Salinas Grandes unter Druck

„Nein zum Lithium – Ja zu Wasser und Leben“ Protestschilder auf dem Salzsee Salinas Grandes im Norden Argentiniens (Fotos: Sol Izquierdo)

Verónica Chávez öffnet einen kleinen Stoffbeutel. Sorgsam wählt sie Cocablätter aus und wirft sie aus dem Fenster des Beifahrersitzes. Einmal, zweimal, dreimal, bei voller Fahrt. „Für Pachamama, für Mütterchen Salinas”, murmelt sie dabei leise. Die Cocablätter landen auf der schneeweißen Salzkruste von Salinas Grandes. Weitere schiebt sich Chávez langsam in die rechte Backe, kaut auf ihnen herum und saugt schließlich ihren belebenden Saft.

Es ist August, die Indigenen Gemeinschaften des Andenhochlands feiern den Monat von „Mutter Erde“, der Pachamama. So auch die Kolla hier im Norden von Argentinien, die in unmittelbarer Umgebung des auf 3.450 Metern über dem Meeresspiegel liegenden Salzsees Salinas Grandes leben. Viele von ihnen arbeiten im Tourismus, ein Bereich, der in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist. Andere bauen Salz in selbstgeführten Kooperativen ab, unter körperlich herausfordernden Bedingungen. Und sie kämpfen dagegen, dass Bergbauunternehmen mit der Produktion von Lithium in den Salzseen Salinas Grandes und Lagune Guayatayoc beginnen. Ihre Sorge: Das könnte ihnen die Lebensgrundlage entziehen.

Seit mehr als zehn Jahren sind die Gemeinden, die zur Senke Salinas Grandes gehören, organisiert, erzählt Verónica Chávez. Die 50-Jährige ist Vorsitzende des Dorfes Santuario Tres Pozos, das nordwestlich des Salzsees liegt. Sie ist klein gewachsen, ihre langen schwarzen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, auf dem Kopf sitzt ein breiter Strohhut. Ihr rundliches Gesicht ist freundlich, auch wenn ihre Augen angriffslustig blinzeln.

Das mag zwar auch der erbarmungslos brennenden Sonne geschuldet sein, die sich auf der Salzkruste spiegelt. Doch die Angriffslust ist bitter nötig, denn in den vergangenen Jahren ist der Druck auf die Gemeinden der Umgebung stark gestiegen. Unter der Salzkruste von Salinas Grandes liegt Lithium. Der Rohstoff gilt als zentral für die sogenannte Energiewende, also die Anstrengungen des Globalen Nordens, fossile Energiequellen durch vermeintlich ökologische und nachhaltige Alternativen zu ersetzen. Insbesondere für den Bau von Elektrobatterien ist das leichteste Metall der Erde unabdingbar – und damit für die Elektromobilität ebenso wie für Smartphones, Laptops oder auch die Rüstungsindustrie.

Seit mehr als zehn Jahren sind die Gemeinden organisiert

Jujuy gehört zusammen mit den argentinischen Provinzen Salta und Catamarca sowie Teilen von Chile und Bolivien zum sogenannten Lithiumdreieck. Es wird geschätzt, dass dort mehr als die Hälfte der weltweiten Vorkommen des Leichtmetalls liegen. Auf Argentinien sollen die drittgrößten entfallen. Bis vor kurzem konnten die insgesamt 38 Gemeinden, die sich zur Senke von Salinas Grandes und der angrenzenden Lagune Guayatayoc zählen, das Eindringen von Lithiumunternehmen verhindern. Seit diesem Jahr ist es damit vorbei.

Am südlichen Rand von Salinas Grandes herrscht reger Betrieb. An einem Camp, das hier erst vor kurzem aus dem Boden gestampft wurde, rollen schwere Lastwagen vorbei. Pickups mit Angestellten einer privaten Sicherheitsfirma drehen ihre Runden. Die Stimmung ist bedrohlich. In der Ferne ist auf dem Salzsee ein Bohrturm zu sehen. Im März begann Lithos Minerales del Norte hier mit ersten Explorationsarbeiten. Dabei wird untersucht, unter welchen Bedingungen Lithium produziert werden kann. Wann es soweit ist, ist noch unklar.

