Tourismus nach Guatemala? Nachdem das Tourismusgeschäft in und mit Guatemala Anfang der 80er Jahre wegen international verbreiteter Nachrichten über einen eskalierenden Antiguerillakrieg und Massaker an der Zivilbevölkerung eine Flaute erlebte, können seit 1986 unter der zivilen Regierung Cerezo trotz anhaltender Repression und militärischer Aufstandsbekämpfung wieder ansteigende Touristenzahlen verzeichnet werden. Alte Kultstätten der Mayas und das Erscheinungsbild der indianischen Bevölkerungsmehrheit, kombiniert mit Naturschönheit, locken trotz Tourismusboykottkampagnen von Solidaritätsgruppen auch und gerade den “Alternativtourismus” an. In diesem Trend wirbt auch das neu im Verlag edition aragon erschienene erste “kritische” deutschsprachige “Dritte-Welt Reisehandbuch Guatemala” für Reisen in “das kulturell, historisch und ethnologisch wohl interessanteste Land Mittelamerikas”. Die Autorin, die österreichische Journalistin Hannelore Rudisch-Gissenwehrer, will mit ihrem Buch die offensive These vertreten, daß “Reisen in Entwicklungsländer eine positive Seite haben, wenn man nicht in einer Art Kolonisatoren-Mentalität ausschließlich die touristischen Qualitäten des Landes genießt, sondern bereit ist, die Augen auch gegenüber Schwierigkeiten und Problemen zu öffnen.”
Der Inhalt, in Form eines chronologisch Tag für Tag erzählten Reisetagebuches über den ersten und einzigen, nur 3-wöchigen (!) Aufenthalt der kaum spanisch sprechenden Autorin in Guatemala, angereichert mit Reisetips und hineingestreuten “Hintergrundinformationen”, liefert aber eher einen unbeabsichtigt geradezu realsatirischen Anschauungsunterricht, wie weit dieser Anspruch mit der Wirklichkeit der/s Reisenden auseinanderklaffen kann. Touristische Selbstbezogenheit einerseits, sich selbst beweihräuchernde “Betroffenheit” andererseits, mischen sich da mit der Idealisierung der “edlen Wilden” sowie Greuelstories über Militärherrschaft zu einem extremen Negativbeispiel von “engagiertem Reisejournalismus” und “Alternativtourismus”.
Im ersten Teil des Reisehandbuches beschreibt die mehrfach prämierte und schon in unzähligen Ländern herumgereiste Journalistin ihre kurzfristige Einladung und Teilnahme an einer organisierten Journalistenreise, die im insgesamt einwöchentlichen Abklappern der üblichen Tourismusorte wie Antigua, Tikal, Panajachel und Chichicastenango besteht. Ihre Umgebung sind Luxushotels mit Marimbacombos am Swimmungpool, einzige Gesprächspartner außer einem Reiseleiter der staatlichen guatemaltekischen Tourismusbehörde der österreichische Konsul, österreichische Lehrer und Präsident Cerezo höchstpersönlich bei einer Stippvisite in seiner Finca. Daneben bemüht sich die Autorin, ethnologische und historische Standardlektüre zu Guatemala einzuflechten, was allerdings aufgesetzt und zufällig bleibt. So widmet sie entsprechend der verwendeten Literatur der Zusammenfassung des “Bananenkriegs” von Schlesinger/Kinzer über die US-Intervention und den Militärputsch 1954 immerhin ganze 12 Seiten, verliert aber kaum ein Wort über Hintergründe und Geschichte der heutigen Guerillaorganisationen oder über aktuelle Gewerkschafts- und Massenbewegungen. Politische Einschätzungen plädieren zwar emotional und überbetont für die Seite der “Unterdrückten”, sind aber pauschal oder personalisierend: Die Informationen über den Massenterror unter Militärregierungschef Rios Montt 1982/83 werden eingebettet in Beschreibungen seines fundamentalistischen, religiösen Fanatismus; der christdemokratische Präsident Cerezo erscheint mal als engagierter Sozialreformer, dem leider die Hände gebunden sind, mal als Bündnispartner im Block der Mächtigen gegen die Entrechteten.
