Milei will dem „Nie wieder“ ein Ende setzen

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Rodolfo Walsh, einer der bedeutendsten Journalisten Argentiniens, der 1976 von der letzten zivil-militärischen Diktatur des Landes entführt und verschleppt wurde, schrieb einst: „Unsere herrschenden Klassen haben immer darauf hingearbeitet, dass die Arbeiter keine Geschichte, keine Doktrin, keine Helden oder Märtyrer haben. Jeder Kampf muss von Neuem beginnen, losgelöst von den vorherigen Kämpfen. Die kollektive Erfahrung geht verloren, die Lektionen werden vergessen.“ Milei entpuppt sich als Musterschüler dieser Maxime. In den letzten Tagen des Jahres 2024 und den ersten Tagen des neuen Jahres startete die Regierung einen erbitterten Angriff auf die Politik, die Institutionen und die Mitarbeiter*innen im Bereich der Menschenrechte.

Genauer gesagt begann der Angriff der libertären Regierung auf das Feld bereits vor ihrem Amtsantritt. Während seines Wahlkampfs leugnete der jetzige Präsident, dass die Zahl der während der Diktatur inhaftierten und verschwundenen Personen 30.000 betrage. Zudem ernannte er Victoria Villarruel, eine Politikerin mit Verbindungen zur Militärfamilie und einer geschichtsrevisionistischen Haltung zu seiner Vizepräsidentin. In den letzten Dezembertagen ging die Regierung jedoch noch weiter: Sie entließ hunderte Beschäftigte verschiedener Erinnerungs- und Gedenkstätten sowie der Menschenrechtssekretariate, die dem Justizministerium unterstehen.

Die Regierung kündigte außerdem an, das Centro Cultural de la Memoria Haroldo Conti zu schließen, ein Kultur- und Bildungszentrum, das seit 2008 auf dem Gelände der ehemaligen Mechanikschule der Marine (ESMA) angesiedelt ist. Die ESMA war einer der wichtigsten geheimen Haftorte der Diktatur und wurde 1998 in einen Ort des Gedenkens und der Menschenrechtsförderung umgewandelt. Das Zentrum trägt den Namen eines der bedeutendsten argentinischen Schriftsteller und Journalisten, der zum Symbol des revolutionären Kampfes der 1970er Jahre wurde. Bis vor wenigen Wochen bot das Zentrum Theater, Literatur, Tanz, Fotografie und Musik an. Es arbeiteten 87 Personen dort. Die Beschäftigten fürchten nun, dass die angekündigte „Umstrukturierung“ in Wirklichkeit eine endgültige Schließung der ESMA bedeutet.

„Seit seiner Gründung ermöglicht das Conti, den Schrecken der Vergangenheit durch Kunst aufzuarbeiten. Es zielt darauf ab, zu erweitern, zu vernetzen, zu improvisieren und neue Wege in der Pädagogik der Erinnerung zu gehen. Ich glaube, die Regierung greift uns an, weil sie generell die Kultur angreift – und weil wir hier organisiert sind und einen kollektiven Widerstandskern bilden“, sagt Nana González, Mitarbeiterin des Conti und stellvertretende Sekretärin der Gewerkschaft Asociación Trabajadores del Estado, die aktivste Gewerkschaft dieses Bereiches, gegenüber den Lateinamerika Nachrichten.

Um gegen die Entlassungen und die Schließung zu kämpfen, organisierten die Beschäftigten des Conti ein großes Festival, das die Unterstützung der Zivilgesellschaft für die Menschenrechtsorganisationen und -institutionen zeigte und das Motto „Nunca Más“ bekräftigte – in Argentinien ein zentraler Ausdruck des Konsenses, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie wieder zuzulassen. Im Rahmen ihres Protestplans planen sie weitere Aktionen bis zum 24. März, dem Tag, an dem an den Beginn des Militärputsches erinnert und dieser verurteilt wird.

Doch das Conti ist nicht die einzige Institution auf dem Gelände der ehemaligen ESMA, die von Entlassungen und Kürzungen betroffen ist. Auch das Museo Sitio de Memoria ESMA, das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, das Nationale Archiv der Erinnerung und die Menschenrechtssekretariate, die in dem 2004 wiedererlangten Raum zusammen mit anderen Organisationen und Einrichtungen arbeiten, sind von starken Kürzungen betroffen. Ähnliche Maßnahmen gibt es zudem in vielen anderen Menschenrechtsinstitutionen im ganzen Land.