Lithos gehört zur Gruppe Pan American Energy. Die befindet sich wiederum im Besitz der argentinischen Familie Bulgheroni, dem britischen Ölunternehmen BP und dem chinesischen Konzern CNOOC. Den Arbeiten vorausgegangen war eine vorherige Konsultation (Consulta Previa) in der angrenzenden Gemeinde Lipán, bei der eine Mehrheit der Befragten ihr Einverständnis zu den Arbeiten gab.

„Nie habe ich eine derartige Eskalation erlebt“

Doch das Unternehmen ist keineswegs nur auf dem Teil des Salzsees aktiv, der zu Lipán gehört. Chávez und andere Aktivist*innen beklagen, dass sich die Arbeiten auch auf die angrenzenden Gebiete von Ojo del Salar und Angosto erstrecken. Und auch die Consulta Previa sei unter merkwürdigen Umständen vonstatten gegangen, erzählt Chávez. So sei sie außerordentlich anberaumt worden, weshalb nicht alle Bewohner*innen hätten teilnehmen können. Außerdem seien wichtige Persönlichkeiten von Lipán „gekauft“ worden, darunter auch die frühere Bevollmächtigte der Gemeinde, die nun Abgeordnete sei. „Die anderen Leute hat sie hängen lassen“, zeigt sich die 50-Jährige enttäuscht.

„Ich streite für eine gute Sache” Verónica Chávez denkt nicht ans Aufgeben

Eigentlich haben alle 38 Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc verabredet, nur gemeinsam Entscheidungen zu möglichen Lithiumprojekten zu treffen. 2015 beschlossen sie das sogenannte Kachi Yupi, ein Protokoll, das konkrete Verfahren für vorherige Konsultationen formuliert. Diese stehen in Übereinstimmung mit der ILO-Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation. Sie gibt Indigenen Gemeinschaften das Recht, vorab befragt zu werden, wenn geplante Projekte zur Rohstoffausbeutung ihre Territorien betreffen. Auch Argentinien hat das Übereinkommen ratifiziert.

Besonders die große Menge an Wasser, die für die Produktion von Lithium benötigt werden, macht den Gemeinschaften von Salinas Grandes Sorgen. Befürworter*innen der Lithiumindustrie erklären zwar, dass vor allem Sole, also extrem salzhaltiges Wasser, für die Gewinnung des Leichtmetalls verwendet würden. Chávez geht jedoch davon aus, dass es sich bei rund 20 Prozent der benötigten Mengen um Süßwasser handeln würde. „Wasser bewegt sich. Es fließt unterirdisch und kennt keine Grenzen“, gibt die Aktivistin zu bedenken. Die Befragung einzelner Gemeinden mache also keinen Sinn, da das Wasser der Senke allen der rund 7.000 Bewohner*innen gehöre, die in unmittelbarer Umgebung von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc leben. „Wir wollen das Wasser bewahren und in Ruhe gelassen werden, um weiter so leben zu können, wie es schon unsere Großeltern getan haben“, sagt Chávez energisch.

„Denen, die wirklich hier leben, hören sie nicht zu.“

Doch die Unternehmen, die an den Lithiumvorkommen der Region interessiert sind, finden zuletzt immer häufiger Wege, die Gemeinschaft gegeneinander auszuspielen. Lipán war nur die erste Gemeinde, die offiziell einem Projekt zustimmte. Ebenfalls im vergangenen Jahr unterstützten Sauzalito y Quera und Aguas Calientes den Start von Explorationsarbeiten in der Lagune Guayatayoc – noch haben diese nicht begonnen. Ende Juni dieses Jahres stimmten – so die Angaben von Tecpetrol, einem Erdölunternehmen, das zum italienisch-argentinischen Multi Techint gehört – die Bewohner*innen von Rinconadillas einem Projekt in derselben Lagune zu. Für Chávez ist klar: „Sie spalten uns.“ Ebenso wie in Lipán seien bei der Consulta Previa in Rinconadillas nur einige Familien und nicht die gesamte Gemeinschaft befragt worden. Bei diesen habe es sich, zeigt sich die Aktivistin überzeugt, um die gehandelt, die gar nicht in der Gemeinde, sondern beispielsweise in der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy lebten. „Denen, die wirklich hier leben, hören sie nicht zu.“

