Literatur | Nummer 279/280 - Sept./Okt. 1997

Gerüst in 75 Teilen

Mario Benedetti setzt in “Andamios” (Baugerüste) Facetten eines Lebens nach dem Exil zusammen.

Benedettis neuester Roman ist eigentlich kein Roman, zumindest nicht im klassischen Sinne, ist weder Erzählung noch Erzählungen. Er besteht aus Fragmenten, die ein Ganzes bilden aus ineinander verschraubten Teilen eines Baugerüstes, aufgestellt zur Rekonstruktion der Geschichte eines “Desexils”.

Brigitte Müller

Javier Montes kehrt nach zwölf Jahren politischen Exils in Madrid zurück nach Uruguay. Seine halberwachsene Tochter Camila und seine Frau Raquel – “seit einiger Zeit lief es schon nicht mehr so gut” – bleiben in Spanien, wo die beiden Frauen eine neue Heimat gefunden haben.
Javier läßt sich in der Nähe von Montevideo in einem Häuschen am Strand nieder, der aus Vermarktungsgründen nicht mehr El Arroyán (Myrtenfeld), sondern, ganz im Trend der Zeit, Nueva Beach heißt. Er trifft alte Freundinnen und Freunde wieder, Mittvierziger wie er. Jene, die ebenfalls während der Diktatur Zuflucht im Ausland suchten, und jene, die in den Folterkellern des Militärregimes dahinvegetierten und wie durch ein Wunder überlebten.
Benedetti erzählt die Geschichte eines “Desexils”, die Nachwirkung des Exils, die mit dem Ende der Repression beginnt. Der Protagonist muß keine traumatischen Foltererlebnisse verarbeiten. Auch ist er kein politischer Vollblutaktivist, der sich im Ausland ständig für die Sache seines Landes engagiert hat. Er ist ein Mann, der sich mit seiner Familie während des erzwungenen Auslandsaufenthaltes eine Existenz aufgebaut hat, seine Rückkehr nach Uruguay aber nie in Frage stellte.
Javier kommt nach Montevideo und nimmt Veränderungen wahr, Beobachtungen eines Insiders, der Distanz gewonnen hat. Seine Erinnerungen, durch die Jahre, die Erlebnisse, Ängste und Sehnsüchte gegerbt, treffen auf eine veränderte Stadt. Weder an ihr selbst noch an ihren Bewohnern sind die Jahre spurlos vorübergegangen. Die politischen Aktivisten von damals treffen sich auch heute wieder, doch scheint es, als seien politische Diskussionen nun ein Tabu. Die revolutionären Träume von einst sind gescheitert, und die Wunden, die Folter und Exil geschlagen haben, sind zu frisch, um ein politisches Projekt zu entwerfen oder auch nur zu kommentieren.

Verzicht auf das Plakative

Mario Benedetti unterliegt nicht der Versuchung, in nostalgisches Wehklagen zu verfallen oder einen gesellschaftskritischen Rundumschlag über die aktuelle Situation in Uruguay zu wagen. Seine Beobachtungen sind subtiler, oft nur beiläufige Episoden wie die hinter Ausreden versteckte Schwäche seiner Mutter für Telenovelas, die Avenida, auf der früher Bäume standen, Briefe aus Madrid, die erste Liebe seiner Tochter, von der er nun getrennt ist – Alltagsgeschichten. In seinem Buch geht es nicht um politische Intrigen oder wirtschaftliche Probleme, sondern einzig um die Empfindungen eines Mannes, der nach langer erzwungener Abwesenheit wieder in seiner Heimat zu Hause sein möchte, auch wenn er sich in Spanien wohlgefühlt hat.
Die Veränderung einer Gesellschaft geschieht bei Benedetti nicht klar und plakativ, sondern schwingt in gerade jenen Alltagsgeschichten mit: “Es stimmt, daß die Avenida ohne Bäume ist, (…) daß die Jugendlichen (…) ohne Ziel sind, viele Alte ohne Rente und ganze Familien ohne Wohnung. Aber das alles bestätigt keine radikale Transformation. Die Veränderung, die ich bemerke, hat wenig damit zu tun. Es ist eher eine Störung in der Atmosphäre, eine ethische Intrige, als atme die Stadt eine andere Luft, die Gesellschaft eine andere Art von Energielosigkeit, das Bewußtsein eine andere Verlassenheit, und als habe die Solidarität andere Fesseln. Die Stimme der Ruhe entschlüsselt mehr als die Stimme des Geplärres (…). Die Gesichter der Rückkehr sind nicht nur die Straßen oder Plätze, die Straßenecken oder die Milchstraße, so hoch geschätzt bei Stromausfällen. Da sind auch die Gesichter des Nächsten oder der Nächsten, und es ist dort, wo ich eine gewisse Angst bemerke, ein ganzes Archiv ausgeschlossener Hoffnungen, Resignation und angsterfüllter Augen, die nicht vergessen.”
Die Sprache des Buches ist klar und poetisch zugleich, frei von barocken Pirouetten und oft mit einer gewissen Ironie. Benedetti, unter dessen mehr als fünfzig veröffentlichten Büchern viele Gedichtbände sind, hat auch in “Andamios” Gedichte eingesetzt. Sie sind Aufzeichnungen Javiers, die seine Sinneseindrücke, sein körperliches Bewußtsein ausdrücken. Wer allerdings ein spannendes Buch erwartet, einen Reißer, den man in einer Nacht verschlingen muß, der wird enttäuscht sein. Es hat keine Eile, das “Gerüst” zusammenzubauen. Da gibt es viel Zeit für Frühstücks- und Denkpausen. Am Ende schließlich steht man vor einem soliden Gerüst, auf dem man herumklettern kann und verschiedene Perspektiven des “Desexils” entdeckt, jener Etappe, die mit dem Rückzug der Militärs in die Kasernen beginnt und noch viele Kapitel haben wird.

Mario Benedetti: Andamios. Madrid, Alfaguara 1997

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