Argentinien | Nummer 387/388 - Sept./Okt. 2006

„Wir fordern die Transformation Argentiniens“

Zur Situation der indigenen Bewegungen

Die Indigenen-Aktivistin Natalia Sarapura spricht über Indigene in Argentinien: die Geschichte ihrer Politisierung, ihre Position in Politik und Gesellschaft und Schlüsselbegriffe der Bewegung. Die Arbeit in den Städten sieht sie dabei als die größte und wichtigste Herausforderung der indigenen Organisationen.

Börries Nehe

Dem nationalen Mythos nach ist Argentinien ein „europäisches“ Land, bevölkert von Nachkommen der EinwanderInnen. Wie äußert sich in diesem Klima Diskriminierung gegenüber der indigenen Bevölkerung?

Ich glaube es ist eine systematische Diskriminierung – sie exisitiert und ist Teil des alltäglichen Lebens aller. Aber es ist schon wahr, dass sich einiges geändert hat. Die pueblos indígenas, die „indigenen Völker“, stellen heute nicht mehr nur billige Arbeitskräfte dar. Die Mädchen haben jetzt andere Zukunftsaussichten als bloß Hausangestellte zu werden. Wir sind inzwischen Protagonisten im sozialen Leben in jenen Regionen mit hohem Bevölkerungsanteil an indigener Bevölkerung, und das ist ein großer Fortschritt.
Ich glaube trotzdem, dass wir bei der Betrachtung der staatlichen Politik von systematischer Diskriminierung sprechen können: die argentinische Politik weigert sich die kulturelle Vielfalt anzuerkennen; traditionelles Wissen, wie beispielsweise im medizinischen Bereich, wird nicht anerkannt. Es gibt keine interkulturelle bilinguale Erziehung, der indigenen Bevölkerung wird das Recht, in ihrer Muttersprache zu lernen, abgesprochen.

In Lateinamerika und auch international scheinen ethnische Identifikationen seit geraumer Zeit Hochkonjunktur zu haben. Warum ist die indigene Bewegung in Argentinien verglichen mit anderen Ländern Lateinamerikas, so spät auf den Plan getreten?

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen ist die Art der Auseinandersetzung mit der indigenen Bevölkerung in Argentinien anders als beispielsweise in Bolivien oder Peru. Dort gab es zwar immer Bestrebungen, die indigenen pueblos zu vernichten, man hat jedoch nie ihre Existenz bestritten. In Argentinien war der Genozid an den Indigenen nicht bloß kultureller Art, sondern ein Genozid im wörtlichen Sinne. Bestes Beispiel dafür ist die sogenannte Wüstenkampagne, die campaña del desierto, gegen die Mapuche. Man hat sie bekämpft und gleichzeitig ihre Existenz geleugnet.
Zum anderen wurde die indigene Bevölkerung sehr rasch und nachhaltig kulturell assimiliert. Das wichtigste Instrument war hierbei natürlich die Bildung. Dieser Verlust der kulturellen Werte hat dazu beigetragen, dass die indigene Bevölkerung Argentiniens erst spät begann, ihre historischen Rechte einzuklagen. Hinzu kommt natürlich, dass wir keine Mehrheit ausmachen – es gibt etwa 2 Millionen Indígenas und 24 pueblos (von etwa 39 Millionen ArgentinierInnen, Anm. der Redaktion).
In Argentinien ist die indigene Bewegung schon vor Anbruch der 70er Jahre entstanden, aber sie wurde in den großen Städten geboren, in Córdoba, Buenos Aires oder Rosario, und nicht dort, wo größere Teile der Bevölkerung Indigene sind. In den Städten sehen die Migranten sich der Diskriminierung ausgesetzt, sie bekommen zu spüren, dass sie anders, nicht „gleich“ sind. Und einige begeben sich auf die Suche nach ihren Wurzeln. Die Bewegung entsprang also Forderungen kultureller Art, die dann in die Provinzen getragen wurden. Hieraus entwickelte sich ein politischer Prozess.

Du sprichst damit die Rolle der urbanen Zentren an. Wie funktioniert denn die Identifikation als indígena in der Stadt?