„Es geht nicht nur um die Entlassungswelle der letzten Zeit, sondern auch um die finanzielle Aushöhlung jeglicher Menschenrechtspolitik, die die Arbeit in allen Provinzen erheblich erschwert“, erklärt Guillermo Amarilla Molfino. Er ist Sohn von Marcela Esther Molfino und Guillermo Amarilla, die während der Diktatur verschleppt wurden und bis heute verschwunden sind. Dank der Arbeit der Organisation Abuelas de Plaza de Mayo konnte er 2009 seine Identität zurückerlangen, nachdem er 29 Jahre unter einem anderen Namen und in einer anderen Familie gelebt hatte. Trotz der aktuellen Angriffe des Staates gab die Organisation Ende Dezember bekannt, dass das 138. Enkelkind identifiziert wurde – ein Lichtblick inmitten der feindseligen Atmosphäre.

„Feindseligkeit.“ Amarilla Molfino betont dieses Wort und sagt, dass er nicht erklären könne, warum die Regierung so viel davon gegenüber den Menschenrechtsinstitutionen verspüre. „Oft fragen Besucher des Museums, warum die Diktatur so grausam war. Warum die Täter solche Tyrannen waren. Warum Menschen gefoltert und lebend ins Meer geworfen wurden. Es gibt unzählige Antworten, aber die Schuldigen sollten sie geben. Ähnlich verhält es sich heute mit der Regierung: Wir wissen nicht, warum sie uns so angreift. Vielleicht liegt es daran, dass hier die Interessen der großen wirtschaftlichen Mächte auf dem Spiel stehen, die einst Komplizen der zivil-militärischen Diktatur waren.“

Der Angriff auf die Menschenrechte geht unterdessen weiter. 2024 wurden nur 20 Prozent des für die Menschenrechtssekretariate vorgesehenen Budgets ausgezahlt und im März wird mit einer neuen Entlassungswelle in Institutionen und Orten des Gedenkens gerechnet. Darüber hinaus prangerten die Behörden in den letzten Wochen des Jahres einerseits illegale Spionageaktivitäten der Sicherheitskräfte bei den Protestaktionen der Arbeiter*innen an und andererseits juristische Manöver, die darauf abzielen, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte Unterdrücker*innen freizulassen oder zu begünstigen.

„Wir rufen die Welt auf, hinzusehen und entsprechend zu handeln. Es ist entscheidend, jeden Rückschritt zu stoppen und die demokratischen Werte und Menschenrechte zu verteidigen, die wir uns so hart erkämpft haben“, appellierte Estela de Carlotto, Präsidentin der Abuelas de Plaza de Mayo, vor wenigen Wochen. Für 2025 kündigte die Organisation an, die internationalen Allianzen und Unterstützung auszubauen, um den Angriffen des Staates entgegenzuwirken. Dieselbe Leistung, die vor mehr als vierzig Jahren jene „Verrückten“ unternahmen, die verzweifelt nach ihren Söhnen und Töchtern suchten und letztendlich das heute fest verankerte „Nunca Más“ durchsetzten.


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Rote Linie in Gefahr

Ehemaliges Haft-, Folter-, und Vernichtungszentrum Olimpo Menschenketten vor dem Zentrum im August 2024 (Foto: Tomás Fernández)

Seit seinem Amtsantritt vor knapp neun Monaten demontiert der argentinische Präsident Javier
Milei die Politik der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, für die Argentinien in der Region und weltweit bekannt ist. Errungenschaften der letzten Jahrzehnte in der Erinnerungspolitik werden
zunichte gemacht: Milei entzieht den zuständigen Regierungsstellen die Mittel, entlässt deren
Mitarbeiter*innen, baut Programme ab und ändert Vorschriften, die den Zugang zu Archiven für die juristische und historische Forschung erschweren. Dieser Angriff wird von Debatten begleitet, die die Strafprozesse zur Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit delegitimieren. Zum Beispiel, indem die Straffreiheitsgesetze und Begnadigungen der 1980er und 1990er Jahre gelobt werden oder Positionen lauter werden, die behaupten, dass die Streitkräfte in den letzten Jahrzehnten durch die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit gedemütigt würden. Diese Rückschritte in der Erinnerungsarbeit spitzten sich vor einem Monat zu, als ein Foto von regierungsnahen Kongressabgeordneten mit wegen Folter und Mord während der letzten Diktatur einsitzenden Verurteilten in einem Bundesgefängnis öffentlich wurde. Vier Jahrzehnte nach der Rückkehr der Demokratie besteht die Gefahr, dass die rote Linie, die nur mit großen gesellschaftlichen und institutionellen Anstrengungen gezogen werden konnte, wieder verschwindet.

