Musik | Nummer 331 - Januar 2002

Freestyle Norteño

El Gran Silencio – Fünf Mexikaner machen großen Lärm

Spätestens seit ihrer ersten Platte Libres y Locos von 1998 ist El Gran Silencio aus Monterrey ans Licht der Weltöffentlichkeit getreten. Beeindrucken konnte die Band vor allem durch ihren unkonventionellen Stil, der eine Mischung aus traditionellen lateinamerikanischen Musikformen und moderner Pop- und Rockmusik ist. Ihr neustes Album Chúntaros Radio Poder, das eine Zeit lang nur in Mexiko veröffentlicht war, ist seit 2001 auch international erhältlich.

Volkmar Liebig

Chúntaros Radio Poder, el poder del chuntarismo en amplitud modular, Monterrey. Son las seis de la mañana“, ist der Weckruf der Radiomoderatoren. (“Chúntaros Radio Poder, die Kraft des Chuntarismo auf Mittelwelle, Monterrey. Es ist sechs Uhr morgens”). Die Lichter im Barrio sind gerade erst angegangen, die Gitarren noch nicht eingesteckt, dem Akkordeon fehlt es noch an Luft. Danach der erste Song, ein aus diesen Gründen auf das Nötigste beschränkter Rap: Sprechgesang und mit Mund und Kazoo (Tröte) nachgeahmter Hip-Hop-Beat. „Silence in the hall, ahora El Gran Silencio it´s gonna play this song…“, so der wortspielerische Refrain des Stückes. (Stille im Saal, jetzt spielt El Gran Silencio dieses Lied).
Allein diese Eröffnung zeigt, dass es sich bei Chúntaros Radio Poder mitnichten um ein gewöhnliches Studioalbum handelt. Konzept ist vielmehr, einen Tag lang das Programm, eine selbst erfundene Radiostation zu begleiten. Dieses fängt morgens um sechs mit Sonnenaufgang an und endet nachts zwölf Uhr mit dem Grundrauschen. Kommentiert und durchgeführt wird dieses Programm von eigens einbestellten echten locutores (Radio-DJs), die – passend zur Tageszeit – die neusten Lieder von El Gran Silencio auflegen. Dem oben erwähnten Rap folgt dementsprechend nach der Temperaturansage das richtige Aufwach-Lied auch auf dem Fuß: Eine druckvolle Cumbia – durch Samba-Elemente bereichert – mit dem Titel „El Retorno de los Chúntaros“. El Gran Silencio ist zurückgekehrt und hat die Stille ein für alle Mal durchbrochen…

Chuntarismo

Den Namen Chúntaros Radio Poder könnte man neudeutsch mit Chúntaros-Power-Radio übersetzen. Ein chúntaro ist ein „híbrido social urbano bien cabrón“, so der Gitarrist Tony Hernández, von verschiedenen kulturellen Einflüssen geprägte Person aus dem städtischen Ballungsraum mit einem guten Schuss Hinterhältigkeit als Charakterzug. Dieser Begriff trifft aber nicht nur auf den Radiosender zu, sondern ist auf verschiedenste Weisen durchaus auch ein Identifikationsmerkmal von El Gran Silencio selbst.
Musikalisch reicht das Repertoire von Sprechgesang, der sich durch die meisten Lieder zieht, über akkordeonlastige kolumbianische Cumbia, aufgepeppt durch grungigen Gitarrensound oder entfremdet durch extreme Verlangsamung, nordmexikanische Polka, mit Einflüssen aus der Punk-Musik, bis hin zu elektronischen Breakbeats, Reggae-Rhythmen und klassischem Crossover.
Zu den benötigten Instrumenten zählt ein Akkordeon, verantwortlich für die oben genannten traditionellen Musikformen und den typischen Sound von El Gran Silencio. Daneben spielen die für Rockbands üblichen zwei Gitarren, Schlagzeug und Bass. Dazu kommen noch Percussion und Bläser und die Fähigkeit der meisten Gruppenmitglieder, sich im Sprechgesang ihre Zunge zu verbiegen.

Sabrosura

Inzwischen ist es 3:40Uhr am Nachmittag. Die Radiomoderatoren sind bereits in ausgelassener Erzählstimmung. Das nächste Lied heißt „Chúntaro Style“. „Go“ ruft eine Stimme, und sofort setzt der Dreier-Rhythmus der Cumbia, Trompete und Akkordeon mit voller Stärke ein. Später kommt ein stark verzerrter Gesang hinzu, der sich, wie so oft, um die Selbstdefinition der Band dreht: „Este es el Chúntaro Style, porque canto raggamuffin y bailo de gavilán…El Gran Silencio es la pura sabrosura.“ Das ist der Chúntaro Style, weil ich Raggamuffin singe und den Gavilán tanze…El Gran Silencio ist die reine Köstlichkeit.
Ihren ersten Auftritt hatten die aus Monterrey stammenden Jungs, mit den Brüdern Tony und Cano Hernández als Kern, bereits 1993. Danach folgten Jahre in der Untergrund-Szene im Norden Mexikos bis sie 1998 mit ihrem ersten Album Libres y Locos zunächst in Mexiko, dann weltweit, den Durchbruch schafften. Dieses Album verkaufte sich bis dato über 150.000 Mal und machte die Band gleichzeitig zu den Vorreitern des Freestyle Norteño (norteño werden die Bewohner Nordmexikos genannt). Typisch ist dafür die Verbindung von spanischem und englischem Gesang. Im Jahr der Veröffentlichung von Libres y Locos ging es dann auch auf Tournee nach Frankreich und Spanien. Die bekanntesten Hits des Albums „No sabemos amar“ und „Dormir soñando“ sind bereits zu Klassikern avanciert.
Im Jahr 2000 veröffentlichte El Gran Silencio in Mexiko ihr zweites Album Chúntaros Radio Poder, das es seit Sommer diesen Jahres als US-Import auch in Europa zu kaufen gibt. Dies zu tun, lohnt sich auf jeden Fall: Zum einen ist das Album mit 20 Tracks wirklich gut gefüllt, zum anderen ist die Platte – wie El Gran Silencio sagen würde – purer Zunder, !Pura yesca!

El Gran Silencio – Chúntaros Radio Poder, EMI-Music 2001; Libres y Locos, Ark21 1998
www.elgransilencio.net

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