Tod am Fluss
Der Tod eines Jungen macht die Umweltverschmutzung im Staat Jalisco deutlich
Ein dichter weißer Schaumteppich bedeckt das Wasser des Flusses Santiago, der sich einer Skipiste ähnelnd an der Peripherie Guadalajaras entlang schlängelt. An manchen Tagen weht der Wind dicke Flocken in die nahe gelegenen Siedlungen. Früher galt der Santiago an jener Stelle zwischen El Salto und Juanacatlán als beliebter Touristenort – bekannt als die „Niagarafälle Mexikos“. Am 13. Februar 2008 waren die BürgerInnen Guadalajaras, der zweitgrößten Stadt Mexikos, in Aufruhr geraten, da der achtjährige Miguel Ángel López Rocha nach fast dreiwöchigem Koma an den Folgen einer Arsenvergiftung starb. Ursache war wahrscheinlich das hochgradig verschmutzte Wasser des Río Santiago, der die östlichen und südöstlichen Ränder der Stadt passiert. Das Haus seiner Familie liegt nur wenige Blocks vom Fluss entfernt. Vermutlich war er beim Spielen am 26. Januar mit dem trüben Flusswasser in Berührung gekommen und hatte etwas davon geschluckt, wie die Mutter des Kindes bekannt gab. Nach mehreren Stunden Erbrechen, Durchfall, Halluzinationen und Bewusstseinsstörungen fiel Miguel Ángel am Folgetag im örtlichen Krankenhaus ins Koma. Kurz vor seinem Tod stellten die ÄrztInnen einen Anteil von 51 Mikrogramm Arsen in Urinproben des Kindes fest, was er bis zu zehnmal über dem Normalwert lag.
Auch wenn der Gouverneur Jaliscos, Emilio González Márquez, ebenso wie die zuständigen Behörden, vehement einen Zusammenhang zwischen der Verschmutzung des Flusses und Miguel Ángels tödlicher Vergiftung herunterspielten oder gar dementierten, schien die Ursache für viele klar. Seit nunmehr fünf Jahren weisen die BewohnerInnen der südöstlich von Guadalajara gelegenen Gemeinden Juanacatlán und El Salto die lokale Regierung auf gesundheitliche Schädigungen an der Bevölkerung in Folge der hochgradigen Verschmutzung des Flusses hin. Der Río Santiago gilt als eines der am stärksten kontaminierten Gewässer Mexikos und gefährdet die Gesundheit von insgesamt 120.000 Menschen, die in der Nähe des Flusses wohnen. ÄrztInnen vor Ort sowie das Lateinamerikanische Wassertribunal bestätigten ein erhöhtes Auftreten von Atemwegs- und Hauterkrankungen, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schlaflosigkeit bei der Bevölkerung. Im Jahr 2005 waren Atemwegserkrankungen und verschiedene Krebsarten die Haupttodesursache in den beiden Gemeinden. Auch der Expertin und Gründerin des Toxikologischen Instituts in Jalisco, Luz María Cueto Sánchez, zufolge, ließe das Krankheitsbild des Jungen auf eine orale Einnahme von Arsen schließen. Das Gift werde heute vor allem in der verarbeitenden Industrie, zum Beispiel in Gerbereien und in der Glas- und Metallverarbeitung, verwendet.
Tatsächlich beginnt ganz in der Nähe der betroffenen Gemeinden einer der wichtigsten Industriekorridore Jaliscos und Mexikos. Die knapp 300 Unternehmen des Industrieparks in Guadalajara aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie, der Lebensmittel- und Getränkeherstellung sowie der metallverarbeitenden und Elektroindustrie, darunter bekannte Namen wie IBM Mexico, Nestlé und Ciba, leiten ihre Abwässer – so wird vermutet – größtenteils ungereinigt in den Fluss. Sie vermischen sich dort mit den Abwässern der Fünf-Millionen-Metropole, die über den Ahogado-Kanal ungeklärt in den Fluss eingeleitet werden. Die Verschmutzung des Flusses hat die Einnahmequelle aus dem einst landwirtschaftlichen Zentrum und damit die Nahrungsgrundlagen der BewohnerInnen der an den Fluss angrenzenden Dörfer teilweise bis vollständig zerstört. Vereinzelte Studien haben eine Verschmutzung des Wassers mit diversen Schwermetallen, darunter Chrom, Blei, Kobalt, Quecksilber und Arsen festgestellt. Um jedoch einen konkreten Zusammenhang zwischen dem hochgradig verschmutzten Flusswasser und den Erkrankungen der BewohnerInnen sowie Miguel Ángels tödlicher Vergiftung nachzuweisen, fehlt es bislang an Langzeitstudien.