Eine nicht so alte Diktatur

Am 24. März 2024 jährte sich zum 48. Mal der Militärputsch in Argentinien. Die Diktatur dauerte
sieben Jahre und hinterließ Zehntausende Verschwundene, Ermordete, Verbannte und Inhaftierte, etwa 500 gestohlene Kinder, deren Identität vertauscht wurde, sowie ein in diesem Land bis dahin unbekanntes Ausmaß an Armut und Auslandsverschuldung. Unmittelbar nach dem Ende der Diktatur im Jahr 1983 begann ein nachhaltiger Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, der im Laufe der Jahrzehnte verschiedene Etappen durchlief, mit Schwankungen und nie frei von Schwierigkeiten. Über die Jahre engagierten sich verschiedene Verwaltungseinrichtungen, die drei Staatsgewalten und die Staatsanwaltschaft als außerparlamentarisches Organ gemeinsam, was von einem Großteil der Gesellschaft getragen wurde. Besonders betroffen von den gegenwärtigen Angriffen auf die Erinnerungsarbeit sind die Verfolgung und Bestrafung der Verantwortlichen für die während der Diktatur begangenen Massenverbrechen, sowie die Freigabe und Untersuchung der Archive der Streit- und Sicherheitskräfte. Auch Prozesse der Wiedergutmachung für die Opfer, der Suche nach den gestohlenen Säuglingen und Kindern und der Wiederaufbau der mit der Unterdrückung in Verbindung stehenden Orte, um sie als Erinnerungsorte neu zu beleben, sind bedroht.

In Bezug auf die juristische Aufarbeitung ist eines besonders alarmierend: Präsident Javier Milei
lobte kürzlich die Begnadigungen von Militärs zwischen 1989 und 1990, Vizepräsidentin Victoria
Villarruel ermutigte die Suche nach einer „juristischen Lösung” für die Inhaftierten und die Ministerin für Sicherheit, Patricia Bullrich, betonte, es gäbe Inhaftierte „ohne Grund” und dass „[die Inhaftierung] zu einem Racheakt geworden ist”. Beamte des Verteidigungsministeriums besuchten hochrangige Mitglieder der damaligen repressiven Militär- und Polizeistruktur, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftiert sind. Außerdem trafen sich sechs Abgeordnete der Regierungspartei mit Personen, die wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurden, um Strategien zur Straffreiheit zu entwickeln.

Fortschritte zur Aufarbeitung

In den letzen eineinhalb Jahren stützte sich die Aufarbeitung in Argentinien auf den Beitrag der staatlichen Archive der Streit- und Sicherheitskräfte, die 2010 freigegeben wurden. Es gab Fortschritte hinsichtlich der Zusammenstellung und Analyse von Dokumenten in wichtigen Bereichen wie dem Verteidigungs- und dem Sicherheitsministerium. Dies ermöglichte, die Strukturen und Befehlsketten des repressiven Systems zu verstehen und Verantwortliche im Militärpersonal zu identifizieren. Das derzeitige Verteidigungsministerium beendete diese Arbeit, indem Mitarbeiter*innen seitens der Regierung als „Verfolgungsgruppe“ und des McCarthyismus bezichtigt wurden, sowie ihre Rechtmäßigkeit als „parajuristisch“ diffamiert wurde.

Darüber hinaus weigerten sich sowohl das Verteidigungs- als auch das Sicherheitsministerium,
auf die von der Nationalen Kommission für das Recht auf Identität (CONADI) gestellten Anträge, Auskünfte über die Archive der Streit- und Sicherheitskräfte zu geben. Die 1992 gegründete Stiftung sucht nach Kindern, die während der Militärdiktatur verschwunden sind und zumeist von Familien adoptiert wurden, die Streit- und Sicherheitskräften nahe standen. Die Regierung beschloss außerdem, die der CONADI unterstellte Sonderermittlungseinheit (UEI) aufzulösen und damit auch ihren direkten Zugriff auf Archive einzustellen, wodurch bisher Fälle von Kindesdiebstahl dokumentiert und die Ermittlungen der Richter*innen und Staatsanwält*innen unterstützt werden konnten.