Das hat viel mit unserem Verständnis der Welt zu tun. Jeder indígena, egal, wo er ist, hat ein bestimmtes Verhältnis zur Natur, zur Pachamama. Er weiß, dass er die Möglichkeit hat, auf sein Land, seine tierra zurückzukehren. Die Indigenen zeichnen sich durch ihre Lebensform aus, und dazu gehört auch das Prinzip der indigenen Reziprozität, der Respekt vor Älteren. Ich denke, ein Kolla (indigene Gruppe aus dem Nordosten Argentiniens, dem Norden Chiles und dem Süden Boliviens. Anm. der Redaktion) der lügt, egoistisch handelt und intrigiert, ist kein Kolla mehr . Das ist eine Person, die ihre Identität verloren hat. In der Stadt ist man indígena, wenn man sich trotz der räumlichen Entfernung und dank der Bindung an die Pachamama kulturell auszudrücken vermag. Ein fundamentales Element ist zum Beispiel, die Muttersprache an die Kinder weiter zu geben.
Natürlich ist es Besorgnis erregend, dass viele städtische Indigene, die auf tierra indígena geboren wurden, sich nicht als Indigene sehen. Wir wollen in nächster Zeit verstärkt an einer Organisation der urbanen Indigenen arbeiten, aber immer mit denen, die sich auch als indígenas identifizieren. Wir können daran arbeiten, dass ihre Identifikation noch stärker gefestigt wird. Ich glaube, die Zukunft der pueblos indígenas entscheidet sich an der Frage der urbanen Indigenen. Diesem Thema müssen wir uns als Organisation und auch als pueblo verschreiben.

War der indigene Diskurs von vornherein an die Gemeinsamkeiten der indigenen Bewegungen gerichtet, oder sind die einzelnen pueblos erst in der Bewegung zusammengewachsen?

Die Arbeit in den Provinzen war lokal sehr begrenzt. „Wir, die Kollas“, „wir, die Guaraníes“ etc. – nach wie vor stehen wir vor der Herausforderung, eine nationale Einheit zu bilden, was wir über die Organisation der indigenen Völker Argentiniens (ONPIA) versuchen. In Wahrheit befinden wir uns in einer Phase der eigenen Stärkung, wir bauen die indigenen Nationen wieder auf.
Es ist nicht unwichtig, dass der Prozess mit den Bestrebungen nach Wiederaneignung unserer Kultur begann und sich erst Anfang der 90er zu einem gemeinsamen, reell politischen Prozess entwickelt hat. Ich betone das Politische deswegen, weil man in Argentinien weiterhin meint, wir beschränkten uns darauf, unser Recht auf Land und Bildung einzufordern. Aber wir fordern die Transformation Argentiniens in einen multikulturellen Staat. Wir fordern, dass dieser homogene Staat juristische Diversität akzeptiert, dass er die Interkulturalität als Prinzip der Gesellschaft anerkennt. In Argentinien sieht man uns zwar nicht mehr als Museumsstücke, wie man es lange getan hat – aber man sieht uns auch nicht als politische Subjekte, sondern beschränkt sich auf den kulturellen Aspekt. Aber was wir fordern sind Modelle: Lebensmodelle, Modelle politischer Organisation, Modelle von Arten, die Welt zu sehen.

Wie gestaltet sich denn die lokale Arbeit, von der du sprachst? Welche Grenzen und welche Verbindungen bestehen?

Die indigenen Nationen befinden sich im Prozess der Restrukturierung. Wir, die Kollas aus Jujuy, versuchen, die Provinzgrenzen zu überspringen und uns mit den Kollas aus der Nachbarprovinz Salta zu vereinigen. Die Guaraníes der Provinz Jujuy arbeiten eng mit den Guaraníes der Provinzen Misiones und Salta zusammen – es geht also gerade darum, die Provinzgrenzen zu überschreiten.
Auf nationaler Ebene ist der Prozess noch nicht sehr homogen. Im Norden haben wir starke Organisationen, starke Führungspersönlichkeiten und können effizient unsere Rechte als pueblos einfordern. Im Süden ist die indigene Bevölkerung dank der Präsenz der Mapuche ebenfalls sehr politisiert. Im Nordosten jedoch, wo es ebenfalls viele Indigene gibt, stockt der Organisationsprozess. Wir versuchen also gerade, die Bewegung im ganzen Land auf den gleichen Stand zu bringen, um so Veränderungen auf höherem Niveau erreichen zu können.

