IM WIRBELSTURM

Alexey Rosales Piedra schnauft durch. Endlich kann er seine Ferien antreten, nachdem er drei Wochen mehr oder weniger durchgearbeitet hat. Seit mehr als zwanzig Jahren ist der 42-Jährige aus Havannas zentralem Stadtteil Centro Habana bei dem staatlichen Bauunternehmen Secon angestellt. Seine sechsköpfige Brigade ist für den Abriss baufälliger Gebäude zuständig. Ein gefährlicher Job. Und ob der maroden Bausubstanz der kubanischen Hauptstadt gibt es eigentlich ständig etwas zu tun. Doch in den vergangenen Wochen ist viel Arbeit hinzugekommen.
Rosales war gerade im Urlaub, als Anfang September Hurrikan „Irma“ mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 300 km/h Kuba heimsuchte. „Mit dem Urlaub war es da natürlich vorbei“, sagt er, mit einem Lachen.

Zwar wurde Havanna von „Irma“ „nur“ gestreift; am nächsten Morgen bot sich dennoch ein Bild der Verwüstung: umgekippte Bäume, beschädigte und abgeknickte Strommasten; mehrere Tage waren weite Teile der kubanischen Hauptstadt ohne Strom; der Flughafen blieb geschlossen. Allein in Havanna beschädigte „Irma“ rund 4.300 Häuser; 157 Gebäude wurden komplett zerstört.

Rosales und seine Männer arbeiteten zunächst anderthalb Wochen in der Calle San Lázaro, einer der am stärksten betroffenen Gegenden in Havanna. Windböen zwischen 65 und 120 km/h, starke Regenfälle und fünf bis acht Meter hohe Wellen hatten für großflächige Überschwemmungen in den Gebieten in Nähe der Malecón, der acht Kilometer langen Uferpromenade der kubanischen Hauptstadt, gesorgt. „Das Wasser stand bis zur Kreuzung Ánima y Virtudes, also mehr als einen halben Kilometer landeinwärts“, erinnert sich Rosales. Ganze Straßenzüge in den Stadtvierteln Centro Habana und Vedado standen am Tag nach dem Wirbelsturm hüfthoch unter Wasser. „Dieses hier ist ein tiefgelegenes Gebiet, das überschwemmt wird, wenn es regnet, aber das Wasser hat sich hier noch nie auf diese Weise gesammelt“, sagte Javier Martínez Díaz, Parteibüromitglied der PCC in Centro Habana. Mehr als zwanzig Familien mussten in Centro Habana in letzter Minute evakuiert werden. Andere blieben in ihren Häusern eingeschlossen – in Sicherheit, aber ohne die Möglichkeit herauszukommen. Insgesamt wurden in Havanna rund 10.000 Menschen in Sicherheit gebracht.

„Die Schäden waren enorm“, sagt Rosales. „In San Lázaro mussten wir zum Teil alle Balkone abreißen – wegen Einsturzgefahr.“ An manchen Tagen habe er 24 Stunden durchgearbeitet. Zwischendurch ist er ab und zu zum Duschen kurz nach Hause – er wohnt in der Nähe –, um nicht einzuschlafen.

Die Wasserstände erreichten zum Teil nie zuvor gemessene Höhen.

Die Wasserstände erreichten zum Teil nie zuvor gemessene Höhen. Viele Familien verloren ihr gesamtes Hab und Gut: Kühlschränke, Fernseher, Möbel; andere darüber hinaus auch ihr Haus.
Noch schlimmer waren das Zentrum des Landes und die Küstenregionen betroffen. Auch hier kam es zu schweren Überschwemmungen; Telefon- und Stromleitungen wurden praktisch im ganzen Land beschädigt, Dächer abgedeckt, Bäume entwurzelt. Hunderttausende verbrachten das Wochenende in Notunterkünften. Hunderte Häuser sind eingestürzt, landwirtschaftliche Nutzflächen wurden zerstört, in weiten Teilen brach die Energieversorgung zusammen.

Auf dem kleinen vorgelagerten Cayo Romano in der Provinz Camagüey, im Zentrum des Landes, war „Irma“ am Nachmittag des 9. September auf Land getroffen. Auch historische Ortschaften wie Remedios und Caibarién, 320 km östlich von Havanna gelegen, wurden in Mitleidenschaft gezogen. Der Wirbelsturm wütete dort zehn Stunden lang. „Es hat aufgehört zu regnen, aber während der gesamten Nacht herrschte ein fürchterlicher Sturm“, so die Bewohnerin Gisela Fernández gegenüber AFP. Zahlreiche Gebäude wurden komplett zerstört. Die Behörden der Provinz Camagüey meldeten „signifikante Schäden“, vor allem im Küstenstreifen.