Argentinien war zudem Vorreiter in der Region bei der Verabschiedung eines progressiven Gesetzes
für Gedenkstätten. Dieses sieht sowohl ein Kennzeichnung von Orten vor, die als geheime Zentren für Inhaftierung, Folter und Vernichtung dienten, als auch die Unterstützung von Gedenkstätten durch Bildungs-, Kultur-, Kunst- und Forschungsaktivitäten. All das dient der Vermittlung und Förderung der Menschenrechte. Die Regierung halbierte zunächst die Stellen des Nationalen Sekretariats für Menschenrechte. Und obwohl ein großer Teil der Mitarbeiter*innen wieder eingestellt wurde, sind ihre Verträge nun auf drei Monate befristet. Dies bringt nicht nur die Mitarbeiter*innen in eine prekäre Lage, sondern auch die Nachhaltigkeit dieser Einrichtungen. Gleichwohl sind die Räume unterfinanziert, und die geplanten Infrastrukturarbeiten wurden vollständig eingestellt.

Der symbolträchtigste dieser wiedergewonnenen Erinnerungsräume auf nationaler und internationaler Ebene ist die ehemalige Marineschule (ESMA), die zum Nationalen Historischen Denkmal, zum Kulturgut der Wirtschaftsorganisation MERCOSUR und zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde. Im Mai besichtigte eine Gruppe von Unteroffizieren der Marine das Gelände, die an zwei symbolträchtigen
Orten den Marsch der Marine anstimmten und ein Loblied auf die ESMA sangen. Vor einem der an den Todesflügen eingesetzten Flugzeuge haben sie Selbstporträts aufgenommen. Die beteiligten Besucher*innen teilten die Fotos in den Sozialen Medien mit expliziten Botschaften, in denen sie ihren Besuch als einen Akt der Rückeroberung eines „usurpierten Raums“ bezeichneten. Auf eine öffentliche Anfrage zur Erklärung hin, spielte Verteidigungsminister Luis Petri den Vorfall herunter.

Die mit der Erfahrung des Staatsterrorismus verbundene Vermittlungsarbeit, die an Gedenkstätten und auch von Lehrenden in Bildungseinrichtungen geleistet wird, wird heute von der Regierung als „Aktion der Indoktrination“ bezeichnet und als Mittel verzerrender oder bösartiger Darstellungen disqualifiziert. Gleichzeitig verwenden hochrangige Beamte eine breite Palette von Argumenten, die typisch für das Repertoire der Leugner*innen oder Relativist*innen sind: Sie schaffen Kontroversen über die Opferzahlen, leugnen den systematischen Charakter der begangenen Verbrechen, verharmlosen oder ignorieren diese, rechtfertigen die staatliche Gewalt, entmenschlichen die Opfer und diskreditieren Aktivist*innen im Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit.

Wiedergutmachung in Gefahr

Auch die Politik der finanziellen Wiedergutmachung für die Opfer des Staatsterrorismus, die seit 1990 unter wechselnden Regierungen fortgesetzt, aufrechterhalten und ausgeweitet wurde, ist in Gefahr. Der Minister für Justiz und Menschenrechte kündigte eine umfassende Prüfung aller laufenden Entschädigungsanträge an, die 22.500 Akten umfassen würde. Das Ministerium teilte mit, dass während der laufenden Prüfung „die Zahlungen gestoppt werden“ und begründete die Entscheidung mit der Annahme, dass es sich um „ein Festival der Zahlungen, der Schaffung von Strukturen, um Geld vom Staat zu erhalten“ handele, in der klaren Absicht, die Erinnerungspolitik zu delegitimieren. Ihre Demontage erfolgt im Zusammenhang wiederholter Erklärungen des Präsidenten, der Vizepräsidentin und verschiedener Minister, die sich gegen den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit und für die Gewaltakte der Streitkräfte während der Diktatur aussprechen. Im Kabinett herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass man „die Vergangenheit hinter sich lassen“ muss. Die neue Regierung fördert eine Verachtungskultur für den Prozess der Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit, während sie gleichzeitig die Lehren der letzten Jahrzehnte verwirft und die Akteur*innen stigmatisiert, die diese vorangetrieben und weitergeführt haben.