Der Río Santiago ist eines der am stärksten kontaminierten Gewässer Mexikos.
Und politischem Willen. Zwar bezeichnete die Wasserkommission Jaliscos CEA (Comisión Estatal del Agua; erst vor kurzem strich man das S für Saneamiento (Abwassersanierung) aus dem Namen) das Wasser des Santiago noch im Jahr 2003 als übermäßig verschmutzt und ungeeignet zur Trinkwasserversorgung. Nichtsdestotrotz hält diese gemeinsam mit der konservativen PAN-Regierung Jaliscos am Bau des umstrittenen Arcediano-Staudamms fest. Geplant ist das Flusswasser zunächst zu reinigen und anschließend zu stauen, um die Stadt mit Trinkwasser zu versorgen (siehe LN 399/400). So bestätigt die nationale Wasserkommission Conagua in einem Antwortschreiben auf eine Briefaktion der Nichtregierungsorganisation FIAN, diverse Aktivitäten hinsichtlich der Kontrolle und Reinigung der Abwässer geplant und begonnen zu haben. Anlässlich des Todes von Miguel Ángel stellte jedoch die Menschenrechtskommission Jaliscos fest, dass bisher keine der involvierten Behörden eine adäquate Antwort darauf gegeben hätte, wie das schwerwiegende Verschmutzungsproblem zu lösen wäre. Auch lokale Nichtregierungsorganisationen kritisierten in einem Maßnahmenkatalog Anfang März, das von CEA geplante Programm zur Abwasserreinigung sei unzureichend und berücksichtige lediglich Schmutzwasser der Stadt und einiger weniger Industrien. Sie verlangten neben der vollständigen Überwachung der Abwassereinleitung und Sanktionen für Unternehmen, die gegen die derzeitige Norm verstoßen, auch eine Novellierung bisheriger Umweltgesetze, die bis dato nicht alle kontaminierenden Stoffe berücksichtigen. Im Zusammenhang mit dem geplanten Arcediano-Staudamm forderte ein Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Organisationen mit dem in Guadalajara ansässigen Mexikanischen Institut für Gemeindeentwicklung (IMDEC) auf lokaler, regionaler nationaler und internationaler Ebene den sofortigen Baustopp des Projekts. Der Bau hat jedoch längst begonnen, während die Regierung verlautbaren ließ, noch in diesem Jahr mit dem ursprünglich für 2006 vorgesehenen Bau einer Kläranlage zu beginnen. Auch hat das Gesundheitsministerium Jaliscos nach mehreren Wochen Verzögerung begonnen, Urinproben von Kindern und nicht erwerbstätigen Müttern zu nehmen, um sie auf Schwermetalle zu prüfen. Dies ist zwar ein wichtiger Schritt, um gesundheitliche Folgen der Umweltverschmutzung der BewohnerInnen El Saltos und Juanacatláns zu untersuchen, allerdings unterliegt diese Untersuchung keiner unabhängigen Überprüfung, so dass über die Qualität der Ergebnisse keine Aussagen getroffen werden können. KritikerInnen des Staudammprojektes gehen davon aus, dass eine Manipulation der Ergebnisse auch dazu führen könne, gesundheitliche Risiken auszuschließen und damit schlussendlich den Bau des Staudamms zu legitimieren.
Immerhin hat die Kontamination des Santiago nun auch auf nationaler Ebene Aufmerksamkeit erregt. Eine Delegation von SenatorInnen bemerkte nach einem Besuch in den betroffenen Gemeinden Anfang März das Ausmaß der Verschmutzung und die Gefährdung der Bevölkerung und bemängelte die Versäumnisse der zuständigen Behörden. Vorgesehen ist nun eine Kommission der beiden Kongresskammern aufzustellen, um die Problematik der Flusskontamination durch die Industrie zu untersuchen.
Somit hat der tragische Tod des kleinen Miguel Ángel auch Prozesse angestoßen, die neue Hoffnungen wecken oder, wie man in Mexiko sagen würde, „no hay mal que por bien no venga“– es gibt kein Übel, das nicht auch zu etwas Gutem taugt. Den Kindern in Juanacatlán und El Salto, die noch immer den Gasen des Río Santiago ausgeliefert sind und den Müttern leukämiekranker Säuglinge wünscht man es. Ebenso all den neuen BewohnerInnen der Siedlung. Und zumindest das Immobiliengeschäft am Fluss floriert.