LEBEN IN SCHWARZ-WEIß UND ROT

Ob gegen Kosaken, das Gefängnis in Ushuaia oder spanische Faschist*innen – immer kämpfte Simón Radowitzky für sich und die Freiheit. So gab er Anarchist*innen in Argentinien und weltweit Hoffnung und Kraft.

Agustín Comottos Graphic Novel Simón Radowitzky – Vom Schtetl zum Freiheitskämpfer, 2016 auf Spanisch erschienen und endlich ins Deutsche übersetzt, ist eine besondere Biografie des berühmten Anarchisten. 1891 wird Radowitzky in Štěpanice, einem jüdischen Dorf in der heutigen Ukraine, geboren. Antisemitische Pogrome vertreiben ihn in die nächste Großstadt, aus der er nach Argentinien fliehen kann. Simón sieht, wie die Arbeiter*innen unterdrückt werden und wie mit Gewalt versucht wird, die ungerechten Verhältnisse zu stabilisieren. In Buenos Aires findet er schnell Kontakte zu Anarchist*innen und erlebt die „Rote Woche“ nach dem 1. Mai 1909 mit, in der rund 100 Arbeiter*innen den Waffen der Polizei zum Opfer fielen. Er beschließt, den verantwortlichen Polizeichef Ramón Falcón mit einer Granate zu töten, wird gefasst, zu lebenslanger Haft verurteilt und ins Gefängnis am „Ende der Welt“ gesteckt.

Weil er zu seiner Tat stand und sie nie bereute, wurde Simón Radowitzky zu einem Symbol der anarchistischen Bewegung – obwohl er das Märtyrertum ablehnte. Mit Hilfe von Gefährt*innen gelang ihm schließlich die Flucht. Er kehrte zurück nach Europa und kämpfte in Spanien mit den Internationalen Brigaden gegen Franco. Nachdem die Faschist*innen Barcelona eingenommen hatten, floh er nach Frankreich und von dort nach Mexiko-Stadt, wo er 1956 als einfacher Fabrikarbeiter starb.

Agustín Comotto zeichnet diese beeindruckende Biografie in den passenden Farben. Radowitzkys Leben war schwarz, weiß und rot: schwarz und weiß, weil entbehrlich und prekär, aber immer mit klaren Fronten. Rot wegen der Gewalt, die es sein Leben lang nicht geschafft hat, das Menschliche in ihm zu brechen. Manchmal liegt sie schon vorher in der Luft, manchmal ist sie strukturell. Dazu kommen die rauen Formen und die kantigen Gesichter der Unterdrückten. Besonders die Darstellungen des Gefängnisses in Ushuaia beschreiben mit schroffen Formen den brutalen Alltag zwischen der sogenannten Eiszelle und Zwangsarbeit. Schwarz und Rot stehen gleichzeitig für Radowitzkys politische Überzeugung: den Anarchosyndikalismus.

Auch – oder gerade – auf Leser*innen, die mit Graphic Novels nicht vertraut sind, entwickelt das großformatige Buch eine unfassbare Sogwirkung. Die Comiczeichnungen lassen einen ganz in Simóns Freiheitskampf eintauchen und verdeutlichen die Kluft zwischen menschlichem Willen und unterdrückender Gegenwart. Allein die einfachen Dialoge des Genres bringen beim Lesen und Staunen manchmal kleine Hindernisse in Form fehlender Überleitungen zwischen den einzelnen Bildern und Szenen. In jedem Fall ist die Graphic Novel aber ein starkes Werk, das uns die Probleme und Kämpfe vergangener Tage vor Augen führt und gleichzeitig Kraft schenken kann, die eigene Unterdrückung auch in unserer Zeit nicht weiter hinzunehmen.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