Der Parador Santuario Tres Pozos dient als Eingang für Tourist*innen zum Salzsee. Kommt ein Reisebus an, wird die Stille kurz durchbrochen und die Ankommenden werden begrüßt durch ein riesiges Lama aus Salz, Sitzgelegenheiten aus Salzblöcken, Ständen mit Empanadas und den für die Region typischen Mehlfladen Tortillas. Im Hintergrund ragen in großer Zahl Holzschilder aus der schneeweißen Landschaft, auf denen der Schutz des Wassers gefordert und Lithiumprojekten eine Absage erteilt wird. Die Ablehnung gegen den Lithiumabbau scheint hier Konsens zu sein.

Die klare Haltung ist Resultat des langen Kampfes der Indigenen Gemeinschaften. Chávez erzählt: „Im Jahr 2010 tauchten die ersten Unternehmen auf.” Sie und andere hätten damals zunächst in einer Enzyklopädie nachgeschlagen, was es mit dem Lithium auf sich habe. Als sie sich gegen den Bergbau aussprachen, sei versucht worden, sie zu kaufen. „Aber ich habe ihnen gesagt, dass ich die Interessen der zukünftigen Generationen niemals mit Füßen treten werde.“ Heute sei die absolute Mehrheit gegen Lithiumprojekte.

Salzabbau in Salinas Grandes Unter der Salzkruste liegt Lithium

Alicia Chalebe vertritt die Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc seit ihren ersten Aktionen gegen die Lithiumunternehmen als Anwältin. Neben Straßenblockaden und Demonstrationen setzen sie auch auf rechtliche Schritte, um ihre Interessen durchzusetzen. Eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof Argentiniens wurde 2012 abgewiesen und an die Gerichte der Provinzen verwiesen. Daraufhin brachten die Gemeinschaften ihren Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof.

Besonders in den vergangenen Jahren sei „der Druck durch die Bergbauunternehmen enorm gestiegen“, gibt Chalebe zu bedenken. Einen „Wendepunkt“ sieht sie dabei auch in der Änderung der Verfassung der Provinz Jujuy, die Ende Juni 2023 vom damaligen Gouverneur Gerardo Morales durchgesetzt wurde. Sie schränkt das Demonstrationsrecht drastisch ein, indem Straßenblockaden verboten werden und erleichtert die Vertreibung von Gemeinschaften in Gebieten, in denen es Lithium und andere Rohstoffe gibt. Von beiden Neuerungen sind besonders Indigene betroffen. Proteste gegen die Verfassungsänderung, bei denen gerade auch die Indigenen Gemeinschaften eine zentrale Rolle spielten, ließ die Regionalregierung brutal niederschlagen. Unter dem Namen Tercer Malón de la Paz marschierten Indigene Vertreter*innen in die über 1.500 Kilometer entfernte Hauptstadt Buenos Aires.

„Nie in den rund 35 Jahren, die ich meinen Beruf ausübe, habe ich eine derartige Eskalation erlebt“, zeigt sich Chalabe noch heute erschüttert über den Umgang der Provinzregierung mit den Protestierenden. Davon sei das Zeichen ausgegangen: „Wir setzen auf Konfrontation.“ Das könne sich in Zukunft durchaus noch als Problem für die Regierung herausstellen, glaubt die Anwältin. Denn: Lithiumunternehmen investieren lieber in Regionen, in denen es keine Konflikte gibt. „Sie sind nicht dumm. Niemand will sich Probleme kaufen.“

Der Druck dürfte durch neue Gesetze noch zunehmen

In Argentinien gehören die im Untergrund liegenden Rohstoffe seit 1994 den Provinzen und nicht dem Nationalstaat. Trotzdem hat auch die neue argentinische Regierung, die vom Ultralibertären Javier Milei angeführt wird, durchaus Folgen für die Indigenen Gemeinschaften von Jujuy. Milei, der auf eine verstärkte Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch ausländische Investoren setzt, brachte im Juni das Gesetzespaket Ley Bases durch das Parlament – der erste Erfolg seit seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023. Teil dessen ist das „Anreizsystem für Großinvestitionen“ (RIGI), mit dem ausländisches Kapital durch erhebliche Steuervorteile, laxe Auflagen für den Umweltschutz und andere Privilegien dazu gebracht werden sollen, in Argentinien zu investieren.

