Chile | Colonia Dignidad | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Die würdelose Kolonie

400 Kilometer südlich Santiagos betreibt eine deutsche Sekte noch immer ein Landgut

Es ist ruhiger geworden um die Sekte der etwa 250 deutschen StaatsbürgerInnen, die im Süden Chiles 1961 die Colonia Dignidad gegründet haben. Bekannt geworden ist sie durch eine interne Terrorherrschaft und ihre Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst DINA während der Pinochet-Diktatur. Zunächst als gemeinnütziger Verein, inzwischen als Holding mit mehreren Aktiengesellschaften, hat die Colonia Dignidad alles überlebt. Und deshalb ist sie auch heute noch ein Thema der Lateinamerika Nachrichten, die der deutschen Sekte bereits zahlreiche Berichte und zwei Sonderausgaben gewidmet hat.

Jürgen Karwelat

Im April 2003 flüchteten erneut Mitglieder der Colonia Dignidad und vertrauten sich den chilenischen Behörden an. Walter Szurgelies (73), seine Frau Mathilde (75) und ihre Tochter Ingrid sowie ihr Schwiegersohn Francisco Morales nutzten die Anwesenheit eines Untersuchungsrichters in der Colonia, um das Gelände der deutschen Sekte im Süden von Chile zu verlassen. Francisco Morales war als Junge von Hugo und Waltraut Baar adoptiert worden und hatte in der Kolonie den Namen Franz Baar. Sein Spanisch hatte er nahezu gänzlich vergessen. In Dignidad sprechen alle Deutsch. Die Geflohenen berichteten von anhaltender eingeschränkter Bewegungs- und Informationsfreiheit. „Wir wissen, dass noch mehr Menschen dort raus wollen“, erzählten die Szurgelies einem US-amerikanischen Journalisten.

Wer gehen will, gilt als geisteskrank

Walter und Mathilde Szurgelies waren in den 60er Jahren mit ihren acht Kindern nach Chile gegangen. Ihr jüngster Sohn Jürgen hatte mehrfach versucht, aus Dignidad zu flüchten, zuletzt 1989. Damals erklärten die Eltern öffentlich: „Unser Sohn ist seit der Geburt geistig behindert.“ Sie holten ihn zurück in die Colonia. Jürgen Szurgelies wurde wohl als Abweichler jahrelang mit Psychopharmaka behandelt, da Personen, die die Gruppe verlassen wollen, als krank angesehen werden. Er lebt noch heute in der Kolonie – seine Eltern dagegen sind draußen.
Nach ihrer Flucht im April blieben sie zunächst in Talca. Dort wurden sie im Rahmen eines lokalen Schutzprogramms für Opfer von Straftaten betreut. Mathilde Szurgelies konnte sich das erste Mal seit 40 Jahren eigene Kleidung kaufen. In der Colonia hatte sie weder über Geld verfügt, noch durfte sie die Kolonie verlassen.
Noch im gleichen Monat traf das Ehepaar Szurgelies mit ihren in der Colonia verbliebenen Kindern zusammen. Die Eltern drängten sie, Dignidad zu verlassen, die Kinder dagegen drängten ihre Eltern zur Rückkehr. Die Tragik im Fall der Szurgelies ist kein Einzelfall. Die psychische und physische Abhängigkeit der Sektenmitglieder von ihrer Gruppe ist nach wie vor unberechenbar.
Mittlerweile befinden sich die Flüchtlinge bei Verwandten in Deutschland, völlig mittellos und auf Sozialhilfe und die Unterstützung der Verwandten angewiesen.