NUESTRO VIEJO

(Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Seit einigen Wochen bereits hatte Osvaldo das Bedürfnis gehabt aufzubrechen. Er hielt es nicht mehr aus, in seinem Häuschen „El Tugurio“ im Stadtviertel von Belgrano, in Buenos Aires, zu sitzen und nichts tun zu können. Er wollte seine Koffer packen. Er wachte morgens in dem Glauben auf, zu einem Menschenrechtskongress reisen zu müssen. Oder mit der Vorstellung, dass man ihn in einem entlegenen indigenen Dorf in der Pampa erwartete, um über eine Namensänderung einer Straße zu diskutieren, die nach einem Völkermörder benannt war, dessen Namen keine Straße je mehr tragen sollte. Oder dass er zu einer kleinen Schule in der weit entfernten Hochebene von Jujuy gerufen worden sei, wohin sich nie jemand verirrt hatte – aber er durfte nicht fehlen, um über die Rechte der indigenen Bevölkerung zu sprechen. Er wurde gleichzeitig an der Berliner Universität erwartet und auf einer Gewerkschaftssitzung in Patagonien. Er musste einfach da sein. So wie er es immer gewesen ist.
Er fragte nach seinem Koffer, ob sein Reisepass und die Flugtickets bereit lägen. Mit Claudia, der großartigen Compañera, die ihn die letzten Jahre pflegte, hatten wir Codes entwickelt, um ihn davon zu überzeugen, die Reise aufzuschieben.

Als guter alter Anarchist wollte er uns alle, die wir Kerzen an einem grünen Baum anzünden wollten, nochmal mit einem Grinsen ärgern

Jetzt hat er keinen Aufschub mehr akzeptiert. Er hatte sich entschieden abzureisen. Als guter alter Anarchist wollte er uns alle, die wir Kerzen an einem grünen Baum anzünden wollten, nochmal mit einem Grinsen ärgern: Er suchte sich das passende Datum aus, den 24. Dezember. Seine Enkeltöchter in Hamburg stellten unter Tränen fest: Der Opa hat wieder sein Ding gemacht. Er ging nicht, ohne der Kirche auf seine Art noch mal eins auszuwischen. Ich bin davon überzeugt, dass der Grund für seine Eile in der aktuellen Realität dieses Landes, Argentiniens, liegt. Eigentlich hatte er vor gehabt, weiter zu nerven, wie er es nannte, bis er 100 Jahre alt würde. Ein Jahr weniger als seine geliebte Tante Griselda aus Santa Fe. Er respektierte ihr Alter. Aber die Realität hat ihn eingeholt. Er hatte keine Erklärung mehr für das, was er in den Zeitungen las und auf der Straße hörte. Jetzt drängte es ihn, andere Wahrheiten zu entdecken. Die hiesigen hatte er bereits aufgedeckt. Jetzt wollte er mit jenen diskutieren, mit denen er keine Gelegenheit gehabt hatte.  Mit Severino (Di Giovanni) über die Frage der Gewalt sprechen, über den Tyrannenmord, für den er (Osvaldo), der Pazifist war, trotzdem eine Erklärung fand. Di Giovanni war der Anarchist gewesen, dessen Leben Osvaldo in seinem ersten Buch neu entdeckt hatte. Mit dem Anführer der „Patagonia Rebelde“, Antonio Soto, über die grundsätzliche Frage diskutieren, ob man Mehrheitsbeschlüsse einer Versammlung ausnahmslos akzeptieren müsse, auch wenn diese den sicheren Tod bedeuten würden.

Mit Simón Radowitzky wollte er sich treffen und mit Kurt Gustav Wilckens, diese Persönlichkeit die ihn so fasziniert hatte, geboren (in Bad Segeberg) wenige Kilometer von hier entfernt, wo ich diese eiligen Zeilen schreibe (Hamburg). Auf seiner Tagesordnung stand ein Treffen mit dem indigenen Anführer Arbolito ganz oben, einem der ersten Gerechtigkeitssuchenden der jungen Republik.
Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Er will jetzt mit seinem Kumpel Rodolfo (Walsh) einen Kaffee trinken, mit seinem Freund Haroldo (Conti), mit Paco (Urondo). Und außerdem muss er ja noch die Geschichte der Entführung und Ermordung von Klaus (Zieschank) aufschreiben, denn die von Elizabeth (Käsemann) hatte er bereits entdeckt und aufgeklärt. Aber vor allem ging er, um all die anonymen Helden und Heldinnen zu treffen, die für eine gerechtere Welt auf dieser Erde kämpften, jene, die sich nicht brechen ließen, und all die Namenlosen, die auch heute täglich ihre Kämpfe führen, ohne in der Zeitung aufzutauchen. Ihnen hörte Osvaldo immer zu und gab ihnen eine Stimme.

Viejo querido, geliebter Alter, danke für all das, was du uns beigebracht hast – als deine Kinder, als Kämpfende, als Bürger und Bürgerinnen, als Menschen.