Ziel sei es, so Luis Lucero, Bergbauminister der argentinischen Regierung, im August gegenüber Reuters, Lithium zum „meistexportierten Mineral des Landes“ zu machen. Bereits im vergangenen Jahr steigerte Argentinien die Produktion um 45 Prozent. Obwohl der Weltmarktpreis für Lithium zurückging, wurden Exporte im Wert von fast 850 Millionen US-Dollar getätigt. Für 2024 wird geschätzt, dass rund 70.000 Tonnen produziert werden können, was eine Steigerung von 40 Prozent gegenüber 2023 bedeuten würde.

Der Druck auf die Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc dürfte also noch zunehmen. Ans Aufgeben denkt Verónica Chávez trotzdem nicht. „Ich habe vor nichts Angst, weil ich für eine gute Sache streite“, sagt sie kämpferisch. Und sie habe weiter die Hoffnung, dass es eine Lösung gebe. „Dabei werde ich von meinen Vorfahren, den Apus, unserer Mutter Erde und der Mutter Salinas unterstützt. Sie geben mir Kraft.“ Ihre Augen blinzeln angriffslustig, während sie sich neue Cocablätter in die Backe schiebt.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

“SCHANDE FÜR DIE ARGENTINISCHE JUSTIZ”

Milagro Sala hat das Sagen / Foto: Tupac Amaru

Sie war die erste politische Gefangene der neuen argentinischen Regierung. Milagro Sala, soziale Basis-Aktivistin und eine der einflussreichsten Frauen Argentiniens, wurde im Januar 2016 mit dubioser Begründung festgenommen und saß seither ohne Gerichtsurteil in illegaler Präventionshaft. Am 29. Dezember 2016 schließlich verurteilte sie das Landesgericht der Jujuy wegen „Anstiftung zum Protest“ aufgrund eines Vorfalls aus dem Jahr 2009 zu drei Jahren Haft auf Bewährung. Am darauffolgenden Tag wurde sie in einem parallelen Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit mit einer Geldstrafe sowie einem quasi Berufsverbot belegt, das ihr für drei Jahre und drei Monate die Mitgliedschaft in einer sozialen Organisation untersagt. Beide Urteile haben nicht nur aufgrund zahlreicher Verfahrensfehler, fehlender Beweise oder mangelnder Glaubwürdigkeit des einzigen Zeugen Empörung ausgelöst. Neben dem hohen Strafmaß verstößt das verhängte Verbot, sich in sozialen und kulturellen Vereinen und Organisationen zu beteiligen, gegen das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Protest und öffentliche Meinungsäußerung. Beide Gerichtsprozesse verkommen so zu einer Farce, mit der der amtierende Gouverneur der Provinz Jujuy, Gerardo Morales, versucht, seine größte Widersacherin für den Rest seiner Amtszeit außer Gefecht zu setzen.

Die Dämonisierung der sozialen Figur Milagro Sala und die „fast pathologische Art“, wie sich Gouverneur Morales in den Fall hineinsteigere, seien „ein Skandal“, empört sich Salas Verteidigerin Elizabeth Gómez Alcorta am Tag des ersten Urteils, die Methoden, mit denen die Spielregeln der Justiz mit allen Mitteln umgeworfen werden, „unerhört“. Mit einem fairen Prozess habe sowieso niemand mehr gerechnet, aber das Urteil sei eine „Schande für die argentinische Justiz“, so Alcorta. Die persönliche „Hexenjagd“ des Gouverneurs beruht auf einer langen Geschichte. Denn Sala, von den einen verehrt, von den anderen gehasst, ist in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer unentbehrlichen politischen Figur und sozialen Referenz in der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens geworden. Sie ist Kopf (und Herz) der sozialen Basisorganisation Túpac Amaru, die in den 1990er Jahren als Reaktion auf die politische Krise der Provinz gegründet wurde. Fehlende politische Repräsentation, inaktive Parteien und die „Unregierbarkeit“ einer der ärmsten Provinzen des Landes – kaum ein Gouverneur konnte seine reguläre Amtszeit beenden – führten zu einem politischen Vakuum, in dem Raum für neue Formen der außerparlamentarischen politischen und sozialen Organisation entstand. Die Menschen, geplagt von Massenarbeitslosigkeit und Entlassungen, machten sich diesen Raum zu eigen und entwickelten eine neue Protestkultur, in der sowohl die gewerkschaftliche Organisation als auch die Energie der Arbeitslosen kanalisiert wurde.