Sektenführer auf der Flucht

Seit sechs Jahren ist der 81-jährige Paul Schäfer untergetaucht. Er hat die Colonia Dignidad gegründet und gilt noch heute als ihr unumschränkter Herrscher. Aber 1997 konnten es die chilenischen Behörden nicht mehr leugnen, dass es in der Kolonie nicht mit rechten Dingen zuging. Zu viele Anzeigen waren gegen Schäfer eingegangen. Ihm wird vorgeworfen, dass er sich an minderjährigen chilenischen Jungen vergangen hat, die das Schulinternat auf dem Gelände der Kolonie besuchten.
Damals wurde das Landgut mehr als ein Dutzend Mal von der Polizei durchsucht. Paul Schäfer fanden sie angeblich nicht, dafür aber ein unterirdisches Tunnelsystem. Das deutet daraufhin, dass die Colonia Dignidad auch ein Kommunikationszentrum des Geheimdienstes DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) beziehungsweise der chilenischen Armee war.
Noch im gleichen Jahr stellte Untersuchungsrichter Hernan Gonzalez seinen Bericht vor. Darin führte er aus, dass Paul Schäfer in 27 Fällen Kindesmissbrauch begangen habe, darunter fünf Vergewaltigungen. Offiziell ist damit, was geflüchtete Sektenmitglieder seit vielen Jahren berichtet haben.
Als Paul Schäfer noch in Dignidad lebte, begleiteten ihn täglich zwei Jugendliche. Im Sektenjargon hießen sie „Sprinter“. Es gab einen Nachmittags- und einen Nachtdienst. Ein Junge musste bei Schäfer im Zimmer schlafen, ein weiterer vor der Tür. Die Jungen standen Schäfer jederzeit zur Verfügung. Für die Sektenmitglieder war das seit Gründung der Sekte in den 1950er Jahren „normal“. Der Skandal wurde in Chile erst zum Skandal, als Schäfer auch chilenische Kinder sexuell missbrauchte und diese die Vorkommnisse zu Hause berichteten.

Verfahren gegen Schäfer eingestellt

Gegen Paul Schäfer besteht weiterhin ein internationaler Haftbefehl. Offiziell scheint niemand zu wissen, wo er sich aufhält. Aber es gibt Gerüchte: Schäfer solle sich weiterhin in der Kolonie oder in deren Nähe versteckt halten. Mit Schäfer verschwanden rund 15 weitere Mitglieder der Sekte. Offiziell ist auch deren Aufenthaltsort nicht bekannt. Eine Spur führt jedoch in die Schweiz, wo sich in einem kleinen Ort mit Namen Burghaslach das Sektenmitglied Renate Freitag im Oktober 2001 polizeilich angemeldet hat. Dort ist auch das Sektenmitglied Dorothea Hopp, geb. Witthahn, gemeldet.
Im Rahmen der Ermittlungen erweiterte der Untersuchungsrichter Gonzalez den Kreis der Beschuldigten. Acht Führungsmitgliedern der Gruppe wird Beihilfe und Mitwisserschaft nicht nur der Flucht Schäfers, sondern auch der Vergewaltigung der Kinder zur Last gelegt: Hans-Jürgen Blanck, Hartmut Hopp, Gerd Seewald, Kurt Schnellenkamp, Alfred Gerlach, Günter Schaffrik, Gerhard Mücke und Richardo Alvear. Sie wurden im April 1998 festgenommen, aber gegen Kaution wieder freigelassen. Über die Anklage ist noch nicht entschieden.
Das Verfahren gegen Schäfer stellte Hernan Gonzalez im vergangenen Jahr vorübergehend ein. Der Grund: der Beschuldigte sei nicht auffindbar. Warum es den chilenischen Behörden nicht gelungen ist, Schäfer zu verhaften, bleibt im Dunkeln. Eine mögliche Erklärung: Schäfer weiß um die Verbrechen des Geheimdienstes und hat Material, an deren Veröffentlichung weder Polizei, Geheimdienst noch Armee ein Interesse haben können.