Lass dich noch einmal umarmen, so wie wir das zuletzt vor kaum einer Woche getan haben.

Erinnerungen an Osvaldo Bayer Im FDCL, Januar 2019 (Foto: FDCL)

 


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

KLASSENFRAGE ABTREIBUNG

Wie organisiert ihr euch als Anarchist*innen?
Ich bin in der Radio-Gruppe Rosas Negras, die zu verschiedenen Themen Sendungen macht. Rosas Negras besteht aus verschiedenen feministischen Gruppen. Wir unterstützen Proteste, wie für die Entkriminalisierung von Abtreibungen. Wir sind zwar wenige, aber wir arbeiten daran, ein anarchafeministisches Kollektiv aufzubauen, weil ein Großteil der feministischen Organisationen eher wie NGOs organisiert sind oder Verbindungen zur Kirche haben.

Habt ihr keine Probleme dabei, wenn ihr offen als Anarchist*innen auftretet? In Mexiko gibt es ja eine wahre Hexenjagd gegen vermeintliche Anarchist*innen.
Mit dem Radio hatten wir bisher keine Probleme. In El Salvador kennen die Leute Anarchismus nicht. Die Polizei zum Beispiel hat überhaupt keine Vorstellung davon, was Anarchismus sein soll (lacht). Klar, Besetzungen zum Beispiel sind schwierig. Wenn wir versuchen, etwas zu besetzen, geht das nicht, weil es kein Verständnis dafür gibt.

Und habt ihr auch politische Probleme?
Grundsätzlich gibt es weniger politische Organisierung, weil 2009 mit der FMLN eine linke Partei die Wahl gewonnen hat und viele Leute die Erwartung hatten, dass sich mit dieser Regierung etwas ändern würde. Mittlerweile sehen die Leute aber, dass es wenig Unterschiede zwischen der einen und der anderen Seite gibt. Es fängt wieder an, dass sich die Leute organisieren. Wir versuchen eine Diskussionsplattform zu etablieren, die linke Alternativen aufbauen kann. Daran gibt es ein großes Interesse von den Leuten, weil sie sehen, dass die Dinge eben nicht besser werden.

Heißt das also, dass sich die Leute jetzt mehr organisieren?
Im Moment ist das eher am Entstehen, und es gibt vor allem Diskussionen. Bis jetzt wird eher wenig gemacht, aber es wird mehr.

Und was sind die Themen, die diskutiert werden?
Was wir machen, ist die Situation zu analysieren. Eines der Themen ist das Abtreibungsverbot, ein anderes das Rentensystem. Im Moment gibt es ein privates und ein öffentliches Rentensystem. Die Regierung will, dass die Rente hauptsächlich öffentlich wird und man sich zusätzlich privat versichern kann, was die Opposition verhindern will. Ein anderes Problem ist, dass die Regierung gerade die Renten nicht auszahlen kann, weil die rechte Opposition die Regierung unter Druck setzt, damit keine neuen Kredite aufgenommen werden. Im Moment gibt es also keinen Haushalt. Und klar, ein Thema, das man über El Salvador immer wieder hört, ist das der Gewalt, der Banden. Das ist ein sehr schwieriges Thema, unter anderem, weil die Regierung nur auf Repression setzt, bis hin zu extralegalen Hinrichtungen durch die Polizei.

Kannst du etwas genauer auf das Abtreibungsverbot eingehen?
Bis 1998 waren Abtreibungen erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr war, im Fall von Vergewaltigungen oder wenn der Fötus nicht überlebensfähig war. Seit 1998 sind Abtreibungen komplett verboten. Es gab auch schon immer ein religiös motiviertes Vorurteil, dass Abtreibungen nicht erlaubt werden sollten. Das komplette Abtreibungsverbot wurde durch Druck von katholischen Gruppen umgesetzt.

Und wie wirkt sich dieses Abtreibungsverbot aus?
Es gibt Fälle von Frauen, die im Gefängnis sind, wei sie eine Fehlgeburt hatten. Ihnen drohen Haftstrafen von bis zu 30 Jahren. Es gibt eine Kampagne, die „17 y más“ (17 und mehr) heißt, die sich um 17 bekannte Fälle kümmert und sich dafür einsetzt, dass Frauen, die wegen Fehlgeburten im Gefängnis sind, freikommen. Eine Frau, die sechs Jahre im Gefängnis war und mittlerweile freigekommen ist, hat Asyl in Schweden erhalten. Die Kampagne hat mit 17 Frauen angefangen, aber es gibt viel mehr Fälle, in denen Frauen im Gefängnis sitzen.

