Brasilien | Nummer 299 - Mai 1999

Die Regenwaldzerstörung in Brasilien ist größer als angenommen

Bisherige Schätzungen erfassen nur die Hälfte der Zerstörung – Satellitenbilder sind unzureichend

Der Amazonasregenwald wird laut WissenschaftlerInnen aus den USA und Brasilien wesentlich schneller zerstört als bisher angenommen. Nach der aktuellen Ausgabe des britischen Fachjournals Nature erfassen die derzeitigen Schätzungen weniger als die Hälfte der Fläche, die jährlich verschwindet, in trockenen Jahren sogar noch weniger

Maike Rademacher

Nach den Untersuchungen erfassen die üblichen Satellitenbilder nicht Zerstörungen, bei denen die Baumdecke zwar reduziert, aber nicht vollständig eliminiert wird. Für eine umfassende Dokumentation fehlen somit Felddaten. Diese Daten versuchte die ForscherInnengruppe in ihren Untersuchungen auszustellen. Zusätzlich zu den bisher dokumentierten Flächen fallen nach Angaben von Forscher Daniel Nepstadt und seinem Team noch einmal bis zu 15.000 Quadratkilometer dem Holzeinschlag zum Opfer. Holzeinschlag zerstört zwischen einem und 40 Prozent der Biomasse und erhöht die Gefahr für zufällige Brände. Durch die reduzierte Blattdecke des Waldes fallen Sonnenstrahlen bis auf den Boden, trocknen abgefallenes Laub und lassen es so zu einem Entzündungsherd werden.
Allein durch die Auswirkungen des El Niño waren nach Angaben der WissenschaftlerInnen rund 270.000 Quadratkilometer des 1,8 Millionen Quadratkilometer großen Regenwaldgebietes feuergefährdet. Rund eine Million Quadratkilometer des Amazonaswaldes sind in den vergangenen Jahrzehnten bereits zerstört worden.
All diese Waldschäden werden zwar von den Satelliten dokumentiert, sind aber nach ein bis fünf Jahren nicht mehr sichtbar, weil die Vegetation nachwächst. Was von oben für die Satelliten dann wie tropischer Regenwald aussieht, ist allerdings mit dem artenreichen Primärwald nicht zu vergleichen, sondern lediglich eine Pioniervegetation.

Wieviel Holz wird geschlagen?

Die Wissenschaftler hatten 1.393 der rund 2.500 in dem Gebiet ansässigen Holzfirmen zu Holzerntemengen befragt und entsprechend auf die tatsächlich abgeholzte Fläche umgerechnet. Die befragten Holzfirmen repäsentieren rund die Hälfte der 75 im Wald tätigen Einschlagszentren. Alle Zentren zusammen sind für über 90 Prozent des Holzeinschlages in Brasilien verantwortlich. Bedeutung haben die neuen Erkenntnisse nicht nur in Hinblick auf den Verlust von Arten – das Amazonasgebiet beherbergt zehn Prozent der Pflanzen- und Tierarten weltweit – sondern auch für die Emissionen des Treibhausgases Kohlendioxid. Nach Schätzungen der WissenschaftlerInnen könnten bis zu zehn Prozent der weltweiten Emissionen allein aus von Menschen verursachten Bränden in Brasilien stammen. Der Zerstörung Einhalt gebieten könnte ihrer Ansicht nach nur ein insgesamt geringerer oder ökologisch verträglicher Holzeinschlag und effektivere Maßnahmen bei der Brandprävention. „Beides wird wohl kaum passieren, so lange der bis dato expandierende Zugang zu den Wäldern durch Straßen, Stromleitungen und Wasserstraßen nicht scharf beschnitten wird“, schreiben die ForscherInnen in Nature.
Land wird besonders für den Sojaanbau erschlossen. Für den Exportschlager Soja werden Flüsse ganzjährig schiffbar gemacht. Sie werden begradigt, ausgebaggert und gedämmt. Sobald sie für die großen Transportverbände nutzbar sind, sind die Wälder genau wie beim Straßenbau für Holzfirmen und Siedler geöffnet. Nach den verheerenden Bränden vom Frühjahr 1998 hatte die brasilianische Regierung einen Notkredit für ein Amazon Emergency Fire Prevention and Control Project (PROARCO) beantragt, der im September bewilligt wurde. Das Projekt in Höhe von 15 Millionen Dollar beinhaltet ein Überwachungssystem für Feuer, Präventionsmaßnahmen wie öffentliche Aufklärung, Feuerbekämpfung durch technische Ausrüstung und Projektkoordinierung. Über 12.000 Dorfvorsteher wurden im Rahmen des Programmes schon mit der Auflage geschult, ihre Kenntnisse weiterzugeben. Ob das die richtigen Adressaten sind, ist eine andere Frage, die Weltbank bezeichnet ihr Projekt als „gutes Beispiel für eine Zusammenarbeit zwischen Regierung und NRO für einen rechtzeitigen, effektiven Vor-Ort-Einsatz“.
Der im Januar neu eingesetzte Umweltminister Brasiliens José Sarney Filho ordnete unter anderem ein Einfrieren sämtlicher Holzkonzessionen in dem Gebiet an. Außerdem sollen die Abholzungen schärfer kontrolliert werden. Trotzdem sind in den vergangenen Monaten über 300.000 Hektar abgeholzt worden, obwohl nur 87.000 Hektar erlaubt waren. Das derzeitige Abholzungsverbot ist nur auf 120 Tage begrenzt. Brasilien hat schon im vergangenen Jahr versucht, vor allem den Vormarsch asiatischer Holzeinschlagsfirmen wie Samling zu bremsen.
Diese und andere Maßnahmen reichen nach Einschätzung des World Wide Fund for Nature (WWF) bei weitem nicht aus. Mehr und effektivere Maßnahmen für den Schutz der Wälder sind aber kaum zu erwarten. Um die Vorgaben des Anpassungsprogrammes, das der Internationale Währungsfonds Brasilien verordnet hat, einzuhalten, hat das Land schon im vergangenen November in den vorläufigen Haushaltsplänen gerade hier mit scharfen Einschnitten begonnen. Bei der Weltbank tagte im April die Arbeitsgruppe des von Deutschland mitinitiierten Pilotprogramms für Brasilien. Neue Beschlüsse sind aber auch hier nach Angaben eines Sprechers der Weltbank nicht zu erwarten. Diskutiert wurden vor allem die Ergebnisse mehrerer Arbeitstreffen zu Projekten des Pilotprogramms.

