Polizeireportage und Bergpredigt
“Rádio Regional”: Volksradio im Nordosten Brasiliens
Diese und ähnliche Meldungen gehen täglich dutzendweise über den Sender von Rádio Regional, der kleinen Radiostation der Diözese Paulo Alfonso im Landesinneren des brasilianischen Bundesstaates Bahia. An den Wochenenden steht das Telefon von Rádio Regional kaum eine Minute still. Das ist die Zeit, in der die in Sâo Paulo hilflos gestrandeten Migranten aus dem Nordosten versuchen, übers Radio Kontakt zu ihren zurückgebliebenen Familienangehörigen aufzunehmen. Da werden dann Bitten um Geldüberweisungen zur Rückkehr in den Nordosten oder die Adressen von irgendwelchen Vettern und Onkeln in Sâo Paulo über den Äther gejagt, die den Gestrandeten weiterhelfen sollen. Irgendwann nach Wochen kann es dann vorkommen, daß zurückgekehrte Migranten plötzlich in der Tür des Sendestudios von Rádio Regional stehen und die ModeratorInnen des Wochenenddienstes überglücklich in ihre Arme schließen. Unter tausend Danksagungen beteuern die Rückkehrer, daß ihnen nur die Durchsage im Radio die Heimkehr aus dem Inferno der Megametropole im Süden Brasiliens ermöglicht habe.
“Für diese auseinandergerissenen Familien ist das Radio ein wichtiges Kommunikationsmittel, da es kaum öffentliche Telefone in der Gegend gibt. In den vier Jahren seiner Existenz ist das Radio zur Anlaufstelle für alle möglichen familiären Angelegenheiten geworden”, erklärt Radioleiter Pedro Paulo.
Rádio Regional ist einer von insgesamt 130 Mittelwellen- und UKW-Sendern, die die katholische Kirche und ihr nahestehende Stiftungen in Brasilien unterhalten. Ihr vorrangiger Auftrag ist die Verbreitung des Evangeliums vor dem Hintergrund der sozialen, politischen und ökonomischen Realität Brasiliens. Damit hören aber auch schon die Gemeinsamkeiten der katholischen Radiostationen auf. Denn die Interpretation dieses Auftrages bleibt in dem Riesenland den mehr oder weniger konservativen Bischöfen der einzelnen Diözesen bzw. den von ihnen berufenen Radiodirektoren überlassen. Zwar bemüht sich die UNDA, das nationale Kommunikationsgremium der brasilianischen Bischofskonferenz, eifrig um eine einheitliche ideologische Linie ihrer Kommunikationsmedien. Doch wie die Radiosendungen vor Ort gestaltet werden, entzieht sich weitgehend ihrer Kontrolle. So sind denn auch die Programme der 130 katholischen Sender von sehr unterschiedlicher Couleur. Die meisten haben sich inhaltlich der seichten Welle der kommerziellen Medien angepaßt. Sie versuchen, sich mit populärer Musik und viel Werbung finanziell über Wasser zu halten. Ihre Wortbeiträge beschränken sich gewöhnlich auf das tägliche “Ave Maria”, besinnliche Worte des örtlichen Geistlichen und die Live-Übertragung der Sonntagsmesse. Komplettiert wird diese journalistische Glanzleistung allenfalls noch durch hastig heruntergeratterte Kurznachrichten. Deren Informationswert ist jedoch gleich Null, da es sich meist um abermals gekürzte Versionen ohnehin schon kurzer Zeitungsmeldungen handelt.
Vom aufrechten Katholiken
zum Medienstrategen
Als Zugeständnis an den Massengeschmack und wegen der ständig schrumpfenden Zuschüsse aus den bischöflichen Geldtöpfen sind einige der katholischen Radiostationen inzwischen dazu übergegangen, die bei der brasilianischen Bevölkerung so beliebten Polizeireportagen zu senden. Diese sensationslüsternen Gruselstories von lokalen Raubüberfällen und Gewalttaten aller Art gelten in Brasiliens Medienlandschaft als wahre Publikumsrenner und somit als Garant für steigende Werbeeinnahmen. Im unerbittlichen Konkurrenzkampf mit den kommerziellen Privatradios hat sich schon so manch aufrechter Katholik und Radiodirektor zum knallhart kalkulierenden Medienstrategen wandeln müssen und zugunsten einer sehr großzügigen Interpretation des kirchlichen Sendeauftrags entschieden. Kann doch eine einmalige Verbeugung vor dem Diktat des blutrünstigen Massengeschmacks unter Umständen etliche Sendungen der Bergpredigt finanziell absichern. Unter dem Druck ökonomischer Zwänge und des klerikalen Konservativismus schaffen es nur wenige Radiostationen der katholischen Kirche, den von der UNDA ursprünglich durchaus fortschrittlich gemeinten Auftrag, eine christliche und sozialkritische Alternative zu den kommerziellen Massenmedien Brasiliens zu sein, in ihren Programmen umzusetzen. Einer der Sender, die dies ernsthaft versuchen, ist Rádio Regional von Cícero Dantas.
