DEM HORROR IN DIE AUGEN SEHEN

Foto: Berlinale

Eines sei vorweg gestellt: Wer „La libertad del diablo“ bis zum Ende sehen will, der muss hart gesotten sein. Fiktionale Darstellungen der Drogenmafia haben seit Jahren Hochkonjunktur, sind aber meist verpackt in einen unterhaltsamen Kinoabend mit Comic-Gemetzel im Stile eines Quentin Tarantino oder höchstens in kurzfristiges Befindlichkeits-Jojo á la Breaking Bad. Und man vergisst dabei schnell, dass diese Geschichten ihren Ursprung in der Realität haben. An Zahlen alleine lässt sie sich nur schwer ermessen. 20 000 Tote durch den Drogenkrieg alleine jedes Jahr in Mexiko sind zu viel, um das Ausmaß des Horrors verarbeiten zu können. Die beeindruckende Dokumentation „La libertad del diablo“ zeigt deswegen nur einen kleinen, aber genau deshalb so intensiven und schockierenden Ausschnitt davon – hart, grausam und gnadenlos. auch wenn man die Bilder dazu nur im Kopf des Betrachters ablaufen. Denn der Film besteht fast ausschnittlich aus Interviews, die aber so außergewöhnlich sind, dass man den Blick nicht eine Sekunde von der Leinwand wenden kann. Zu Wort kommen Beteiligte von allen Seiten des Drogenkrieges: Menschen, die entführt und gefoltert wurden. Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Polizisten, die offen Selbstjustiz und Machtmissbrauch eingestehen. Und Auftragskiller, die ihre grausamen Morde in allen Einzelheiten nacherzählen. Das besondere: Die Identität aller Personen bleibt zwar natürlich verborgen, jedoch nur unter einer Strumpfmaske. Die Augen sind immer sichtbar, auch die Stimmen wurden von Regisseur Everardo González nicht verzerrt. Das macht die Interviews manchmal zutiefst erschütternd, manchmal unheimlich, manchmal geradezu abstoßend. Es macht Angst, wenn ein Auftragskiller voll Stolz und ohne Reue von seinem ersten kaltblütigen Mord erzählt, dem Adrenalin, das er spürte, den Glückwünschen seiner Gang. Es macht wütend, die Erzählung einer Mutter zu hören, die nach langer Suche bei einer Ausgrabung auf die Turnschuhe ihrer toten Kinder stieß und von der Polizei von deren Leichen weggedrängt wurde. Es widert an, wenn fast alle Mörder und Folterer – Polizisten wie Mafiakiller – ihre Verbrechen damit rechtfertigen, sie würden nur „Befehle von oben befolgen“. Und fast nicht zu ertragen ist es, wenn ein anderer Massenmörder berichtet, wie er einen Schuldner nicht zu Hause antraf und deshalb seine komplette Familie, inklusive seiner kleinen Kinder, erschoss. Gerne würde man wissen, wie Everardo González all diese Menschen dazu brachte, ihre Geschichte vor einer Kamera zu erzählen und auf seine präzisen, schonungslosen Fragen ihre Geheimnisse preiszugeben. Ein Mann spricht zum ersten Mal in seinem Leben über seine Entführung und Folter durch die Polizei. Ein Polizist erklärt offen, dass man Selbstjustiz verüben müsse und sich nicht an Gesetze halten könne, wenn man den Krieg gewinnen wolle. Und als schließlich die Frage auf die gerechte Bestrafung für das Morden kommt, erklären zwei Kinder, deren Mutter verschwand, dass sie ihre Entführer*innen genau so leiden sehen möchten, wie diese ihre Opfer leiden ließen. Dieser Film ist beängstigend und schockierend, weil er zeigt, wie tief sich die Spirale aus Gewalt, Wut und Vergeltung in den Alltag der Menschen, die mit dem Drogenkrieg leben müssen, eingefressen hat. Und er ist wichtig, weil er ins Bewusstsein ruft, dass dieser Krieg in Mexiko nicht nur in Spielfilmen und Serien existiert, sondern Tag für Tag die Realität von Millionen Menschen definiert.

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