Auch Milagro Salas Figur ist in dieser Zeit gewachsen, heraus aus peronistischen Jugendbewegungen und Gewerkschaften und hinein in die neue aktive Rolle, die Frauen in den neuen sozialen Protesten einnahmen. Heute ist sie für viele eine Referenz, die inspiriert und ein anderes Selbstvertrauen gibt. Denen, die am wenigsten haben, Würde zu geben, sei das, was sie bei der Túpac gemacht habe, sagt sie selbst noch vor der Urteilsverkündung: „Wir haben gearbeitet, ausgebildet, erklärt, uns die Kultur der Arbeit zurückerobert. Und Arbeiten bedeutete, jedem einzelnen unserer compañeros Würde zu geben“.

Milagro Salas Organisation Túpac Amaru hat allein in Jujuy über 70.000 Mitglieder und ist als politische und soziale Akteurin in der Provinz nicht mehr wegzudenken. Die Túpac, wie sie in Kurzform genannt wird, verteilt Ressourcen des Staates um und ist der gesellschaftliche Kitt, der die Nachbarschaft organisiert und zusammenhält, für Ordnung sorgt, Protestpotenzial bündelt. Sie setzt sich für die ein, die es am meisten benötigen, mit Wohnraum, Bildung, medizinischer Versorgung und sozialem Zusammenhalt. Gefestigt hat sich die Stellung der Organisation vor allem seit 2003 durch die zunächst skeptische, dann immer fruchtbarere Zusammenarbeit mit den Vorgängerregierungen Néstor und Cristina Kirchners. Túpac Amaru ist ein Paradebeispiel für die Rolle sozialer Organisationen im Kirchnerismus als Mittlerin zwischen Staat und ärmeren Teilen der Bevölkerung auf lokaler Ebene. Eine relativ neue Erscheinung – politischer Aktivismus, der zwar nicht parteilich gebunden ist, aber dennoch starke Verbindungen zur damaligen Regierungspartei Frente para la Victoria unterhielt.

Über die effiziente Verwaltung von Sozialprogrammen der Bundesregierung gewann die Túpac Bedeutung und Einfluss. Dabei bildete sie ein Flaggschiff in der Entwicklung von Kooperativen und dem damit verbundenen Wirtschaftsmodell, setzte sich ein für Arbeiter*innen- und Menschenrechte. In den eigens gegründeten Kooperativen zur Umsetzung von öffentlichen Programmen zum sozialen Wohnungsbau konnten sie vorhandene Mittel weitaus schneller, sparsamer und zielführender einsetzen als private Baufirmen und dabei weitaus mehr Menschen beschäftigen. Über 8.000 Wohnungen und ganze Stadtviertel wurden in Jujuy von den Menschen gebaut, die später selbst darin wohnen sollten. Auch das benötigte Material wurde in kooperativ betriebenen Fabriken produziert, somit Mittelsmänner ausgeschaltet und die eingesparten Ressourcen in Gesundheitszentren, Schulen, Rehabilitierungs- und Freizeitangebote innerhalb der Wohnblöcke investiert. Die Implementierung der staatlichen Programme hat die Túpac Amaru zu einem der größten Arbeitgeber in der Provinz gemacht. Mit dem Machtwechsel in Buenos Aires fiel Ende 2015 der größte Finanzgeber für die Túpac weg.

Die Gerichtsprozesse waren die reinste Farce.


