Fluchtziel Argentinien
Kultureller und politischer Widerstand im Exil
Argentinien war in Lateinamerika neben Brasilien und Chile seit jeher ein bevorzugtes Einwanderungsland. Dies lag gewiß auch daran, daß die Regierung gemäß Artikel 25 der argentinischen Verfassung die Pflicht hatte, die europäische Einwanderung zu fördern. Juristisch gesehen hatten AusländerInnen dieselben Rechte wie die StaatsbürgerInnen: “Die Ausländer besitzen auf dem Gebiet der Nation alle Rechte des Staatsbürgers. Sie können eine gewerbliche, kaufmännische und sonstige berufliche Tätigkeit ausüben. Sie können Grund und Boden besitzen, ihn kaufen und sich seiner entäußern. Schiffahrt auf den Flüssen und an der Küste betreiben; frei ihren religiösen Kult ausüben, als Zeuge fungieren und sich den Gesetzen entsprechend verheiraten.” (Artikel 20). Vor 1933 eingewanderte Deutsche waren größtenteils selbständige Kaufleute, Ingenieure, Handwerker und Facharbeiter. Viele Handelsfirmen und Industrieunternehmen befanden sich in deutschem Besitz. Schwerpunkt waren die Baubranche und die chemische Industrie. Dieser ökonomische Einfluß wurde seit der Machtergreifung der Nazis nun auch politisch wirksam, da sie durch die Gleichschaltung der deutschen Einrichtungen und Organisationen bald in allen deutschen Fabriken, Handelsunternehmen und Banken bestimmten. Begünstigt wurde die Ausdehnung des deutschen Faschismus durch die politischen Verhältnisse in Argentinien. Der General Agustin B. Justo, von 1932 bis 1938 an der Macht, stand für eine antikommunistische und antidemokratische Politik.
Die liberale Einwanderungspolitik Argentiniens bestand nicht durchgehend. Für die Einwanderung günstige Zeiten waren die ersten Jahre nach 1933 und die Zeit der Präsidentschaft von Roberto Ortiz zwischen 1938 und 1940. Dieser orientierte sich außenpolitisch vor allem an Großbritannien und zeigte eine klare Ablehnung gegenüber nazistischen Organisationen. Nach 1933 stieg der Anteil der Deutschsprachigen sprunghaft an. Buenos Aires wurde zum Zentrum der antifaschistischen Arbeit.
Großen Stellenwert innerhalb der antifaschistischen Bewegung in Lateinamerika hatte “Das Andere Deutschland”. Anfangs arbeitete diese Bewegung als Hilfskomitee für eintreffende EmigrantInnen aus Deutschland und Spanien. Als der Flüchtlingsstrom nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges und der Niederlage Frankreichs zunahm, wurde “Das andere Deutschland” zum Sammelbecken der politischen Emigration in Argentinien. Ab Mai 1938 gab das Komitee eine gleichnamige Zeitschrift heraus, die vor allem durch den Herausgeber August Siemsen zu einem wichtigen Sprachrohr wurde. Die Zeitschrift wurde durch die steigende Zahl der EmigrantInnen nicht nur in Argentinien, sondern auch im übrigen Süd- und Nordamerika bekannt. In den 40er Jahren war die Auflage auf 4.000-5.000 Exemplare gestiegen.
Die einzige deutschsprachige Zeitung, die sich von Anfang an der Gleichschaltung der Nazis widersetzte, war “Das Argentinische Tageblatt”. Die bürgerlich liberale Zeitung wurde 1889 von dem Schweizer Auswanderer Johann Alemann in Buenos Aires gegründet. Sie bildete den Gegenpol zur deutschnationalen Tageszeitung “Deutsche La Plata-Zeitung”, die 1933 auf einen faschistischen Kurs einschwenkte. Zur gleichen Zeit veröffentlicht “Das Argentinische Tageblatt” folgenden Aufruf: “Deutsche Republikaner in Argentinien! Wollt ihr tatenlos zusehen, wie die Barbarei in der alten Heimat überhandnimmt? Könnt ihr gleichgültig bleiben, wenn Rassenphantasten und Machtwahnsinnige deutsches Ansehen schänden? Alles was freiheitlich und fortschrittlich denkt, muß jetzt eine geschlossene Front bilden. Schließt die Reihen um das Argentinische Tageblatt.”
In der Redaktion arbeiteten unter anderem Fritz Silberstein, Ex-Redakteur der “Deutschen Allgemeinen Zeitung”, Peter Bussemeyer, ehemaliger Lateinamerika-Korrespondent der “Frankfurter Zeitung, der Dichter Paul Zech und der Regisseur und Dramaturg Walter Jacob.
Ihre tägliche Berichterstattung über die Greueltaten der Nazis in Europa führte zu direkten Reaktionen der Auslandsorganisation der NSDAP in Form von Brandbomben, Boykott und Beschwerden.
Als die deutsche Gesandtschaft am 1. Mai 1934 die Hakenkreuz-Beflaggung deutscher Firmenniederlassungen anordnete, veröffentlichte die Zeitung am folgenden Tag Fotos mit den Filialen von Siemens, Thyssen und Bayer unter der Überschrift: “Die sich vor Hitler ducken.”
Die Zeitung wurde bereits am 20. April 1933 in Deutschland verboten. Es folgte die Ausbürgerung einiger ihrer Redakteure. Dem Herausgeber Dr. Ernesto Alemann wurde sein 1915 in Heidelberg erworbener akademischer Grad entzogen. Die Zeitung konnte den Boykott und die Zensur nur deshalb überstehen, da Ernesto Alemann in den 20er Jahren seine Druckerei zu einer der größten in Argentinien ausgebaut hatte.