Es war das erste Mal seit 1932, dass das Zentrum eines Hurrikans der höchsten Kategorie Fünf in Kuba auf Land traf. Mindestens 25 Menschen waren bei „Irmas“ Zug der Verwüstung durch die Karibik zuvor ums Leben gekommen. Auf den Inseln Barbuda und St. Martin hatte „Irma“ nahezu alle Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Nachdem der Wirbelsturm Kuba erreichte, schwächte er sich auf Kategorie Vier und Drei ab, erreichte aber weiterhin Windstärken von um die 200 km/h.

Während der Osten Kubas, der im vergangenen Jahr vom Wirbelsturm Matthew und 2012 von Sandy heimgesucht worden war, diesmal vergleichsweise glimpflich davonkam, waren neben Camagüey die zentralen Provinzen Ciego de Àvila, Villa Clara und Matanzas von „Irma“ besonders betroffen. Ein Großteil der wirtschaftlichen, landwirtschaftlichen und touristischen Infrastruktur Kubas ist in diesen Provinzen angesiedelt: fünf von sieben Kraftwerken, Nickelminen sowie Gas- und Ölförderanlagen, darüber hinaus einige der wichtigsten Tourismuszonen wie Varadero und die Cayos.

In den Tagen danach erreichten Kuba Hilfslieferungen aus aller Welt. Neben Venezuela leisteten Länder wie Russland, China, Vietnam und Japan Hilfe; aber auch kleinere Länder wie die Dominikanische Republik, Suriname, Ecuador und Bolivien ließen Kuba Unterstützung zukommen.
„Die Sachen werden an die Betroffenen verteilt“, sagt Rosales. „Matratzen, Reiskocher, Bettwäsche, Schnellkochtöpfe… Das klappt sehr gut, soweit ich das beurteilen kann. Die Leute sind zufrieden.“

Kuba wiederum hat selbst Helfer*innen auf die Karibikinsel Dominica geschickt.

Kuba wiederum hat selbst Helfer*innen auf die Karibikinsel Dominica geschickt, das vom Hurrikan María schwer verwüstet wurde. Zudem wurden rund vierzig Ärzt*innen und Pfleger*innen der Brigade Henry Reeve mit über zehn Tonnen medizinischem Gerät und Medikamenten in den mexikanischen Bundesstaat Oaxaca entsandt, um dort nach der jüngsten Erdbebenkatastrophe Nothilfe zu leisten.
Nach dem Einsatz in San Lázaro ging es für Rosales’ Brigade in der Straße Galeano weiter. Hier musste ein Haus abgerissen werden, von dem ein Teil der Fassade auf einen Linienbus gestürzt war. Eine junge Frau, ihr kleines Kind und der Busfahrer waren dabei gestorben.
Insgesamt forderte „Irma“ auf Kuba zehn Menschenleben, sieben davon in Havanna. Die drei Opfer in anderen Teilen des Landes hatten zum Teil den Aufforderungen zur Evakuierung nicht Folge geleistet, wie staatliche Medien berichteten.

Neben dem Abriss der von „Irma“ beschädigten Gebäude waren Rosales und seine Brigade auch damit beschäftigt, Möbel und andere Gegen-stände der evakuierten Personen aus den Häusern zu holen, wie er sagt, auch, um Plünder-ungen zu verhindern.
In den Malecón-nahen Gebieten war es vereinzelt zu Plünderungen von staatlichen Läden gekommen, weshalb die Polizeipräsenz vertärkt wurde. Die meisten der Plünderer*innen konten festgenommen werden und erwarten nun wohl lange Haftstrafen.

In den Tagen vor „Irma“ hatte der kubanische Zivilschutz mehr als eine Million Menschen aus den Gefahrengebieten evakuiert, darunter mehr als 30.000 Tourist*innen, in ihrer Mehrzahl Kanadier*innen. Das kubanische Wirtschaftsministerium hatte Mittel mobilisiert, um die Gesundheitseinrichtungen zu schützen sowie landwirtschaftliche Gerätschaften und die Ernten zu sichern. Kommunikationsverbindungen wurden geschützt, Evakuierungszentren vorbereitet, Trinkwasser und Lebensmittel bereitgestellt, Regenabflüsse und Abwasserkanäle freigemacht, gefährliche Bäume auf Haupstraßen beschnitten, Solarparks gesichert, Dächer, Leuchttafel, Ampeln und Verglasungen ge-schützt; Schulen und Universitäten setzten ihren Unterricht aus.

