Mexiko | Nummer 511 – Januar 2017

DIE WAHRHEIT IST GEFÄHRLICH

Interview mit Néstora Salgado, Kommandantin einer Gemeindepolizei

Sie wurde wegen ihres Einsatzes für die Sicherheit ihrer Heimatstadt Olinalá mehr als zweieinhalb Jahre eingesperrt, ohne einen fairen Prozess bekommen zu haben. Sie traute sich, politische Kollaborateure des organisierten Verbrechens beim Namen zu nennen. Bis heute darf sie nicht in ihre Heimat zurück. Die LN sprachen mit der im März 2016 freigelassenen Kommandantin der Gemeindepolizei von Olinalá/Guerrero, Néstora Salgado, über die Hintergründe ihres Kampfes und die Motive staatlicher Repression.

Von Interview: Robert Swoboda

Wie war die Situation in Guerrero während 1980er Jahre, die Zeit, bevor Sie in die USA ausgwandert sind?
Anfang der 1990er Jahre habe ich meinen Heimatort Olinalá in Richtung USA verlassen. Hauptsächlich wegen des Mangels an allem, der in dem verarmten Ort bestand. Guerrero war bekannt durch die dort herrschende Gewalt, die uns aufgezwungen wurde. Die Regierung unterdrückt uns seit Jahrhunderten. Diese Gewalt hat uns aufgehalten, denn ein Staat ohne Sicherheit kann sich nicht entwickeln und sieht die Armut nicht. In dieser Zeit hatte ich das Bedürfnis, ein besseres Leben für meine Kinder zu suchen.

Viel unterwegs: Néstora Salgado in Berlin (Foto: Robert Swoboda)

Von welcher Art Gewalt sprechen Sie?  
Es gibt verschiedene Arten von Gewalt in Guerrero. Die indigenen Gemeinden werden von transnationalen Firmen beraubt, zum Beispiel durch den Abbau von Ressourcen in Minen. Daneben gibt es die Gewalt von Drogenbanden und organisiertem Verbrechen und die korrupte Politik, die gemeinsame Sache macht mit den Verbrechern. Die Banden entführen junge Menschen, machen Sie zu Dealern oder Auftragsmördern, betreiben Menschenhandel und Prostitution, töten Frauen und so weiter. Jeden Tag gibt es Morde in Guerrero, oder Verschwundene. Die 43 verschwundenen Studenten (aus Ayotzinapa im Jahr 2014, Anm. der Redaktion) waren ein Signal dafür was in Guerrero seit langem passiert. Wir leben in einem Staat, der völlig zerrissen ist, unkontrollierbar, nicht mehr regierbar – und das ist in ganz Mexiko so.

Sie lebten 11 Jahre in den USA, was war der Grund für Ihre Rückkehr?
Ich habe in den USA zunächst ohne Papiere gearbeitet. Die Diskriminierung nahm ich kaum wahr, es war ja nicht mein Land. Letztlich ging es ums Überleben. Als ich dann die nötigen Papiere hatte, konnte ich wieder in meine Heimat reisen. Dort wurde mir die Realität wieder bewusst, in der ich in meiner Heimat gelebt hatte, der Grund für mein Fortgehen. Das fällt dir nicht auf, wenn du an einem Ort lebst, den du gewohnt bist. Aber wenn du andere Orte kennst und weißt, dass es ein anderes Leben gibt – dann bemerkst du, wie arm Guerrero ist. Ich war die Einzige meiner Familie, die das Land verlassen hat. Also wollte ich sie wieder sehen, das war mir das wichtigste.

