichtlich Protagonisten der Aktionen, die zu der juristischen Verfolgung der Arbeiterpartei führten und in der politischen Gefangenschaft von Lula gipfelten. Außerdem spielten die Militärs bei der Demontierung der nationalen Arbeitsgesetzgebung und der Schwächung der Initiativen der regionalen Integration in Südamerika, bei einer gleichzeitigen Ausrichtung auf die nordamerikanische Außenpolitik, eine wichtige Rolle. Ebenso sorgten sie dafür, dass wichtigen Ressourcen aus der Ölindustrie und dem nationalen Technologiesektor privatisiert wurden. In letzter Instanz ermöglichten die Militärs die Wahl eines Repräsentanten der extremen Rechten, der die neoliberalen Rezepte der letzten Jahre einführte.

Tatsächlich ist dies seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985 das erste Mal, dass die Streitkräfte, insbesondere das Heer, eine entscheidende Rolle in der nationalen Politik übernahm. Seit der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro wurde die von den brasilianischen Militärs ausgeübte Rolle im Staat zu einer existentiellen Bedrohung für die konstitutionellen Ordnung von 1988. Selbst wenn der militärische Protagonismus nicht offensichtlich war, war das Handeln der Streitkräfte doch von einer Form des staatlichen Opportunismus geprägt: Die Militärs erhielten privilegierte Sitze in der öffentlichen Verwaltung, weigerten sich aber, Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen. Sie profitieren von unzähligen Privilegien und erreichen es durch Drohungen, die normalen Verpflichtungen staatlicher Vertreter*innen in einer demokratischen Gesellschaft zu vermeiden.

Die Militärs ermöglichten die Wahl eines Repräsentanten der extremen Rechten

Um die Sache noch schlimmer zu machen, erreichte während der Regierung Bolsonaro die eigentümliche „politischen Aktivität“ des Militärs alle Bereiche der staatlichen Verwaltung, indem sie mit dem Einsatz von Waffen drohten. Das Verhalten der Elite der Streitkräfte drückt ein bestimmtes Verständnis der brasilianischen Gesellschaft aus, das in einem militärischen Umfeld erzeugt wird, das auf Korporatismus beruht. Ihrem Verständnis nach verkörpern die Militärs die eigentliche Essenz des Vaterlandes. Das führte zu der Vorstellung, dass die Militärs besser als die Zivilen darauf vorbereitet seien, staatliche Maßnahmen durchzuführen. Das schuf im vergangenen Jahrhundert eine brasilianische Version der „offenkundigen Bestimmung“ (destino manifesto), nach der es die Rolle der Streitkräfte sei, „die Nation vor sich selbst zu retten“.

Auch wenn wir die ideologischen Elemente beschreiben, die das Verhalten der brasilianischen Militärs kennzeichnen ­– wie die Bekämpfung identitätspolitischer Ziele, die Vorstellung, dass es Aufgabe der Eliten sei, die nationale Politik zu leiten, und der Antikommunismus – so dürfen wir nicht vergessen, dass das Handeln der Militärspitze auch ein Ausdruck ihres politischen Opportunismus ist, um persönliche Vorteile zu erhalten. In den vergangenen Jahren agierten die Streitkräfte als eine Art „Militärpartei“, was ihnen erlaubte, Klassenprivilegien durch die Verwaltungs- und Rentenreformen zu erlangen. Die massive Besetzung von öffentlichen Ämtern durch Militärs während der Regierung Bolsonaro sicherten ihnen materielle und symbolische Begünstigungen.

All diese Initiativen erlaubten es den Streitkräften, die Rolle eines Vormundes für die Institutionen der Republik einzunehmen. Auf diese Weise fungiert die militärische Macht als potentielle Kraft, die immer dann politische Interventionen oder institutionelle Brüche durchführt, wenn Maßnahmen umgesetzt werden, die den Interessen der militärischen Führung zuwiderlaufen. Insbesondere dann, wenn basisnahe Regierungen demokratische Prozesse ausweiten wollten. Im Laufe der vergangenen vier Jahre drückte sich dies in der Bildung einer Art hybrider Regierung aus: Über eine militarisierte Regierung führten Militärs die zivilen Geschäfte des brasilianischen Staates durch. Jair Bolsonaro bot als Wahlmöglichkeit den Aufstieg der „Militärpartei“ in die Exekutive.

Mittels einer rückwärtsgewandten Allianz von Militärs, großen Unternehmen des Agrarsektors, religiösen Anführern der Pfingstkirchen und Segmenten des Finanzsektors wurde das Land einem graduellen Prozess der Militarisierung des Staates und der Gesellschaft unterworfen. Ein besonders deutlicher Ausdruck dieses Prozesses findet sich in der Regierungspolitik, die die Bewaffnung und die Entwicklung von privaten und staatlichen Sicherheitskräften fördert. Es wird geschätzt, dass sich die Anzahl der Waffen, die im Land zirkulieren, zwischen 2017 und 2021 von 600.000 auf 1,2 Millionen Waffen mehr als verdoppelt hat.

Ein weiterer Ausdruck dieses Prozesses ist die Verbreitung von Werten, Haltungen und Eigenschaften der militärischen Identität. Darunter die Xenophobie, die durch die exzessive Wertschätzung von patriotischen Symbolen und durch Hassdiskurse gegenüber Nachbarländern ihren Ausdruck findet. Darüber hinaus eine massive Aggressivität, die Hierarchisierung der Gesellschaft und die Idee, dass sich Minderheiten dem Willen der Mehrheit unterwerfen sollen. Die Herausforderungen sind klar: Die Demilitarisierung der Gesellschaft, ebenso wie die Depolitisierung der Streitkräfte sind nicht nur eine Herausforderung für die gewählte Regierung, sondern auch für die organisierte Zivilgesellschaft.

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