Dieser Paradigmenwechsel zwingt die Teile der Gesellschaft in die Defensive, die seit der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1983, unter verschiedenen Regierungen und mit dem Engagement aller Staatsgewalten, eine Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung der Verbrechen aufgebaut haben. Letztlich handelt es sich um den Versuch, die kritische Bilanz der Diktaturerfahrung umzuschreiben, die die argentinische Gesellschaft über Jahrzehnte mühsam aufgebaut hat, um die Gültigkeit autoritären Konsenses wiederherzustellen.


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VERGEBEN, VERSCHWEIGEN, VERGESSEN?

Vor über 60 Jahren, im Jahr 1961, gründete der deutsche Laienprediger Paul Schäfer mit etwa 300 Anhänger*innen im Süden Chiles die sektenartige Gemeinschaft der Colonia Dignidad. Diese auslandsdeutsche Siedlung, die drei Jahrzehnte lang einen Status der Gemeinnützigkeit innehatte, war repressiv nach innen und kriminell nach außen. Der Alltag der Bewohner*innen war von unentlohnter Zwangsarbeit, sexualisierter Gewalt, Trennung von Frauen, Männern und Kindern sowie von Freiheitsentzug, Prügel und Erniedrigungen jedweder Art geprägt. Während der Diktatur (1973 bis 1990) richtete der Geheimdienst DINA ein Gefangenenlager in der deutschen Siedlung ein. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende ermordet oder zu Verschwundenen gemacht. Ihr Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt. Ihre Leichen wurden verscharrt, viele später wieder ausgegraben, verbrannt, ihre Asche im Fluss Perquilauquén verstreut.


Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Meike Dreckmann-Nielen präsentiert nun ihre Forschung zu Dynamiken im (B)Innenleben der Gruppe von Personen, die teils bis heute in der deutschen Siedlung leben, die sich inzwischen Villa Baviera (Bayerisches Dorf) nennt und von Tourismus und Landwirtschaft lebt. Im Jahr 2019 hielt sie sich mehrere Wochen dort auf und interviewte fast 20 Bewohner*innen. Außerhalb der Siedlung führte sie einzelne Gespräche mit Folterüberlebenden, Angehörigen von Verschwundenen oder Menschenrechtsgruppen, einer Psychologin und einem Psychiater. Auf Basis dieser Arbeit konnte Dreckmann-Nielen prägende Narrative und „innergemeinschaftliche Vereinbarungen“ unter den heutigen Bewohner*innen identifizieren. Im besonders lesenswerten und auch für Nicht-Wissenschaftler*innen gut verständlichen fünften Kapitel zu erinnerungskulturellen Dynamiken beleuchtet sie psychologische Aspekte und religiöse Einflüsse, die in dieser zusammenhängenden Form bisher nicht beschrieben wurden. Sehr treffend entwickelt die Autorin eine „Denkfigur“, die einen sich selbst reproduzierenden Kreislauf interner Dynamiken skizziert. Diese basieren auf der Erinnerungskultur der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft, also dem bewussten Erinnern an historische Ereignisse, Persönlichkeiten oder Prozesse.

Religiöse „Vergebensmaxime“

Besonders hebt die Autorin ein Phänomen hervor, das sie als „Vergebensmaxime“ bezeichnet. Es stützt sich auf eine wörtliche Bibelinterpretation und ist in dem Umfeld der heutigen Siedler*innen, die sich als religiös geprägte Gemeinschaft verstehen, wirkmächtig. Zentral ist hier ein Zitat aus dem christlichen Gebet des Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“. In der ehemaligen Colonia Dignidad gelte eine „interne Vereinbarung, welche das Konzept der Vergebung von ‚Sünde‘ und Schuld an die erste Stelle für das gemeinschaftliche Zusammenleben stellt“, erklärt Dreckmann-Nielen. Daraus und aus der Vorstellung, in einer „Endzeit“ zu leben, werde abgeleitet, dass Gott nur denjenigen vergeben werde, nur diejenigen erlösen und vom „Zorngericht Gottes“ und der Hölle verschonen werde, die zuvor selbst anderen vergeben haben. Teils werde der Prozess der Vergebung „so verstanden, dass er nur durch das anschließende Vergessen und damit verbunden das Schweigen darüber auch als abgeschlossen gilt“.