In der Isolation des bahianischen Sertâo, in der das Leben einem ewig gleichen Rhythmus folgt, sich Gespräche um die immer gleichen Probleme wie anhaltende Dürre und Wassermangel, vertrocknete Bohnenernten und ungerechte Landverteilung drehen, hat das gesprochene Wort noch eine besondere Bedeutung. In einigen der abgelegenen Weiler des Sertâo, wo die Armut den Kauf des sonst allgegenwärtigen Fernsehgeräts nicht zuläßt und das defizitäre Bildungssystem eine Analphabetenrate von fast 40 Prozent produziert, bleibt nach Einbruch der Dunkelheit oft nichts anderes als sich endlose Geschichten zu erzählen. Da werden dann die Geburten und Todesfälle in den weitverzweigten Familien durchgehechelt, über den letzten Besuch des Landpfarrers oder sonstige Neuigkeiten aus der Nachbarschaft berichtet, oder – wenn dies alles schon tausendmal erzählt worden ist – einfach schweigend gewartet, bis es Zeit zum Schlafengehen ist. Neuigkeiten, zumal wenn sie über Dutzende von Kilometern aus der Bezirkshauptstadt kommen, haben hier noch einen ganz besonderen Stellenwert. So ist denn auch das “Jornal da Regional”, die tägliche halbstündige Nachrichtensendung von Rádio Regional, für die Landbevölkerung der Region zu einer einflußreichen Instanz in ihrem Alltag geworden. Was das Jornal an lokalen und regionalen Nachrichten verbreitet, wird in den isolierten Dorfgemeinden unbesehen geglaubt und eifrigst kommentiert. Noch immer erregt es Aufsehen, wenn die Radioreporter mit ihrem Reportagewagen durch die Gegend fahren und fürs Jornal da Regional Interviews aufnehmen, um den Gründen für Trinkwasserverseuchung, Viehsterben, unhaltbare Zustände in Schul- und Gesundheitswesen auf die Spur zu kommen, oder über undurchsichtige Winkelzüge irgendwelcher Lokalpolitiker berichten. Und wenn die BewohnerInnen der betroffenen Gemeinden am nächsten Tag gar ihre eigene Stimme im Radio hören, sind die Alltagssorgen wenigstens für einige Minuten vergessen.
Der erste Schritt zu
neuem Selbstbewußtsein
“Für die Leute hier im Nordosten ist es unglaublich wichtig, ihre Stimme im Radio zu hören. Solange sie sich erinnern können, werden sie von Großgrundbesitzern ausgebeutet, von Politikern in Wahlzeiten als billiges Stimmvieh benutzt und ansonsten mit Armut und Hunger allein gelassen. Jetzt hört ihnen endlich mal jemand zu und gibt ihren Sorgen und Problemen eine öffentliche Stimme. Endlich können sie von sich und ihren Festen erzählen und ihre eigene Musik hören, und das ist schon der erste Schritt zu einem neuen Selbstbewußtsein”, so Pedro Paulo zur Bedeutung des Radios.
Der kleine Sender gibt sich in der Tat sehr volksnah. Die Eingangstür steht den ganzen Tag lang offen. Wer immer eine Anzeige aufgeben oder eine Veranstaltung ankündigen möchte, wer Informationen über Impfkampagnen, anstehende Volksfeste, Streiks oder andere wichtige Ereignisse weitergeben oder erfragen will, oder einfach nur auf ein Schwätzchen vorbeischaut, der findet im Rádio Regional offene Ohren.
An den Montagen, wenn der Wochenmarkt von Cícero Dantas die BewohnerInnen aus den umliegenden Gemeinden anlockt und überall Menschen durch die sonst stillen Gassen der verschlafenen 15.000-Einwohner-Stadt wuseln, übt das Radio eine magnetische Anziehungskraft aus. Dann drücken sich Kinder und Erwachsene dutzendweise die Nasen an der großen Glasscheibe des Sendestudios platt. Das ist die Gelegenheit, endlich einmal die Lieblingsmoderatorin oder den Nachrichtensprecher, von denen sie häufig nur die Stimmen kennen, live in Aktion zu erleben. Auch für das Radioteam ist der Montag immer besonders hektisch. Denn dann heißt es: raus auf den Marktplatz mit Mikrofon, Aufnahmegerät und transportablem Mischpult, um die neuesten Nachrichten über Preissteigerungen, Ernte- und Vermarktungsprobleme und was es sonst noch Wichtiges aus dem bäuerlichen Alltag zu berichten gibt, direkt aus dem Marktgeschehen zu übertragen.