Um die unangefochtene Führungsperson Milagro Sala existiert nahezu ein Kult. Wichtige Entscheidungen werden zwar im Plenum diskutiert, aber das Sagen hat Milagro Sala. Sie leitet mit Härte und Disziplin, es heißt, nicht wenige ihrer Anhänger*innen würden bis ans Äußerste für sie gehen. Sala hat selbst auf der Straße gelebt. Ihr politischer Aktivismus hat sie aus der Marginalität geholt, weg vom Drogensumpf und einem Leben zwischen Knast und Straße. Dort ist sie allerdings durch eine harte Schule gegangen und hat sich den Respekt der Menschen erkämpft. Durch Stärke, Strenge, Verbindlichkeit und Geradlinigkeit. Deswegen sind sie und die Organisation von den villeros, den Menschen, die in den Armenvierteln leben, akzeptiert, denn sie fühlen sich repräsentiert. Milagro Sala hat zudem die Fähigkeit, sich der konkreten Probleme der Menschen anzunehmen und sie oft gar zu lösen – mit staatlichen Mitteln. So wie es eigentlich sein sollte.

Doch durch ihr zunehmendes Gewicht ist die Organisation der Machtelite ein Dorn im Auge. Und Milagro Sala, als ihr Aushängeschild, wird als „Provokation“ wahrgenommen. Denn in der stark von Rassismus und Klassismus geprägten Provinz geht es nicht nur um politische und territoriale, sondern auch um symbolische Macht. Milagro Sala ist das absolute Gegenteil dieser Machtelite, von der sie gehasst wird: Sie ist eine Frau, sie ist Schwarz, das heißt nicht weiß, sie stammt nicht aus der Oberschicht, sondern aus dem Slum, sie sieht aus wie eine Indígena, so wie alle einfachen Menschen im Norden Argentiniens, deren sozialer Status sinkt, je dunkler die Hautfarbe. Aber sie ist stolz, rotzig und trotzig statt unterwürfig – ein Affront. Social Media-Kampagnen gegen sie sind oft von grauenhaftem Rassismus durchzogen. Dass sie, dieses „Negativ“ der weißen Justiz- und Politikelite, Ansehen, Macht und Einfluss gewonnen hat und in ihrer Arbeit Prinzipien umsetzt, die den herrschenden Status quo herausfordern, ist für diese eine Verhöhnung. Für sie ist die Túpac Amaru allemal eine Unruhestifterin und gefährlich aufgrund des enormen Protestpotenzials, der politischen Mobilisierungskraft und ihrer Legitimation in der Bevölkerung. Mit ihren Anhänger*innen können sie die ganze Provinz lahmlegen. In den vergangenen Jahren gab es Dutzende (mittlerweile eingestellte) Anzeigen gegen Sala, bei denen es immer um Widerstand gegen die Staatsgewalt ging – Demonstrationen, Besetzungen, Auseinandersetzungen mit der Polizei. Aber die Túpac ist weit mehr als bloßer Protest.

Die von der Túpac gebauten Stadtviertel sind eine Art Sozialbau, der seinesgleichen vergeblich sucht. In der britischen Zeitung The Guardian verglich der Journalist McGuirk das von Túpac gebaute Barrio Alto Comedoro mit einer ironischen Version der Country Clubs der Reichen, einer Kombination aus Vorstadt, disneyeskem Vergnügungspark und radikalem Sozialismus. Denn neben den Freizeitbädern wurden Nachbildungen indigener Kultstätten Tiwanakus gebaut und prangt die gesammelte revolutionäre Ikonographie auf den Wasserspeichern des Viertels: die Konterfeis Che Guevaras, Evitas und Túpac Amarus, Widerstandskämpfer der Indigenen gegen die spanische Kolonialisierung. Die Sport- und Freizeitangebote sind symbolische Gesten, die aber auch dazu führen, dass in den Vierteln eine Community nicht nur durch das Wohnen im Ballungsraum entsteht, sondern durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, die sonst nur Reichen vorbehalten sind. Die Wohnprojekte seien ein „Stinkefinger für Politiker und private Bauunternehmen“, so McGuirk.

Nicht weiter verwunderlich, dass die neu gewählte Regierung – bestehend aus der bourgeoisen Elite der Provinz – alles daran setzt, die Organisation zu zerschlagen. Allen voran der ehemalige Senator Gerardo Morales, der im Dezember 2015 zum neuen Gouverneur von Jujuy gewählt wurde. Angetreten war er für die aus Oppositionsparteien zum Kirchnerismus bestehende Wahlallianz Frente Cambia Jujuy, der lokalen Variante der Regierungskoalition Cambiemos von Präsident Maurico Macri auf Bundesebene. Eine von Morales’ ersten Amtshandlungen war die Inhaftierung Milagro Salas. Die vagen und unhaltbaren Anschuldigungen gegen Sala wurden im Laufe der Anklage ständig verändert. Eine klar politisch motivierte Verhaftung, die zudem aufgrund zahlreicher Unregelmäßigkeiten im Verfahren unrechtmäßig war. Festgenommen wurde Milagro Sala zunächst am 16. Januar 2016 aufgrund eines friedlichen Protestcamps zur Zahlung von Sozialprogrammen und Wiederaufnahme des Dialogs mit der neu gewählten Regierung: „Anstiftung zu kriminellen Aktivitäten“.