Alltägliche Konflikte und auch schwere Verbrechen könnten demnach „nur innerhalb der Glaubensgemeinde“ geklärt werden, „weltliche Gerichte“ würden nicht akzeptiert. Eine „Spirale des Schweigens“ sei die Folge. Dass ehemalige Bewohner*innen kaum bereit sind, über die Strukturen der Siedlung und die dort begangenen Verbrechen zu sprechen, wird von Angehörigen der Verschwundenen als Affront empfunden. Die Historikerin zeichnet nach, dass das nicht nur die Straflosigkeit von Verbrechen der Diktatur fördert, sondern auch die historische Aufarbeitung und auch den Dialog zwischen Siedler*innen und Menschenrechtsgruppen blockiert.

Die Colonia Dignidad als „sich selbst verstärkender Resonanzraum“


Verfestigte historische Feindbilder, Konkurrenzgefühle zwischen verschiedenen Opfergruppen, Abgrenzung von „den anderen“ und Rückzug in die jeweils eigene Gruppe verstärken nach Dreckmann-Nielens Analyse das in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft bestehende Gefüge einschließlich der Vergebungsmaxime. Die Gruppe werde, so die Autorin, „zu einem sich stetig selbst verstärkenden Resonanzraum“. Allerdings sei dieser nicht statisch. Juristische, politische, monetäre Einflüsse von außen sowie psychosoziale Interventionen wirkten nach Dreckmann-Nielens Einschätzung auf die Aushandlung von Konflikten und damit auf den gesamten Kreislauf ein.

An aufklärerischen politischen und juristischen Einflüssen mangelt es allerdings. So hat die chilenische Justiz zwar einzelne Prozesse geführt und Urteile gefällt. Die deutsche Justiz hat jedoch bis heute keine einzige Anklage wegen Verbrechen der Colonia Dignidad erhoben. Die politische Aufarbeitung geht in Chile indes noch langsamer voran als in Deutschland. Dabei sind Verbindungen von Führungspersonen der Colonia Dignidad zur chilenischen Diktatur offensichtlich und sogar in einem von Siedler*innen selbst angelegten Geheimarchiv abzulesen.

Geheimarchiv mit 45.000 Karteikarten


45.000 Karteikarten umfasst dieses Archiv, das vor allem Gerd Seewald, 2014 verstorbener Angehöriger der Führungsriege der Colonia Dignidad, ab 1974 bis 1990 akribisch führte. Viele mit Tarnkürzeln bezeichnete Informantinnen lieferten teils sehr intime Details über Zivilist*innen und Militärs. Die chilenische Polizei fand und beschlagnahmte das Archiv im Jahr 2005 in der ehemaligen Colonia Dignidad.

Seit 2014 haben Dieter Maier, der mehrere Bücher über die deutsche Sektensiedlung veröffentlicht hat, und der chilenische Journalist Luis Narváez die inzwischen digitalisierten Karteikarten in eine Datenbank eingepflegt. Sie haben die einzelnen Karteikarten verschlagwortet, mit den darauf erwähnten Quellen, Personen, Parteien und anderen Metadaten angereichert und online zur Verfügung gestellt.

„Repressionsallianz“


In Kartei des Terrors verweisen Maier und Narváez immer wieder auf diese Datenbank. Gemeinsam mit dem Buch stellt sie ein besonderes Nachschlagewerk zur Recherche konkreter Fälle zur Verfügung. „Ein Ziel der Recherche für dieses Buch war, zu rekonstruieren, wie und wo die Gefangenen verschwanden. Eine direkte Antwort gibt das Karteikartenarchiv nicht“, schreiben die Autoren. Aber sie präsentieren exemplarisch Karteikarten, die Aufschluss über Verhöre einzelner Gefangener, über Interna der Diktatur und der Struktur ihrer Repressionsorgane geben. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Zusammenarbeit zwischen der Colonia Dignidad, der Geheimpolizei DINA, dem Geheimdienst des Heeres SIM sowie Polizisten der Carabineros und Militärs aus Linares und Concepción zu. Die Autoren bezeichnen diese Kooperation, die für Entführungen, Folter, Mord und Verschwindenlassen von Oppositionellen im südlichen Chile verantwortlich war, als „Repressionsallianz“.