Insgesamt ergibt sich so ein folkloristisches Schwarzweißbild einer “Bananenrepublik” als Hinterhof der USA mit Korruption, “grundlosen” Massakern, militärischer Gewaltherrschaft, ungerechter Landverteilung, extremer Ausbeutung usw., das aber darüberhinaus keine innere Widersprüchlichkeiten, politische, kulturelle und sozioökonomische Differenzierungen oder Bezüge zu europäischen Industrieländern wahrnimmt, die als “westlich”, “demokratisch”, “ruhig” und “zivilisiert” immer wieder das Gegenbild liefern. Diese Kulisse ist aber nur der Hintergrund der Reisebeschreibung, die sich ansonsten wechselbadartig den Hotels, schönen Blumen und Landschaften, Unbehagen beim Anblick von Militärs und ausführlich indianischen Trachten und verschiedenen Mayakultstätten zuwendet.
Im zweiten Teil, in dem historische und politische Informationen gänzlich rar werden, driftet die Autorin bei der minutiösen Beschreibung ihrer Tagesabläufe während einer zweiwöchigen Alleinreise – ebenfalls fast nur durch Tourismusgebiete und Provinzhauptstädte – völlig in Selbstbezogenheit ab. Keine dramatisierende Wiederholung von Langeweile, Darmproblemen, Ekel vor der guatemaltekischen Küche (die sie nie zu testen wagt) oder Pensionen (“Viehställe”) wird der LeserIn erspart. In ihrer Naivität immerhin unglaublich und peinlich offen lesen sich diese Litaneien wie eine entlarvende Charakterstudie der/s europäischen “AlternativtouristIn”: Stolz überwundene Abenteuer mit Sprach-, Ess-, Transport oder Krankheitsproblemen vermischen sich da mit der aus gehörten Schüssen und Autos mit schwarzgetönten Scheiben immer wieder selbst inszenierten Kulisse eines Bürgerkrieges, von dem die Autorin sich unmittelbar betroffen und bedroht fühlt. Dazu kommt neben dauernder Angst, bestohlen oder übers Ohr gehauen zu werden ein unglaublicher Geiz bei der Überprüfung von Preisen und Wechselkursen und Stolz auf die Bescheidenheit der eigenen Geldausgaben. Bei soviel hauptsächlich in der Phantasie genährten Bedrohungsgefühlen ist es kein Wunder, daß sich unsere Journalistin ebenso typisch zwar als erste und einzige Erkundschafterin fühlen möchte, gleichzeitig aber einsam und verzweifelt Kontakt und Verbündetheit mit anderen AusländerInnen sucht.
Mit der guatemaltekischen Bevölkerung wechselt sie nämlich in ihren 3 Wochen nur wenige, aber immer stolz zitierte Worte. Dennoch fühlt sich Hannelore Rudisch-Gissenwehrer bald als Kennerin des “auffallend friedlichen und sanften Wesens der Indios” und grenzt sich permanent gegenüber anderen TouristInnen durch ihre doch so viel taktvollere Umgehensweise mit denselben ab, nimmt sich dabei einerseits ungeheuer wichtig in ihrer Angst zu stören und will gleichzeitig schon dazugehören, schwärmt von Glücksgefühlen in “Zivilisationsferne” und läßt kein Klischee über die als völlig homogen angesehene indianische Bevölkerung aus: “Stolz”, “friedliebend”, “würdevoll”, “lächelnd”, “schüchtern”, “still”, “traditionell”, “naturnah”, “tierlieb”, “kindlich”, “samthäutig”, “knopfäugig”, “zartgliedrig” sind die meistverwandten verniedlichenden und idealisierenden Attribute für die – meist nur im Bus oder auf Touristenmärkten beobachtete – Hochlandbevölkerung; dementsprechend ergeben sich aus diesem positiven Rassismus ungeheuer arrogante Bemerkungen der Autorin über indianische Naivität, Abgestumpftheit, Unterwürfigkeit, Unzivilisiertheit und “Wirtschaft im Steinzeitniveau” sowie Analphabetismus, und die Vorstellung einer völlig statischen, unpolitischen traditionsverhafteten Weltsicht.
Fazit: Unglaublich, wie anscheinend allein das Renommee der Autorin dazu ausreichte, dieses bornierte und noch dazu mit falschen Jahreszahlen und falscher spanischer Schreibweise belassene Tagebuch als “kritisches” Guatemalareisehandbuch herauszugeben.
Allerding können solche Ergüsse nicht nur ebenso abgrenzend und selbstherrlich belächelt werden, sondern der Analyse des eigenen Reiseverhaltens und -wahrnehmung als satirischer Zerrspiegel dienen, der schonungslos auf die Widersprüche, Sprunghaftigkeiten und uneingestandenen Faszinationen von “Alternativ”- oder “Polittourismus” hinweist!
Hannelore Rudisch-Gissenwehrer: GUATEMALA-“DRITTE-WELT” REISEHANDBUCH; edition aragon; Moers 1990; ISBN 3-924690-37-5