Und diese Frauen sind im Gefängnis, nur weil sie abgetrieben haben?
Ja, aber eigentlich nein, wegen Fehlgeburten, für die sie aber verurteilt wurden, als hätten sie abgetrieben. Wegen einer Abtreibung kann man bis zu 30 Jahre ins Gefängnis kommen, aber ihnen werden zusätzlich andere Vergehen angehängt, wie Mord. Ein Problem ist, dass das medizinische Personal, das Abtreibungen durchführt, dafür bis zu zwölf Jahre ins Gefängnis kommen kann. Sie rufen dann die Polizei, weil sie keine Probleme haben wollen.

Und warum rufen die Leute die Polizei?
Das hat viel mit dem Einfluss der Religion und Unwissen zu tun. Weil die Leute denken, dass das Absicht gewesen sei, dass diese Person keine Fehlgeburt hatte, sondern abtreiben wollte. Es ist bekannt, dass das als Verbrechen gilt, also rufen sie die Polizei.

Und was ist die Position der Regierungspartei FMLN?
Aktuell hat die Regierung einen Gesetzesentwurf eingebracht, der Abtreibungen entkriminalisieren soll. Es gibt viele Organisationen, die diesen Vorschlag unterstützen. Ziel ist es, wieder auf den Stand von vor 1998 zu kommen, es geht also um die Frage, ob Abtreibungen in bestimmten Fällen legalisiert werden können. Wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, wenn der Fötus keine Überlebenschance hat, nach Vergewaltigungen. Das Problem ist, dass die FMLN keine Mehrheit hat und sich, um das Gesetz umzusetzen, mit kleineren Parteien zusammentun müsste. Das versuchen sie, aber auf der anderen Seite ist dann der Vorschlag von ARENA (der rechten Oppositionspartei, Anm. d. Red.), die Strafen für Abtreibung auf bis zu 50 Jahre zu erhöhen.

Abgetrieben wird immer. Wie wird das gemacht? Und vor allem, wer macht das?
In vielen Fällen wird das im Geheimen gemacht. In Privatkliniken gibt es einige Ärzte, die das machen und als Fehlgeburt registrieren. Dass hat viel damit zu tun, dass in Privatkliniken die Patienten wie Kunden betrachtet werden, die dafür zahlen können, Zugang zu einer Privatklinik zu haben. Arme Frauen, die in öffentliche Krankenhäuser gehen, haben das Problem, dass dann dort im Zweifel die Polizei gerufen wird. Frauen, die die ökonomischen Mittel haben, gehen zum Beispiel nach Mexiko und lassen die Abtreibung dort durchführen. Diejenigen Frauen, die ins Gefängnis kommen, sind arme Frauen. Das ist also eine Klassenfrage.

 


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

ANARCHISMUS AUSSERHALB DER BLASE

Isabel (26) und Victor (28) leben in Temuco und arbeiten bei der Zeitschrift Mingako mit. Sie waren im April als Referent*innen einer von der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen mitorganisierten Infotour mit dem Thema „Anarchismus in Chile“ in ganz Europa unterwegs.
Isabel (26) und Victor (28) leben in Temuco und arbeiten bei der Zeitschrift Mingako mit. Sie waren im April als Referent*innen einer von der Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen mitorganisierten Infotour mit dem Thema „Anarchismus in Chile“ in ganz Europa unterwegs.