Wie kam es zu der Gründung der Gemeindepolizei, der policia comunitaria, in Olinalá 2012?
Sie sind in Guerrero seit 21 Jahren aktiv. Das Land ist sehr fruchtbar für den Anbau von Schlafmohn oder Mariuhana, daher die Drogenbanden. Wegen der Gewalt die daraus entstanden ist, hat sich die policia comunitaria gegründet. Die Gewalt richtete sich gegen die Frauen auf ihren langen Wegen durch die Berge und gegen die Kinder. Deshalb haben wir die policia comunitaria gegründet, weil der Staat längst die Kontrolle verloren hat. 2012 wurde Eusebio González Rodriguez Kommunalpräsident, er war eindeutig mit Drogenbanden in Kontakt. Mit ihm kamen die Kriminellen nach Olinalá. Bewaffnet patroullierten sie durch die Gemeinde, Menschen verschwanden, viele Dinge geschahen. Die Gemeinde wurde unterdrückt und hatte große Angst. Niemand traute sich, etwas zu sagen und sich ihnen in den Weg zu stellen. Außerdem war es in vergangenen Zeiten ganz normal, dass jedes Dorf seine eigene policia comunitaria hat. Heute sind dies Neugründungen auf der Grundlage des Gesetzes 701; die Koordination für Regionale Autoritäten in den Gemeinden (CRAC) wird gesetzlich anerkannt. Nach unserem Gewohnheitsrecht (usos y costumbres) gibt es diese Praxis seit langer Zeit.

Wie setzt sich die CRAC zusammen und was ist ihr Fundament?
Wenn man auf die Karte Guerreros schaut und die Munizipien raussucht, in denen es policias comunitarias gibt, dann fällt auf, dass es die Mehrheit ist. Die Basis der CRAC sind die regionalen Versammlungen, an denen alle Repräsentanten der Gemeinden beteiligt sind. In diesen werden nach unseren Traditionen Entscheidungen getroffen. Es gibt interne Regeln. Wir in Olinalá haben eine Satzung und so weiter. Wenn innerhalb der CRAC Entscheidungen getroffen werden, dann von der Mehrheit der Gemeinden. Das ist Demokratie. Außerdem haben wir ein anderes Rechtssystem, das wir Reeducación (Wiedereingliederung oder Erziehung) nennen. Menschen die ein Delikt begangen haben, können für Gutmachung sorgen, indem sie notwendige Aufgaben in Gemeinden erledigen. Dafür werden sie entschädigt, bekommen Essen und Geld, um ihre Familie zu unterstützen. Danach übergibt die CRAC den Gefangenen wieder zurück an seine Gemeinde. In manchen Germeinden wird dann sogar ein Fest gefeiert, weil die Wiedereingliederung gelungen ist und die Repräsentanten der CRAC für denjenigen unterschrieben haben.

Sie wurden 2013 verhaftet und in ein weit entferntes Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Erst nach zwei Jahren und acht Monaten wurden Sie freigesprochen. Wie kam es dazu und was steckte hinter den Anschuldigungen?
Ich wurde öffentlich der Freiheitsberaubung beschuldigt, von Frauen, die mit den Kriminellen gemeinsame Sache machten. Sie wurden benutzt. Die Organisation Schluss mit der Entführung (Alto al Secuestro) unterstützte diese Frauen, deren Familien später um ihre Wiedereingliederung in die Gemeinde baten, indem sie das Rechtsystem der Reeducación nutzten. Zusammen mit der Staatsanwaltschaft, dem Gouverneur und dem Kommunalpräsidenten González wurden die falschen Beschuldigungen gegen mich konstruiert und waren deshalb so stark. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte und die UNO haben bestätigt, dass es eine willkürliche und unrechtmäßige Verhaftung war. Denn weil wir Autoritäten unserer Gemeinde waren, dürfen wir auf der Grundlage des Artikels 35 des Gesetzes 701 Menschen legal festnehmen. Außerdem verwehrte man mir in Gefangenschaft neun Monate lang einen Anwalt. Das war eine Nachricht an alle Gemeinden, die sich organisieren: Seht, was euch passieren kann, wenn ihr weiter eure policias comunitarias unterhaltet. Ich trat in einen Hungerstreik, 31 Tage lang, forderte meine Verlegung und einen fairen Prozess. Sie haben mich verhaftet, weil ich eine Frau bin und weil ich die politischen Amtsinhaber hinterfragt habe. Mein Fall ist ein Röntgenbild dafür, wie in Mexiko Straftaten konstruiert werden, dass Opfer gekauft werden, um einen Schuldigen zu fabrizieren. Deshalb kann ich sagen, dass es sehr viele Unschuldige in den Gefängnissen gibt. Das sind Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen, nicht für ihr Recht bezahlen oder es kaufen können. Ich wurde freigelassen, aber ich bin nicht frei, sondern im Exil. Mir wurde verboten, in meine Heimat zurückzukehren. Obwohl ich die amerikanische Staatsbürgerschaft habe. Es ist weiterhin ein Verfahren offen, weil Berufung eingelegt wurde. Sie wollen mich weiterhin in ein Gefängnis stecken.