Indigenes Territorium bedroht

Als erfolgreich bezeichnete man dabei unter anderem das Demarkierungsprojekt für indigene Völker. „Über 20 Millionen Hektar sind schon mit Projektmitteln demarkiert worden, dadurch wird die jetzige Regierung ein Rekordhalter bei der Demarkierung“, vermeldet die Weltbank stolz. Diese Erfolge stehen aber auf wackligen Füssen; weiterhin wird die Demarkierung von lokalen Politikern mit allen Mitteln bekämpft, angefangen von Gewaltandrohungen bis zu Prozessen gegen die Indianer. Als im Dezember 1998 der Indianerrat von Roraima nach 20jährigen Kampf endlich eine Demarkierung von 1,6 Millionen Hektar erfolgreich durchsetzte, wurden sie nicht nur bedroht, sondern auch zweimal Mordanschlägen ausgesetzt.
An der Situation im brasilianischen Regenwald hat sich also wenig verändert. Weiterhin senden Satelliten Bilder von zerstörten Wäldern, streiten sich Experten um neue und immer höhere Vernichtungszahlen, holzen aus – und inländische Holzfirmen ab, wird der Wald für weitere Erschließungen geöffnet und dümpeln sinnvolle Schutz- und Nutzungsprojekte auf dem Probeniveau herum. Langfristig steuert Brasilien damit das Schicksal anderer Länder an: In Indien, Bangladesh, Sri Lanka und Haiti sind alle Urwälder zerstört, die Philippinen und die Elfenbeinküste stehen dicht davor. Pro Minute fallen weltweit 60 Hektar Regenwald, pro Jahr sind es 31 Millionen Hektar: eine Fläche größer als Polen. Dabei fallen nicht nur ein paar Bäume um.
Nach Angaben der amerikanischen NRO Rainforest Action Network könnte ein Hektar des peruanischen Regenwaldes einen jährlichen Ertrag in Höhe von 6.820 US-DOllar erbringen, wenn der Hektar ökologisch verträglich genutzt würde, d.h. Früchte, Gummi und Holz herausgeholt würde. Lediglich 1.000 Dollar gäbe es bei dem häufigen Kahlschlag für Holzgewinnung – und 148 Dollar, wenn derselbe Hektar in eine Rindviehweide umgewandelt wird. Manchmal verhalten sich Menschen wie Rindviecher.

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