Mitunter ist die Fülle von Personen und politischen Gruppierungen sowie Abkürzungen und nicht immer klar zuzuordnenden Tarnkürzeln schwer nachzuvollziehen. Erklärungen zu Kürzeln und Decknamen finden sich über das Buch verstreut. Ein zusammenhängendes Verzeichnis sowie eine klarere Struktur der verschiedenen Kapitel wären beim Lesen sicherlich hilfreich. Aber es gelingt den Autoren sehr gut, die Geschichten einzelner Personen zu rekonstruieren. Ein Beispiel ist der 1933 in Mazedonien geborene und 2020 in Chile verstorbene Mile Mavrovski. Fernab der realen Situation wurde er aufgrund anti-slawischer Ressentiments als besonders gefährlicher „Russe“ mit Umsturzplänen stilisiert und 1974 elf Monate lang in der Colonia Dignidad festgehalten und gefoltert. In dieser Zeit galt er als „verschwunden“. Konkrete Geschichten wie diese zeichnen ein eindrückliches Bild verschiedener Dimensionen der Allianz zwischen der chilenischen Diktatur und der Colonia Dignidad.

So tragen beide Bücher aus ihren sehr unterschiedlichen Blickwinkeln wichtige Erkenntnisse zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad bei und sind als Appell an Regierungen und Justiz in Deutschland und Chile zu lesen, endlich konsequent und engagiert zu handeln. Jüngst hat die chilenische Regierung unter Gabriel Boric einen Aktionsplan zur Suche nach den Verschwundenen angekündigt, deren Angehörige seit fast 50 Jahren nach ihren Verwandten suchen. Auch Juan Rojas Vásquez, dessen Vater und älterer Bruder bis heute verschwunden sind, nachdem sie 1973 mutmaßlich in die Colonia Dignidad verschleppt wurden, fordert: „Wir haben ein Recht darauf zu wissen, wo und wann mein Vater und mein Bruder erschossen wurden und wo ihre Leichen sind.“ Es ist höchste Zeit.


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VERBRECHEN UNTER DEUTSCHER SCHIRMHERRSCHAFT

Cover: transcript Verlag

Seit Jahrzehnten wird die Colonia Dignidad in der bundesdeutschen wie in der chilenischen Presse vor allem als die Geschichte einer deutschen Sekte unter Führung der sinistren Figur des Paul Schäfer erzählt, eines pädophilen Laienpredigers. Jan Stehle hat die Geschichte dieser Vereinigung minutiös rekonstruiert. Wir erfahren sehr viel über die Colonia Dignidad, die mit Würde wenig zu tun hatte, und über den wohl sehr charismatischen Paul Schäfer. Doch dieses Buch leistet deutlich mehr. Wir haben es mit einer überaus soliden Studie über den „Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020“ zu tun, wie es der Untertitel ankündigt. Der Autor hat dazu auch den Umgang der chilenischen Politik mit dieser eigentümlichen kriminellen Vereinigung ausgiebig beleuchtet. Schließlich gewährt uns der Band einen aufschlussreichen Einblick in die bikulturelle Zwischenwelt zwischen Deutschland und Chile − eine Zwischenwelt, in der Stereotypen eine folgenreiche Rolle spielen konnten.

Die Qualität dieser Arbeit hat viel damit zu tun, dass sie auf eine Doktorarbeit zurückgeht, die 2020 am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der FU Berlin erfolgreich verteidigt wurde. Dies kommt dem interessierten Publikum sehr zugute, denn Jan Stehle hat weit über das Niveau herkömmlicher Fachbücher hinaus intensiv recherchiert und alle Angaben akribisch mit Quellen belegt. Auch der stringente, klare Aufbau und die vorsichtige Art, aus Zusammenhängen Schlüsse zu ziehen, zeichnen die Arbeit aus. Die Kehrseite der akademischen Strenge ist der Umfang des Werks, das beinahe 650 Seiten umfasst. Der transcript-Verlag hat ein lesefreundliches Layout geliefert.