Salas ist das Gegenteil der regierenden Machtelite.

Nachträglich wurde die Anklage fallengelassen, aber am selben Tag mehrere Klagen aufgrund anderer Delikte eingereicht – Veruntreuung öffentlicher Gelder, öffentlicher Aufruhr, Nötigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Das Protestcamp wurde stattdessen in einem Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit verhandelt, woraus das Urteil vom 30. Dezember resultierte. Das Vergehen, das jetzt vor dem Strafgericht beschieden wurde, ist allerdings ein Eierwurf aus dem Jahr 2009 auf den damals noch als Senator tätigen Morales, zu dem Sala angeblich aufgerufen haben soll, sie selbst aber nicht einmal anwesend war. Keine der anhängigen Klagen hatte jedoch die bald ein Jahr andauernde Präventionshaft gerechtfertigt, die unter höchst dubiosen Umständen zustande gekommen war: mit einem ad hoc erweiterten Obersten Gerichtshof, der dann von ehemaligen Abgeordneten aus der Partei neu besetzt wurde, die zuvor für seine Erweiterung gestimmt hatten; mit per Dekret ernannten Staatsanwält*innen, mit Untersuchungen ohne Durchsuchungsbefehl, mit Aufnahme von Anklagen in der Ferienzeit der Gerichte, mit Diffamierungen der Verteidiger*innen von Milagro Sala und vielen weiteren Unregelmäßigkeiten im Verfahren im Laufe des vergangenen Jahres, die gegen lokale und nationale Rechtsprechung verstoßen. Die Willkürlichkeit der Methoden, mit denen versucht wird, Sala außerhalb rechtlicher Konventionen in Haft zu behalten, zeigt eine Gesetzesinitiative aus Morales Regierungskoalition kurz vor der Urteilsverkündung, die sich für ein Referendum über den Verbleib in Untersuchungshaft der Angeklagten einsetzt. In Jujuy sind Justiz und Politik so sehr miteinander verknüpft, dass praktisch keine Unabhängigkeit besteht. Man könne gar nicht von Rechtstaatlichkeit sprechen, erklärt der Journalist und Menschenrechtler Horacio Verbitsky. Zu alledem müsste Sala als Abgeordnete des PARLASUR eigentlich parlamentarische Immunität genießen und auch die UN-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Festnahmen hatte bereits im Oktober 2016 bestätigt, dass es keine legale Rechtfertigung für die Inhaftierung Salas geben würde – ohne Reaktion.

Auch nach der Urteilsverkündung gibt es weiterhin keine rechtliche Handhabe dafür, dass Sala in Haft verbleibt. Da es sich bei der Freilassung aber um eine rein politische Entscheidung handele, bleibe diese sehr unwahrscheinlich, bis sich die Machtverhältnisse geändert hätten, so die Pressesprecherin der Túpac Amaru Sabrina Roth gegenüber den LN. Dass die Willkürlichkeit und Korrumpierung des Justizsystems durch die Provinzregierung auch auf Bundesebene Unterstützung findet, ist besonders besorgniserregend. Denn nicht nur verfassungsmäßige Garantien und Regeln des Strafrechts werden missachtet, sondern friedlicher Protest und freie Meinungsäußerung werden als schwerwiegende kriminelle Handlungen dargestellt und auch als solche geahndet. Das kürzliche Urteil gegen Milagro Sala ist daher ein gefährlicher Präzedenzfall im Zusammenhang mit der Verbindlichkeit von grundlegenden Menschenrechten und vertieft die Sorge der Aktivist*innen um ein wieder aggressiver werdendes Klima gegenüber sozialen Protesten im neoliberal regierten Argentinien.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Newsletter abonnieren