Das “Argentinische Tageblatt” hatte Ende der 30er Jahre eine Auflage von mehr als 50.000 Exemplaren pro Tag.
Zum 50jährigen Bestehen am 29. April 1939 sandten bekannte antifaschistische EmigrantInnen ihre Glückwünsche: Heinrich und Thomas Mann, Sigmund Freud, Albert Einstein, Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig.
Ein Verein widersteht
Eine weitere deutsche Einrichtung, die sich der Gleichschaltung der Nazis erfolgreich widersetzte, war der Verein “Vorwärts”.
Als ältester deutscher Arbeiterverein wurde er 1882 von deutschen ArbeiterInnen gegründet, die die Sozialistengesetze Bismarcks in die Emigration getrieben hatten. Der Vorwärts hatte die spanische Bezeichnung Asociación de Socorro Mutuos, Cultural y Deportiva Adelante und war eine Vereinigung für gegenseitige Hilfe, Kultur und Sport.
Er widmete sich zunächst der Verbreitung marxistischen Gedankengutes und versuchte Kontakte zu argentinischen ArbeiterInnen zu knüpfen. Ab 1884 gab der Verein die Wochenschrift “Vorwärts” mit dem Untertitel “Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes” heraus.
Im Vereinshaus des “Vorwärts” gründete sich im Jahre 1895 die Sozialistische Partei Argentiniens. Durch seine Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wurde der Verein bald eine der treibenden Kräfte der argentinischen ArbeiterInnenbewegung.
Im Jahre 1933 war von der anfänglichen Entwicklung jedoch nur noch wenig zu spüren. Im Gegenteil, der Verein wurde mehr und mehr zu einem Ort der Geselligkeit, wo Unterhaltung, Sport und Gesang das Zusammentreffen der Mitglieder ausmachte. Zunächst war es eher eine passive Resistenz, auf die die Nazis bei dem Versuch der Gleichschaltung stießen. Der Versuch den Verein mit Nazis zu unterwandern und somit umzupolen, mißlang jedoch. Der Vorstand hatte die Gefahr, die von der deutschen Gesandtschaft und der Auslandsorganisation der NSDAP ausging, rechtzeitig erkannt. Trotzdem gelang es den Nazis, dem Verein durch Drohungen, Erpressungen und Versprechen viele Mitglieder zu entziehen. Die Wende zur antinazistischen Aktivität trat ein mit dem Zustrom deutscher EmigrantInnen. In dem Vereinshaus gründete der deutsche Maler und Graphiker Carl Meffert (Clément Moreau) die aktive Kabarett- und Theatergruppe “Truppe 38”. Unter ihnen waren Pieter Siemsen, Walter Rosenberg und Renate Schotelius. Die durch Veranstaltungen eingenommenen Eintrittsgelder wurden an das Hilfskomitee für die in Frankreich internierten SpanienkämpferInnen und auch für deutsche AntifaschistInnen gespendet. Eine weitere Neugründung war die “Freie Deutsche Bühne” unter der Leitung von Walter Jacob. Über zehn Jahre hinweg bis 1949 gab es Jahr für Jahr bis zu dreißig Neuinszenierungen.
Die Pestalozzi-Schule im Widerstand
Doch nicht nur im politischen und kulturellen Bereich gelang es antifaschistischen Kräften der Gleichschaltung zu widerstehen. Als 1933 die deutschen Schulen in Buenos Aires unter den Einfluß der Nazis gerieten, gab es für viele Eltern keine Möglichkeit, dem faschistischen Gedankengut zu entgehen. Mit der Ankunft vieler Emigrantenfamilien nahm der Plan Gestalt an, eine neue Schule zu gründen. Zu diesem Zweck wurde am 1. März 1934 die Pestalozzi-Gesellschaft, Asociación Cultura “Pestalozzi” gebildet. Bereits am 2. April des gleichen Jahres konnte die Pestalozzi-Schule eröffnet werden. Der Lehrkörper bestand überwiegend aus überzeugten und aktiven Antifaschisten, wie August Siemsen, Erich Bunke, Clément Moreau. Die Schule wurde durch die Öffentlichkeitsarbeit der Pestalozzi-Gesellschaft weltweit bekannt und mußte bereits drei Jahre nach ihrer Gründung wegen Überfüllung der Klassen für weitere Aufnahmen gesperrt werden. “Wenn der Geschichts- und Deutschunterricht”, schrieb Dr. August Siemsen, der diese beiden Fächer ab 1936 unterrichtete, “beim Abgang von der Schule eine gewisse Vorstellung oder nur eine Ahnung davon bei den Schülern vermittelt hat, daß sie in die entscheidenste Zeit der bisherigen Menschheitsgeschichte hineingeboren sind, davon, wie die Entwicklung zu dieser unserer Geschichtssituation in großen Zügen sich vollzogen hat, wenn sie etwas erfassen von der großen uns Heutigen gestellten Aufgabe, eine gesellschaftliche Organisation zu schaffen, in der das Glück des einzelnen und das der Gesellschaft sich gegenseitig bedingen, dann hat dieser Unterricht das Höchste erreicht, was ihm zu erreichen möglich ist.”
Nach dem Ende des Krieges erfolgte auch aus Argentinien eine Rückwanderung nach Deutschland, wobei die meisten Flüchtlinge sich für den sowjetisch besetzten Teil Deutschlands entschieden. Viele blieben jedoch auch in Argentinien, wohl aus Angst vor der Zerstörung und Not, die sie in Europa erwartete. Wer hätte damals ahnen können, daß Jahrzehnte später der argentinische Staatsterror Zehntausende zur Flucht in die entgegengesetzte Richtung zwingen würde.