Kubas Hurrikanschutz und Vorwarnsystem gelten als beispielhaft. Im Fall eines Hurrikans übernehmen die uniformierten Chef*innen des Zivilschutzes das Kommando über ihr jeweiliges „Territorium“, das heißt die Fahrzeuge der Staatsbetriebe, öffentliche Busse, Unterkünfte, medizinisches Personal, Lebensmittel werden ihrer Verfügungsgewalt unterstellt. Nur so lassen sich die Evakuierungen in der Größenordnung von mehr als einer Million Menschen relativ reibungslos bewerkstelligen. Angesichts der Hurrikans gibt es eine sonst in Kuba selten gesehene Effektivität.

Und auch der Wiederaufbau läuft seit Wochen auf Hochtouren. Die Strom- und Wasserversorgung ist mittlerweile fast überall wiederhergestellt. Die Regierung legte ein Subventions-programm auf, um betroffenen Familien zu helfen, die zerstörten Wohnhäuser rasch wieder aufzubauen. So wird der Staat die Hälfte der Kosten für die Baumaterialien der Hurrikangeschädigten übernehmen. Zudem sollen günstige Kredite vergeben werden. Darüber hinaus soll die Produktion und Verteilung von Baumaterialien in den verschiedenen Provinzen schnell wieder aufgenommen werden.

Priorität genießt die Wiederherstellung der touristischen Infrastruktur, eine der Haupteinnahmequellen des kubanischen Staats. Bis zu Beginn der Hauptsaison im November sollen alle Hotels wieder einsatzbereit sein. Tourismusminister Manuel Marrero Cruz erklärte, dass bis zum 1. November alle Schäden beseitigt sein sollen und versicherte: „Der kubanische Tourismus wird für die Hochsaison bereit und völlig wiederhergestellt sein.”
Gerade in der kubanischen Hauptstadt herrschte vor allem Erleichterung, doch relativ glimpflich davongekommen zu sein. „Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen“, sagt Taxifahrer Roberto Herrera. „Wenn Irma hier mit voller Wucht rübergefegt wäre, wäre von Havanna nicht viel übrig geblieben.“ Dann wären Rosales und sein Team wohl vor allem mit dem Abtragen von Bauschutt beschäftigt gewesen. So werden sie versuchen, in den kommenden Wochen so viele Häuser wie möglich zu retten und wiederherzustellen. Ein paar Tage Urlaub hat Rosales aber erst mal noch.


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“DAS BEBEN HAT UNS AUS DER APATHIE GEWECKT”

Das Beben vom 19. September 2017 erschütterte Zentralmexiko nur wenige Stunden nach der alljährlichen Übung, die seit dem schweren Erdbeben 1985 – auf den Tag genau 32 Jahre zuvor – in Mexiko-Stadt stattfindet. War es abzusehen, dass erneut ein Erdbeben vergleichbarer Stärke eintreten würde?
Beben passieren andauernd, da die tektonischen Platten, auf denen die Kontinente und Ozeane des Planeten ruhen, in ständiger Bewegung sind. Diese Bewegungen sind für Menschen zumeist nicht wahrnehmbar, da sich ihre Geschwindigkeiten im Bereich von jährlichen Millimeterverschiebungen abspielen. Allerdings entstehen so langfristig große Erschütterungen durch Kollisionen der verschiedenen Platten. Es war also klar, dass die Bewegung der Cocosplatte (die tektonische Platte, die entlang der mexikanischen Pazifikküste Berührungspunkte mit der Nordamerikanischen Platte aufweist, Anm. d. Red.) irgendwann wieder ein Beben auslösen würde. Dennoch war dieses Beben für die mexikanische Zivilgesellschaft und auch für die Wissenschaft überraschend. Die Szenarien, die traditionell für die Bewertung der seismischen Gefahr herangezogen werden, betrachten zumeist den Prozess der Subduktion (Unterschiebung einer Platte unter eine andere, Anm. d. Red.) der Cocosplatte unter die Nordamerikanische Platte entlang der mexikanischen Pazifikküste, nicht jedoch wie in diesem Fall eine Bewegung im Landesinneren.