Wirtschaftliche Basis wackelt

Juristische Auseinandersetzungen um Geld, Kinder, Erbe, Zollvergehen und Straftaten haben die Sekte seit ihrer Gründung begleitet und waren zeitweise eine erfolgreiche Strategie, das Imperium zusammenzuhalten. Jetzt wenden sich die rund 70 Prozesse, die die Gruppe führt, gegen sie.
So endete der Prozess der Colonia Dignidad gegen Amnesty International im November 1997 spektakulär. Ziel der Sekte war es, Amnesty International die weitere Verbreitung der Broschüre „Colonia Dignidad – ein Folterlager der DINA“ zu untersagen.
Da sowohl die chilenische Klägerin als auch die deutsche Sektenmutterorganisation „Private Sociale Mission“ juristisch nicht mehr existierten, wurde die Klage nach 20 Jahren abgewiesen. Amnesty International blieb auf mehreren Hunderttausend Euro Prozesskosten sitzen.
Ein schwerer Schlag für die Ökonomie der Sekte war der 2002 verlorene Prozess wegen Steuernachzahlungen an die chilenischen Finanzbehörden in Höhe von 13,4 Millionen US-Dollar. Der Prozess war 1991 eröffnet worden. Die Colonia Dignidad hatte sich wirtschaftlich betätigt, konnte sich dabei aber nicht auf ihre vom chilenischen Staat erteilte Gemeinnützigkeit berufen. Gegen das Urteil des Berufungsgerichts Talca besteht noch die Möglichkeit der Revisionsklage vor dem Obersten Gerichtshof. Sollte die Forderung tatsächlich durchgesetzt werden, kann dies das ökonomische Ende der Colonia Dignidad bedeuten.

Dignidad öffnet sich langsam

Die Flucht der Familie Szurgelies zeigt, dass sich das interne Regime lockert und sich die Kolonie langsam öffnet. Die alten Getreuen von Schäfer – unter anderem Hans-Jürgen Blanck und Kurt Schnellenkamp – bilden die neue Führung. Was jahrelang nicht möglich war, passiert jetzt. Nach 15 Jahren dürfen die Sektenmitglieder heiraten und zusammenleben. Frauen und Männer werden nicht mehr voneinander getrennt. Deutsche Verwandte erhalten nach vielen Jahren des Schweigens Briefe, in denen Verfehlungen der Sekte eingeräumt werden. Und Besuche aus Deutschland werden gestattet.
Nach Angaben der Zeitung La Tercera studieren sogar 20 jüngere Gruppenmitglieder an chilenischen Universitäten. 30 leben in Bulnes, wo sich das Restaurant der Gruppe befindet, sechs in Santiago, wo die Gruppe unlängst einen Lebensmittelladen eröffnet hat. Und ein paar Kinder besuchen die Schule von Parral.
Welche Bedeutung diese Öffnung tatsächlich für Dignidad hat, ist unklar. Denn schon bei Gründung der Sekte Mitte der 1950er Jahre gingen zahlreiche Sektenmitglieder außerhalb der Gruppe einer Arbeit nach oder machten eine Ausbildung. Eine mögliche Erklärung für den freien Ausgang wäre heute: Neue Gruppenführer werden auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet.