Neben dieser allwöchentlichen Attraktion lebt das Wortprogramm von Rádio Regional hauptsächlich von kurzen, in den “Musikteppich” eingeschobenen Beiträgen, deren Themen sich um Gesundheitsvorsorge und Erziehungsfragen, um die Zubereitung von Hausmitteln aus heimischen Kräutern oder um Tips für pestizidfreien Gemüseanbau drehen. Einmal pro Woche berichten Mitglieder der Landarbeitergewerkschaften aus der Region über Fortschritte und Rückschläge im Kampf um bessere Lebensbedingungen für die Bauernfamilien und nutzen die Infrastruktur des Radios zur Mobilisierung ihrer Mitglieder. Allerdings müssen auch die Gewerkschafter – wie alle anderen Normalsterblichen aus der Region – für die Benutzung von Fax, Telefon oder Kopiergerät einen kleinen Kostenbeitrag entrichten. Die Zeiten, in denen die “Rádios Populares” – die Volksradios – linken Gewerkschaften und Volksorganisationen als kostenlose ideologische Sprachrohre dienten, sind für den Befreiungstheologen Pedro Paulo vorbei.
Das Konzept von Rádio Regional, das in Zusammenarbeit mit dem lateinamerikanischen Radionetzwerk ALER entwickelt wurde, entspricht wohl am ehesten einem volksnah arbeitenden Dienstleistungsbetrieb. “Wir machen Radio für und mit der gesamten Bevölkerung, und damit meine ich vor allem die breite Masse der verarmten Landbevölkerung und nicht nur die organisierten Gruppen des ‘Movimento Popular’. Unser Hauptanliegen ist die Stärkung der Volkskultur.” Das ist auch der Grund, warum ein Großteil des Musikprogramms von Forró und Sertanejo-Musik, der Volksmusik des brasilianischen Nordosten, bestritten wird. Lokale Musikgruppen und Volksdichter geben sich die Türklinke des Aufnahmestudios in die Hand, um die Rhythmen von Sanfona (Ziehharmonika), Sabumba (Blechtrommel) und Gitarre live ins Programm einzuspielen oder selbstverfaßte Gedichte darzubieten.
Wettbewerbe, in denen die HörerInnen eigene Geschichten und Lieder zum Besten geben, gehören ebenso zum Programm wie die Lieder der repentistas, Stegreifmusikern, die in ihren Spontankompositionen von alltäglichen Ereignissen aus dem Leben der Menschen im Nordosten bis hin zur Weltpolitik alles kommentieren, was für ihr Publikum interessant sein könnte.
Keiner aus dem neunköpfigen Team von Radio Regional hat jemals eine reguläre Ausbildung in Tontechnik, Werbeakquisition oder Radiojournalismus absolviert. Wie üblich in den Radios Populares haben auch die jungen MitarbeiterInnen von Rádio Regional ihr Handwerk irgendwo und irgendwann in der Praxis erlernen müssen. Sie wurden einfach ins kalte Wasser der Sendepraxis geschmissen und mußten von einem auf den anderen Tag die Regler im Sendestudio bedienen und auch noch selbst moderieren. Viel Zeit für inhaltliche Diskussionen hat es nie gegeben. Daß deshalb nicht jedes gesendete Wort auf die Goldwaage gelegt werden darf, versteht sich von selbst. So kann es schon mal vorkommen, daß dem Nachrichtenredakteur, der die wöchentliche Debattensendung zu aktuellen Themen der Lokalpolitik moderiert, die Diskussion mangels journalistischem Know How und “ideologischer” Klarheit entgleitet und die falsche Seite, beispielsweise ein Vertreter der Volksbewegungen, in die Pfanne gehauen wird. Derlei Ausrutscher sind allerdings selten und werden in der nächsten Sendung mit Gegendarstellungen wieder korrigiert. “Niemand ist perfekt”, meint der Radioleiter lakonisch. “Es hat vier Jahre harte Arbeit gebraucht, bis aus neun jungen Leuten ohne jegliche Radioerfahrung und teilweise nur mäßiger Schulbildung ein eigenverantwortlich arbeitendes Radioteam wurde, das sich nicht mehr von jedem halbwegs sprachgewandten Lokalpolitiker einschüchtern läßt.”