Was ist die Idee hinter der Zeitschrift Mingako?
Isabel: Um das zu erklären, muss man beim Namen anfangen. Mingako ist ein Konzept, das vor allem im ländlichen Chile verwendet wird und ist eine Mischung aus einem Aymara- und einem Mapuchewort. Damit bezeichnet man solidarische Akte, bei denen kein Geld angeboten oder gefordert wird. Zum Beispiel, wenn jemand eine Mauer bauen oder Saatgut säen muss und Hilfe bekommt. Die Person, der geholfen wird, bietet im Austausch dafür eine Feier an. Es wird also solidarisches Arbeiten und Feiern verbunden. Die Idee der Zeitschrift geht von diesem Begriff aus und fängt damit an, wie wir uns organisieren. Am Projekt beteiligen sich verschiedene Einzelpersonen und Kollektive aus verschiedenen Regionen Chiles. Dabei konzentrieren wir uns auf die Kämpfe um Land, weil es in Chile in allen Regionen verschiedene Angriffe auf Land gibt. Diese gehen vom Bündnis des chilenischen Staates mit transnationalen Konzernen aus, wie dem Bergbau im Norden oder der Forstwirtschaft im Süden. Wir haben uns dann mit verschiedenen Kollektiven zusammengetan, um diese Problematik aus einer anarchistischen Perspektive zu analysieren.
Victor: Chile ist lang und schmal, dementsprechend ist es manchmal schwierig, mit Leuten in Kontakt zu treten. Die Zeitschrift dient auch dazu, uns mit Leuten aus anderen Territorien in Verbindung zu setzen, die ähnliche Kämpfe in anderen Kontexten führen. Die Zeitschrift ist auch nicht doktrinär anarchistisch, wir stellen uns nur Fragen aus dieser Perspektive. In mancher Hinsicht sind wir aber auch komplett unwissend und bitten dann Leute um Hilfe, die mehr Ahnung von bestimmten Themen haben, wie zum Beispiel Wassertechniker. Die Zeitschrift dient nicht nur der Vernetzung, sondern auch dazu, uns selber weiterzubilden. Denn in vielen Fällen kennen wir die Konzepte nicht, die nötig sind, um in politische Konflikte treten zu können.

Wie finanziert ihr eure Zeitschrift?
Victor: Bis jetzt haben wir uns durch Beiträge von Personen finanziert, die mit dem Projekt verbunden sind. Die Idee ist, unsere Zeitschrift in die Kioske zu bringen, um sie auch außerhalb der Blase, in der wir uns bewegen, zu verteilen. Wie wir das erreichen wollen, ist noch nicht ganz klar. Wir könnten die Zeitschrift auch zu einem festen Preis verkaufen, aber das wollen wir nicht. Bisher haben wir die Zeitschrift verschenkt.
Isabel: Als die Zeitschrift geboren wurde, war das eine der Diskussionen, die wir geführt haben. Verkaufen wir die Zeitschrift? Oder verteilen wir sie? Wir haben uns dazu entschieden, sie gegen Spende zu verteilen.

Verteilt ihr sie in ganz Chile?
Isabel: Im Allgemeinen gibt es sie dort, wo Leute aus dem Kollektiv sind. Aber wir verschicken sie auch an Leute, die uns danach fragen.
Victor: Es gibt sie auch im Internet und sie kann und soll selber ausgedruckt werden.

Der Großteil des politischen Lebens spielt sich in Santiago ab. Gibt es dadurch, dass ihr in Temuco aktiv seid, nicht Probleme, sich mit anderen Gruppen zu vernetzen?
Isabel: Klar haben wir Probleme. Aber auch wenn die Distanzen groß sind, gibt es Kontakt zwischen den verschiedenen Regionen und wir arbeiten zusammen. Ich habe beispielsweise in Valparaíso gelebt und kenne Leute dort.
Victor: Mingako ist ein Kollektiv ohne Leute aus Santiago. Das hat glaube ich damit zu tun, dass in der Provinz die Weltsicht nicht so dogmatisch ist. In Santiago gehen die Aktionen nicht über die kleine Welt dort hinaus. Das ist auch eine Selbstkritik, da ich an solchen Sachen teilgenommen habe.
Isabel: Es gibt aber auch Leute aus Santiago, die an Aktionen in den Regionen teilgenommen haben.