Was ist also wissenschaftlich gesehen das Besondere an diesem Erdbeben?
Im Juni des Jahres 1999 war ich Zeuge des Bebens von Tehuacán, Puebla. Aufgrund der Lage des Epizentrums habe ich dieses im Nachbarstaat Tlaxcala, in dem ich aufgewachsen bin, intensiv gespürt. Dieses Beben hat, neben den emotionalen Auswirkungen eines Erdbebens, in mir den Wunsch ausgelöst, die Erde und ihre Bewegungen besser verstehen zu können. Es stellte sich heraus, dass jenes Beben von 1999 mit dem am 19. September in Zentralmexiko eine Gemeinsamkeit bezüglich der Bewegungsmechanismen aufweist: Es handelte sich bei beiden Beben, auch bei dem am 7. September in Südmexiko, um sogenannte Intraplattenbeben. Sie entstanden durch Bewegungen des Gesteins innerhalb der Cocosplatte.

Wie laufen solche Bewegungen des Gesteins ab?
Stellen wir uns vor, wir würden von den beiden Enden einer Metallstange aus in gegensätzliche Richtungen Druck auf diese ausüben. Irgendwann wird sich diese Stange deformieren und brechen, nämlich dann, wenn der Druck so hoch ist, dass er das Widerstandslimit des Materials übersteigt. Die Cocosplatte ist eine Gesteinsfläche, die von Kräften, die aus allen Richtungen auf sie einwirken, ständig deformiert und gebrochen wird. Das Besondere an der Cocosplatte ist, dass sie, im Gegensatz zu anderen ozeanischen Platten, die sich ebenfalls in einem Subduktionsprozess befinden, auf der Höhe der mexikanischen Küstenabschnitte von Guerrero und Oaxaca eine leichte Neigung aufweist. Richtung Norden wird sie dann horizontal. Das heißt, dass die Platte sich horizontal unter einem Großteil des Gebiets der beiden Bundesstaaten bewegt und sich schließlich auf der Höhe des transmexikanischen Vulkangürtels unter ihrem eigenen Gewicht neigt – es scheint, als wurde das Beben am 19. September genau an dieser Stelle ausgelöst. Es ist also ein außergewöhnliches Beben, das aufgrund seiner Lage, seiner Beschaffenheit und seiner sozialen Auswirkungen aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht werden sollte.

Warum war das Beben vom 19. September so schwerwiegend im Vergleich zu anderen Beben, die eine höhere Stärke auf der Richterskala erreichen?
Das Beben entstand in einer Tiefe von 51 Kilometern, 12 Kilometer südöstlich von Axochiapán im Bundesstaat Morelos, rund 100 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt. Drei Faktoren sind für seine Schwere verantwortlich: Die Nähe zur Erdoberfläche, seine Stärke und die Materialität des Bodens im Valle de México (Hochebene in Zentralmexiko, auf der u.a. Mexiko-Stadt liegt, Anm. d. Red.). Rufen wir uns in Erinnerung, dass die aztekische Hauptstadt Tenochtitlán, das heutige Mexiko-Stadt, auf einer Insel im Texcoco-See erbaut wurde. An vielen Orten der Stadt ist der Boden deswegen noch heute sumpfartig und weich, vergleichbar mit der Oberfläche eines Wackelpuddings. Seismische Wellen benötigen zwar einen festen Leiter, um sich fortbewegen zu können, wodurch auf weichem Untergrund die Geschwindigkeit reduziert wird. Allerdings wird durch die Reduktion der Geschwindigkeit die Weitläufigkeit der Wellen erhöht, was in diesem Fall zu größeren Schäden an Gebäuden auf diesem weichen Untergrund geführt hat.
Doch auch das Beben vom 7. September vor der Küste von Chiapas darf nicht unterschätzt werden. Die ebenfalls hohe Zahl der Opfer und Gebäudeschäden ist durch die Nähe der betroffenen Gemeinden in Chiapas und Oaxaca zum Epizentrum dieses ersten Bebens zu erklären, das übrigens historisch gesehen eines der heftigsten Intraplattenbeben war, die je registriert wurden.

Ist denn nun nach zwei so schweren Beben erst einmal wieder Ruhe?
Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob nun, sagen wir, 20 oder 30 Jahre Ruhe herrschen wird. Solche genauen Berechnungen lassen sich leider noch nicht anstellen. Sicher ist, dass einige Zeit verstreichen muss, damit sich wieder genügend Energie ansammeln kann, um ein Beben einer solchen Stärke entstehen zu lassen. Wir können jedoch keine exakten Daten, Orte, Stärken oder Tiefen vorhersagen. Die technologische Entwicklung ist auf diesem Gebiet noch nicht so weit, dass wir Untersuchungen in solchen Tiefen des Planeten anstellen könnten. Das einzige, was wir tun können, ist das Risiko von Todesopfern und materiellen Schäden zu reduzieren.

Seit dem Erdbeben von 1985, bei dem große Teile von Mexiko-Stadt zerstört wurden, müssen bestimmte Sicherheitsprotokolle eingehalten werden. Es gibt strenge Bauvorschriften, Evakuations- und Notfallpläne und ein Frühwarnsystem. Dennoch gab es am 19. September und in den Tagen danach viele Todesfälle und auch einige Gebäude, die nach 1985 erbaut wurden, sind eingestürzt. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin überzeugt, dass diese neueren Gebäude eingestürzt sind, weil die bestehenden Bauvorschriften bewusst nicht eingehalten wurden. Hinzu kommt, dass auch die regelmäßig vorgesehenen Überprüfungen der Bausubstanz oftmals nicht durchgeführt wurden. Die Unverantwortlichkeit und Korruptheit der zuständigen Behörden, die wieder einmal Entscheidungen zugunsten ihrer eigenen Bereicherung und nicht im Sinne der Gesamtbevölkerung getroffen haben, waren eindeutig die Auslöser dieser Tragödie. Es hätte deutlich weniger Opfer geben müssen.

Es heißt sogar, dass einige Arbeitgeber*innen in Mexiko-Stadt ihre Angestellten bereits kurz nach dem Beben, als noch Nachbeben zu erwarten waren, gezwungen hätten, in beschädigten Bürogebäuden ihrer normalen Arbeit nachzugehen.
Ich bin kein Ingenieur und kann nicht beurteilen, ob die betroffenen Gebäude einsturzgefährdet sind und welchem Risiko diese Angestellten konkret ausgesetzt sind. Wenn aber zum Beispiel tiefe und diagonal verlaufende Risse an Gebäuden festgestellt werden, ist es sehr gut möglich, dass diese bei einem Nachbeben oder einem erneuten, wenn auch leichteren Beben weiteren Schaden nehmen. In jedem Fall müssen solche Verstöße seitens der Arbeitgeber festgehalten und dem Zivilschutz gemeldet werden!

Mexiko steckte schon vor den beiden Erdbeben in einer schweren Menschenrechtskrise. Wie beeinflusst das Erdbeben diesen Moment?
Ohne Frage hat uns das Erdbeben am 19. September in einem historisch schwierigen Moment erschüttert. Zwei Wochen zuvor ereignete sich das Beben in Chiapas und Oaxaca, von dem die Gemeinden sich noch immer nicht erholt haben. Kurz darauf wurde der Mord an Mara Castilla in Puebla bekannt, einer von unzähligen Frauenmorden unter der Regierung von Enrique Peña Nieto. Ende September war der dritte Jahrestag des Verschwindens der Studenten aus Ayotzinapa, Anfang Oktober jährte sich wieder einmal das Massaker an Studierenden im Jahr 1968. Das Beben hat uns buchstäblich aus einer tiefen Apathie geweckt. Viele von uns hatten die Straflosigkeit und Korruption im Land, die uns den Kopf vor einer repressiven und mörderischen Regierung senken ließ, einfach akzeptiert, anstatt uns gegenseitig ins Gesicht zu schauen. Es ist der Moment gekommen, wieder das Mexiko zu sein, das nur in der Folge großer Katastrophen wiederzukehren scheint.

Das Mexiko, das sich durch Solidarität und gegenseitige Unterstützung auszeichnet, wie es in diesen Tagen zu sehen ist?
Genau. Nach dieser langen Phase der Apathie, des Individualismus, haben wir unseren Sinn für Menschlichkeit wiederentdeckt. Unsere Empathie und Sensibilität für die Situation unserer Mitmenschen, die soziale Verantwortung, die wir alle gemeinsam tragen. Dies ist der Moment, um Mexiko von der Gleichgültigkeit zu befreien.


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