Eine der wichtigsten Forderungen der indigenen Bewegungen Lateinamerikas ist die nach einem multikulturellen oder „multiethnischen“ Staat. Hat sich in dieser Hinsicht unter der Regierung Kirchner etwas geändert?

In Argentinien ist, was die Durchsetzung der Menschenrechte angeht, viel erreicht worden. Das hat natürlich unsere Erwartungen wachsen lassen. Den internationalen Anforderungen der indigenen Rechte wird der argentinische Staat jedoch nicht gerecht.
Im Juni hat der Rat für Menschenrechte der UN, nach 20 Jahren Debatte, die Universelle Deklaration der Rechte der indigenen Völker verabschiedet. Die argentinische Regierung hat sich in der Abstimmung der Stimme enthalten. Eine Regierung, die sich nach innen für die Durchsetzung der Menschenrechte einsetzt und die Neuverhandlungen der Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktatur ermöglicht, diese Regierung enthält sich international bei der Abstimmung über diese Deklaration, die ein großer Wunsch und großes Ziel der indigenen Bewegung war und ist. Ich sehe das Problem darin, dass die Regierung sich mit den indigenen Völkern nicht verständigt.

Pueblos, Autonomía, Territorio – „Völker, Autonomie und Land“, das sind drei Schlüsselbegriffe der indigenen Bewegung. Wie sind sie zu verstehen?

Was das Konzept der pueblos betrifft geht es zunächst um die Anerkennung unserer politischen Organisationsformen als gleichberechtigt gegenüber dem Staat. Außerdem muss von seiner Seite anerkannt werden, dass wir schon vor ihm da waren.
Die Anerkennung des Konzeptes der pueblos ist in Argentinien sehr umstritten. Das hat damit zu tun, dass wir nicht einfach eine Gruppe von Leuten sind, die sich zusammensetzen und sagen: wir sind Kollas. Wir sind Teil eines historischen Prozesses, der eine mehr als 10.000 Jahre alte Geschichte vorzuweisen hat. Und wir haben eine politische Vision.
Das Prinzip der pueblos ist untrennbar vom Prinzip des territorio. Als pueblo haben wir eine Geschichte in einem bestimmten Raum, der viel mehr ist als bloß der physische Raum oder der Boden. Es bedeutet auch die Souveränität über die Bodenschätze, ein wichtiges Thema in der Auseinandersetzung mit dem Staat.
Mit autonomía fordern wir das Recht ein, frei über das zu bestimmen, was wir tun wollen und wie wir uns darstellen möchten. Insofern ist unser Kampf weder ein rein kultureller, noch einfach ein Kampf um Eigentumsanspruch auf Ländereien. Es ist ein politischer Kampf, für politische Veränderung. Dem argentinischen Staat zu sagen, „Ich, die Nation der Kolla, bin dir gleich, ich will mit dir auf Augenhöhe in Dialog treten“, wirkt auf einen Argentinier, der sich nicht für indigen erachtet, wahrscheinlich belustigend. Aber für uns ist das der Weg, den wir gehen.

Der bolivianische Präsident Evo Morales wird international, besonders von den indigenen Bewegungen, als „erster indigener Präsident Lateinamerikas“ gefeiert. Hat denn die Indigenität Morales politische Konsequenzen?

Evos Regierung muss große Herausforderungen bewältigen. Sie muss die Frage beantworten, wie man Macht aus indigener Perspektive begreift und ausübt. Was wir „Entwicklung mit Identität“ nennen, muss Evo jetzt verwirklichen. Es ist an ihm zu zeigen, dass ein multikultureller Staat möglich ist. Alle, die wir den Kampf Evos kennen wissen, dass es ein Kampf für die Ärmsten ist. Das ist es, was uns am Herzen liegt. Es liegt in der Verantwortung aller Indigenen Amerikas, die Regierung von Evo zu unterstützen. Für uns ist dies die Möglichkeit zu zeigen, dass der multikulturelle Staat machbar ist, dass man Macht ausüben kann, auch indem man unsere Weltsicht respektiert und akzeptiert. Und dass man über den Staat Wege eröffnen kann, um die historische Schuld zu begleichen, die die Staaten den indigenen Völkern gegenüber haben.

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