Teil eurer Infotour ist auch der Anarchismus in Chile heute. Wo sieht man diesen, abseits von euren Kollektiven?
Victor: Ich habe den Eindruck, dass der Anarchismus in Chile und überall auf der Welt immer sehr divers war. Es gab immer viele Strömungen und Gruppen. Das ist wichtig, um sich diesem Thema zu nähern. Der Anarchismus in Chile ist eine heterogene Bewegung die in den 90er Jahren wieder zum Leben kam. Während es in anderen Ländern, wie Spanien, Argentinien und Uruguay, Kontakt mit der älteren Generation von Anarchisten gab, gab es das in Chile nicht. Die jungen Leute, die zur anarchistischen Bewegung dazustoßen, mussten den Anarchismus neu entdecken und teilweise neu erfinden. Das lief dann zum Beispiel über die Kämpfe für die Freiheit der politischen Gefangenen der marxistischen Gruppen, über die ökologischen Kämpfe, die sexuelle Befreiung. Alles Themen, über die vorher nicht viel geredet wurde. Im Allgemeinen denke ich, dass in Chile in den letzten zehn Jahren mehr über Anarchismus geredet wurde, als dies seit Langem der Fall war. Der Anarchismus erschien wie etwas, das in den 1920er Jahren ausgestorben war.
Vor allem in den Kämpfen um Bildung im Jahr 2006 und 2011 kam das Thema mit allen Vorurteilen, die es schon immer gab wieder an die Tagesordnung: Die Medien fingen wieder an, den Anarchismus zu dämonisieren, auch weil dieser mit vielen Terroranschlägen verbunden wurde. Aber das Interessante ist, dass sich viele Jugendliche – ausgehend davon, dass wieder über Anarchismus geredet wurde – mit dem Thema beschäftigt haben. Und heute sind anarchistische Ideen einerseits in explizit anarchistisch organisierten Gruppen präsent, andererseits aber auch implizit mit den Ideen der Selbstverwaltung, der Horizontalität, dem Kampf gegen die Bürokratie, direkten Aktionen und so weiter verbunden. Diese Ideen werden heute selbst von post-marxistischen Gruppen aufgegriffen.
Ich denke, dass das alles mit der Bildungsbewegung angefangen hat, die einen Großteil ihrer Forderungen an den Staat gestellt hat. Es ist ja nicht sonderlich anarchistisch, etwas vom Staat zu fordern. Aber diese Kämpfe haben den Kontext geliefert, in dem die Basisversammlungen stattgefunden haben, bei denen es selbstverständlich ist, dass es keine Hierarchien gibt. Oder beispielsweise, dass, wenn man Geld auftreiben will, man das selber machen muss. Anarchistische Ideen haben sich also sehr weit verbreitet und ich denke, das wird auch noch weiter gehen.

Ist das nicht ein bisschen optimistisch, wenn zwar die Arbeitsweise anarchistisch inspiriert ist, die Forderungen aber nur an den Staat gerichtet und reformistisch sind?
Isabel: Ich denke, dass beide Situationen, 2006 und 2011, wie eine Eingangstür zu anarchistischen Ideen für viele Leute waren. 2006 war ein Schlüsseljahr, weil dort sehr viele junge Leute zum ersten Mal solche Ideen kennengelernt haben und das hat sich bis heute fortgesetzt. Innerhalb der Bewegung gibt es aber immer noch viele Strukturen, die von marxistischen Organisationen geprägt sind. Die Forderungen werden dann am Ende – wie schon immer in Chile – von Vertretern solcher Organisationen nach außen getragen, auch wenn in letzter Zeit der Organisierungsgrad in politischen Parteien bei jungen Leuten in Chile enorm abgenommen hat.
Victor: Das ist etwas, das sich auch bei den ökologischen Kämpfen beobachten lässt. Die Anarchistinnen und Anarchisten haben mit verschiedensten Gruppen zusammengearbeitet und die Arbeitsweisen verbreitet. Gleichzeitig gibt es aber eine staatszentristische Hegemonie, was die Forderungen der sozialen Bewegungen betrifft. Der Staat wird als die Institution betrachtet, an die man sich wendet, um Transformationen zu erreichen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Anarchismus von einer marginalen Minderheit vertreten wird. Zwar ist der Anarchismus am Erstarken, er bleibt aber eine Minderheitenposition. In den letzten Jahren war es vor allem so, dass sich der Anarchismus auf einen sehr kleinen Kreis an Leuten beschränkte, die sich mit sich selbst beschäftigten. Glücklicherweise hat sich das in den letzten zehn Jahren etwas geändert und es wird sich weniger mit einer anarchistischen Ästhetik – wie wir uns anziehen, welche Musik wir hören – als damit beschäftigt, wie wir unsere Ideen verbreiten können. Uns fehlen aber Freiräume, wo wir unsere Ideen in die Praxis umsetzen und experimentieren können. Und ich denke, das müssen wir machen, um nicht immer nur zu reagieren.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Newsletter abonnieren