Folterkammer im Untergrund

Bis heute ist nicht geklärt, welche Rolle die Colonia Dignidad für die Armee oder den Geheimdienst der Pinochet-Diktatur gespielt hat. Feststeht, vor dem Putsch diente sie der rechtsradikalen Organisation „Patria y Libertad“ als Stützpunkt und nach dem Putsch als Verhör-, Folter- und Ausbildungslager des chilenischen Geheimdienstes DINA. Gegner des Pinochet-Regimes wurden in der Colonia gefoltert und ermordet – auch Sektenmitglieder legten hier Hand an.
1999 entdeckte die Polizei bei einer Durchsuchung einen Bunker. Nach chilenischen Presseberichten identifizierten ihn Überlebende als Folterkammer. Weitere Bunkeranlagen geben Rätsel auf. Vom Empfangshaus am Eingang des Grundstücks verläuft ein 20 Meter langer Tunnel aus Stahlbeton bis zum Fuß des nahe gelegenen Hügels. Eine andere 18 Meter lange Öffnung geht bis zu einer Schlucht. Von diesem Tunnel aus verläuft eine 60 cm dicke Wasserleitung dicht am Boden bis zum Fluss. In dem Tunnel befindet sich ein umgebauter Schlitten auf Kugellagern, der zu Transportzwecken gedient haben könnte.
Paul Schäfer bewohnte vermutlich einen drei Kilometer vom Eingangstor und 180 Meter vom Gästehaus entfernten Bunker: beleuchtet, acht Meter lang mit Flur, Bad und zwei weiteren Räumen. Besonders auffällig sind die elektrischen und Telefonleitungen, die für eine Siedlung von rund 250 bis 300 EinwohnerInnen überdimensioniert sind. Das könnte auf einen Horchposten des chilenischen Geheimdienstes oder der Armee zum Abhören des nationalen Funkverkehrs hinweisen.
Die Colonia Dignidad war eingebunden in das Machtgeflecht der Pinochet-Diktatur. Und deshalb existiert sie vermutlich heute noch – trotz erdrückender Beweise für zahlreiche Straftaten. Armee und Geheimdienst haben bei den Deutschen sprichwörtlich „Leichen und noch einiges andere im Keller.“ Aber die sollen nicht ins Licht der Öffentlichkeit.

Hilfe des Auswärtigen Amtes bleibt aus

Vor zwei Jahren führte die Deutsche Botschaft in einem öffentlichen Restaurant in Parral für Colonia Dignidad-Angehörige einen Konsularsprechtag durch, den rund 70 Angehörige auch nutzten. Einen ähnlichen Sprechtag führte die Botschaft noch einmal im März 2003 durch. Auf dem Fragebogen standen Rentenzahlungen, Passangelegenheiten und Fragen zum Staatsangehörigkeitsrecht wurden erörtert. Was die Kolonie sonst betrifft, hüllt sich das Auswärtige Amt in Schweigen.
Auf Initiative des SPD-Bundestagsabgeordneten Lothar Mark, debattierte der Auswärtige Ausschuss im Dezember 2001 über die Colonia Dignidad. Das Plenum des Deutschen Bundestages verabschiedete schließlich am 16. Mai 2002 eine umfangreiche Entschließung, die von SPD, Bündnisgrünen und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen wurde.
Mit der Entschließung „Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad“ (BT-Dr. 14/7444) wird die Bundesregierung aufgefordert,
– dem Fall Colonia Dignidad eine höhere Priorität einzuräumen,
– den politischen Wandel in Chile für eine verstärkte Zusammenarbeit zur Aufklärung der Vergehen und zur unverzüglichen Hilfe für die BewohnerInnen der Kolonie zu nutzen,
– sich für die Einrichtung einer deutsch-chilenischen Arbeitsgruppe einzusetzen mit dem Ziel, nach sechs Monaten ein Strategiepapier zur Lösung des Problems zu erarbeiten im engen Dialog mit der chilenischen Seite Möglichkeiten der personellen und technischen Unterstützung zu klären,
– einen Fonds zur Finanzierung der notwendigen Hilfs- und Reintegrationsmaßnahmen einzurichten,
– bei den Bemühungen um Aufklärung auch die Zusammenarbeit mit der lateinamerikanischen Menschenrechtskommission zu suchen und nach 12 Monaten über ihre Aktivitäten zu berichten.
Im August 2003 lag immer noch kein Bericht vor. Die Signale aus dem Auswärtigen Amt sind vernichtend. Von erhöhter Priorität, dieses Problem anzugehen, ist nichts zu bemerken. Von einem Hilfsfonds scheint das Auswärtige Amt nichts zu halten, erst recht nicht für die in der Colonia Dignidad gefolterten ChilenInnen. Es gab weder intensive Kontakte mit chilenischen Behörden noch zu lateinamerikanischen Menschenrechtsorganisationen.
Auch in Deutschland drängt sich der Verdacht auf, dass die rot-grüne Bundesregierung die Angelegenheit Colonia Dignidad als lästiges Übel ansieht – und sich um die Verantwortung für ihre StaatsbürgerInnen drückt.

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