Recherchiert hat Jan Stehle bereits die Zeit ab 1946, als Paul Schäfer anfing, im rheinischen Troisdorf evangelische Jugendgruppen anzuleiten. Anfang der 1950er Jahre wurde er schon wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen entlassen. Stehle identifiziert die freikirchliche Gruppe, die 1956 gegründet wurde und die Schäfer ganz ergeben war, als Blaupause für die Colonia Dignidad: Ein abgeriegeltes Gelände mit sozialpolitischer Fassade, brutalen Methoden und systematischer sexueller Gewalt. Als die deutsche Justiz gegen Schäfer wegen Päderastie Ermittlungen einleitete, fand er in Chile Zuflucht für einen Neuanfang. So entstand ab 1961 im mittleren Süden Chiles die Colonia Dignidad, die Züge einer Mustersiedlung trug: Pflege hilfebedürftiger, zumeist deutscher Kinder; ein Krankenhaus, das auch die benachbarte Bevölkerung aufnahm; eine leistungsfähige Landwirtschaft und eine technische Ausrüstung nach dem neuesten deutschen Stand. Selbst ein zünftiges Restaurant – Spezialität Eisbein und Sauerkraut – wurde später eröffnet. Zum positiven Bild der Siedlung trugen der konsequente Aufbau eines befreundeten Netzwerkes unter den örtlichen Honoratioren und eine nicht minder ausgeklügelte Lobby-Arbeit bei der Deutschen Botschaft in Santiago bei.

Fortlaufender und massiver sexueller Missbrauch von Kindern, finanzielle Ausbeutung der deutschen Bewohner*innen der Siedlung und der sonstigen Beschäftigten, totale Kontrolle des Alltaglebens durch Nutzung sektentypischer Mechanismen und Insassen, die durch Arzneimittel systematisch in Abhängigkeit gehalten wurden, waren die grausame Realität. Zur Zeit der Regierung Allendes haben die Anführer der Siedlung rechten Terrororganisationen und den putschbereiten Militärs zugearbeitet, nach dem 11. September 1973 haben sie eng mit der Militärdiktatur und ihrem Geheimdienst kooperiert, auch indem sie „Verschwundene“ gefangen hielten und sich an deren massenhafter Ermordung beteiligten.

Die Existenz und die Verbrechen der Anführer der Siedlung wären ohne die Unterstützung privater Kreise aus der Bundesrepublik und vor allem aus der CSU kaum möglich gewesen – dies, obwohl die deutsche Justiz und das Auswärtige Amt von vornherein über die kriminelle Energie von Paul Schäfer Bescheid wussten; obwohl seit den 1970er Jahren etwa das FDCL und die LN, Amnesty International und engagierte Anwält*innen immer wieder die Verbrechen bekannt machten; obwohl sogar Spiegel und Stern den Verbrechen der Colonia Dignidad ihre Titelseiten und ausführliche Berichte widmeten. Die Untätigkeit der Bundesregierungen und der Justiz mögen eine Teilerklärung darin finden, dass die Verbrechen in Chile stattfanden, außerhalb der Zuständigkeit bundesdeutschen Rechts. Aber Jan Stehle arbeitet heraus, dass die zuständigen Gerichte die Tragweite der Kriminalität durch die Führung der Siedlung jahrzehntelang ignorierten und dabei systematisch auf Eingriffsmöglichkeiten verzichtet haben. Schlimmer dürfte die Verantwortung der Deutschen Botschaft in Chile wiegen. Sehr viele der Botschafter in der untersuchten Periode und auch viele ihrer damit befassten Angehörigen haben Schäfer und seine Leute aktiv unterstützt. Wenige Monate nach dem Putsch schrieb Militärattaché Weidhofer in einem Vermerk an seinen Diensthern, die Colonia sei „deutsches Interessengebiet“. Was im deutschen Spielfilm Colonia Dignidad (2016) als eine dramaturgische Zuspitzung verstanden werden mochte, geschah immer wieder: Deutschen Insassen gelang die Flucht aus der Siedlung und die 400 km lange Fahrt nach Santiago, um sich in den Schutz der Botschaft zu begeben – aber aus der Botschaft wurden die Freunde in der Colonia angerufen, so dass sie die Geflüchteten zurück bringen konnten und so weit traktierten, dass sie im Nachhinein erklärten, sie hätten sich geirrt und gar nicht flüchten wollen. Hier tritt die andere Seite des herausragenden Beitrags von Jan Stehle hervor: Die Fakten, die er nüchtern darlegt, haben zumindest beim Rezensenten eine solche Wut, eine solche Trauer hervorgerufen, dass er die Lektüre immer wieder unterbrechen musste.

Erst 2016 sollte ein deutscher Außenminister – Frank-Walter Steinmeier – die Verantwortung der Bundesrepublik bekennen. Die meisten Verbrechen bleiben ungesühnt.


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