Warum stellt sich die mexikanische Regierung gegen eine Bewegung, die sich um die Sicherheit und Lebensqualität ihrer Heimat kümmert? Was ist die Motivation dahinter?
Weil die policia comunitaria von der Basis her entstanden ist, in den Dörfern und aus dem Volk. Für die Regierung sind wir nur ein paar Indios mehr, die sie nicht interessieren. Die Regierung mit all dem Militär und der Polizei hat es nicht geschafft, die Kriminalität zurückzudrängen. Wir hingegen mit alten Gewehren und Jagdflinten haben es geschafft. Seit wir die Gemeindepolizei haben, gibt es keine Entführungen mehr in Olinalá und keinen Raub. Die Regierung unterstützt uns nicht, weil sie so nicht arbeiten kann. Wir schließen ihnen die Türen zur Einflussnahme. Wir kämpfen gegen den Bergbau, gegen die Abholzung unserer Wälder, gegen die Verschmutzung unserer Flüsse und vieles mehr. Es gibt keine Partei, die sich für die unschuldigen Gefangenen einsetzt oder für die sozialen Aktivisten. Sie bereichern sich nur selbst und machen Versprechungen, die sie nicht einhalten. Was sie dir geben ist ein Stück Kuchen und eine Limonade damit du wählen gehst – 100 Pesos (ca. fünf Euro, Anm. d. Red.).

Angesichts all der Ungleichheit, Armut, Straflosigkeit, ausufernden Gewalt und Korruption in Mexiko, sehen Sie die Möglichkeit für einen Wandel – eine Bewegung, die groß genug werden kann, tatsächlich etwas zu bewegen?
Wir haben die Kapazität dazu. Es gibt viele Menschen, die noch schlafen. Wir arbeiten hart daran, sie aufzuwecken, ihnen das bewusst zu machen und gemeinsam zu arbeiten. Es gibt viele vereinzelte Bewegungen, die wir noch nicht mit einbeziehen, um eine gemeinsame Kraft zu werden. Mein Ziel war es all diese in einer Bewegung zu vereinen und gemeinsam zu kämpfen. Was ich derzeit mache ist, Kollektive und Organisationen in den USA, Spanien, Kanada, jetzt in Deutschland zu besuchen, um am besten eine globale Aktion zu starten. Damit bei einem gemeinsamen Aufruf zu einer globalen Aktion alle teilnehmen. Um wirklich eine Bewegung aller zu werden.
Den medialen Zirkus in Mexiko zu durchbrechen ist sehr schwer. Es ist nicht einfach, dass jemand über uns schreibt, die Bewegungen. Nur wenige Journalisten trauen sich das, über all die Ermordeten zu berichten und dies anzuklagen. Die Wahrheit zu sagen bedeutet, sich unter Pferdehufe zu begeben. Deshalb gehen wir ins Ausland, um die Anklagen von dort aus zu machen. Eure Arbeit hilft uns, damit unser Elend sichtbar wird. Das ist uns ein großes Bedürfnis. Mexiko wird als touristisches Land empfunden, aber wir aus den Gemeinden brauchen euch, um den Teufel zu vertreiben. Die Gemeindepolizei gibt es, um die Gemeinden zu beschützen und auch das Gesetz 701 in Guerrero, welches sie uns nehmen wollen. Wir werden darum kämpfen und es auf Bundesebene bringen.  Ich habe keine Angst vor dem organisierten Verbrechen, sondern vor dem Staat. Denn er ist es, der uns ständig bekämpft.

Wie ist die Situation heute in Olinalá?
Stolz kann ich sagen, dass die Gemeindepolizei weiterhin funktioniert. Ich arbeite aus den USA weiterhin mit meinen Genossen. Der Staat von Guerrero versucht uns einzuschüchtern und droht mit Festnahmen. Die Gemeindepolizei muss sehr vorsichtig sein; sie arbeiten weiter, aber jeden Moment kann der Staat uns festnehmen und demobilisieren. Wir müssen die Augen immer offen halten.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren