PERFORMANCE DER BILDER

Cuatreros ist zunächst einmal eine echte Herausforderung für die Sinne. Die argentinische Regisseurin Albertina Carri stellt die Augen und Ohren ihres Publikums nämlich auf eine echte Belastungsprobe. Mal blicken die Zuschauer auf drei, mal auf fünf kleine Bildschirme auf der ansonsten schwarzen Leinwand. Seltener wird eines der bewegten Vierecke so herangezoomt, dass es die gesamte Bildfläche einnimmt, und – wie eigentlich vom Kino gewohnt und erwartet – als audiovisuelle Einheit rezipiert werden kann. In diesen Momenten verstummt auch die Stimme der Regisseurin aus dem Off, die sonst die einzige Konstante in der rasch wechselnden, fragmentierten Bilder- und Figurenvielfalt bildet.    „Die Vervielfachung der Bildschirme soll kein ästhetisches, sondern vielmehr ein ethisches Mittel sein, bei dem verschiedene Diskurse und Möglichkeiten nebeneinanderstehen, um eine Geschichte zu bilden“, erklärt Albertina Carri die ungewöhnliche kinematografische Erzählweise.

Velázquez und seine cuatreros auf der Leinwand (Foto: Cuatreros | Rustlers)

Ausgangspunkt des Films ist die Figur und die Zeit des legendären cuatrero (Viehdiebs) Isidro Velázquez. Bevor die Polizei ihn 1967 erschoss, hatte er sie 6 Jahre lang an der Nase herumgeführt und zahlreiche erfolgreiche Raubzüge unter anderem gegen reiche Großgrundbesitzer durchgeführt. Dadurch war er in der nordargentinischen Provinz Chaco zu einem Robin-Hood-ähnlichen Volkshelden avanciert – nicht zuletzt, weil er Teile seiner Beute großzügig unter der einfachen Bevölkerung verteilt  haben soll. Da er der Polizei immer wieder entkam, schrieb man ihm gar übermenschliche Fähigkeiten zu. So wurde ihm beispielsweise nachgesagt, sich  in Luft auflösen oder in Tiere verwandeln zu können.  Bis heute legen Menschen Blumen am Ort seines Todes nieder, zahlreiche Filme und Musikstücke wurden Velázquez gewidmet.

Ein Jahr nach seinem Tod befasste sich auch Albertina Carris Vater, der Soziologe Roberto Carri, in seinem Buch „Prärevolutionäre Formen der Gewalt“ mit der politischen Motivation von Velázquez’ Banditentum, die ihn seiner Auffassung nach von anderen Gaunern unterschied. Doch beide Eltern der Regisseurin verschwanden während der Militärdiktatur, genauso wie ein Film, der auf dem Buch Roberto Carris basieren sollte und nie veröffentlicht wurde. Viel später machte sich Albertina auf die Suche nach diesem Erbe. Die kollektive Bedeutung von Isidro Velázquez, die Erinnerungen an ihren Vater und die Recherchefahrten mit ihrer Frau und dem kleinen Sohn geraten in einen Erzählstrang. Aus sozialem Antrieb, der eigenen Biographie und Fiktion ist etwas entstanden, was die Regisseurin als „Roadmovie“, aber auch als „Performance“ beschreibt. Weder der legendäre Bandit noch der verschwundene Vater oder die Erzählerin selbst tauchen auf der Leinwand auf. Stattdessen lässt Carri mit Archivmaterial der 60er und 70er Jahre parallel zu ihrer Erzählung den Kontext dieser Zeit mit der entsprechenden Bildersprache auferstehen.

Hören, Sehen, Einordnen, Bezüge imaginieren, und alles am besten gleichzeitig: Cuatreros geht an die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit eines Publikums, das passive Berieselung gewohnt ist. Wegen ihrer Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit lassen die Bilder kaum Zeit zu erkennen, welche filmgeschichtlichen und zeithistorischen Kostbarkeiten aus Spielfilmen, Werbung, Zeichentricksendungen, Nachrichten und Interviews hier dargeboten werden. Geschweige denn, wie viel jeder einzelne Ausschnitt zu sagen hätte. Ob die Sprache dieser Bilder, Carris Beschreibung der Unmöglichkeit einen Film über Velázquez zu drehen, oder ihre sich davon abzweigenden Reflektionen die Hauptrolle spielen? Vergeblich wünscht man sich eine Taste zum Anhalten, Zurückspulen oder wenigstens zum Entschleunigen. Wehe denen, die der spanischen Originalsprache nicht mächtig und auf die englischen Untertitel angewiesen sind. Auf was soll sich das einzige Augenpaar, das wir besitzen, konzentrieren? So oder so können wir nicht alles zur Gänze wahrnehmen. Wir können auch nicht alles verstehen oder bewerten. In diesem Sinn gleicht der Film der Wirklichkeit.

LYNCHMOB VON GOTTES GNADEN

1968 ereignete sich im Dorf San Miguel Canoa im mexikanischen Bundesstaat Puebla eines der bekanntesten Verbrechen der jüngeren mexikanischen Geschichte. Fünf junge Mitarbeiter der Universität Puebla, die für den nächsten Morgen eine Bergtour geplant hatten und deshalb die Nacht in Canoa verbrachten, wurden von einem wütenden Lynchmob der Dorfbewohner*innen angegriffen, der vom einflussreichen Pfarrer des Dorfes angestachelt und bewaffnet worden war. Drei der Universitätsmitarbeiter und der Mann, der ihnen Unterkunft gewährt hatte, wurden brutal ermordet, zwei konnte schwer verletzt entkommen. Für die Verbrechen wurden nur wenige Personen zur Rechenschaft gezogen, die Urheber des Massakers gingen völlig straffrei aus.

Fotos: IMCINE y STPC, 2002

Sieben Jahre später veröffentlichte der Regisseur Felipe Cazals einen Film über die Geschehnisse. Canoa (deutscher Titel: Hetzjagd durch Canoa), der ein großer kommerzieller und künstlerischer Erfolg wurde. Bei der Berlinale 1975 gewann der in dokumentarischem Stil gehaltene und in nicht chronologischer Abfolge erzählte Film einen silbernen Bären. Bis heute gilt er als einer der besten mexikanischen Filme aller Zeiten.

Cazals setzte mit dem Film ein Zeichen gegen religiöse Verblendung und Amtsmissbrauch weltlicher und geistlicher Würdenträger. San Miguel Canoa war 1968 trotz seiner Nähe zu Puebla ein fast komplett abgeschottetes Dorf, in dem die lokalen Autoritäten ungestört schalten und walten konnten. Vor allem der örtliche Pfarrer nutzte dies, indem er auf eigene Faust Steuern eintrieb und die Bevölkerung zur Arbeit verpflichtete, oft ohne oder nur mit sehr geringer Bezahlung.

Der Pfarrer Canoas: Hassprediger und personifiziertes Sinnbild für Amtsmissbrauch

Die zu Zeiten des Kalten Krieges allgegenwärtige Paranoia vor Kommunist*innen machte er sich zu eigen, um die Bevölkerung, die zum großen Teil aus Analphabet*innen bestand, gegen Einflüsse von außen aufzuhetzen. Nicht zuletzt, um den Bevölkerungswegzug zu stoppen, der durch seine immer höheren Tributforderungen eingesetzt hatte. Als die nichtsahnenden Mitarbeiter der Universität Puebla ins Dorf kamen, wurden sie fälschlicherweise bezichtigt, eine kommunistische Fahne an der Kirche gehisst zu haben. Die Bevölkerung wurde daraufhin von den Kirchenglocken herbeigerufen und zog mit Fackeln, Äxten und Gewehren bewaffnet als wütender Mob zur Unterkunft der jungen Männer und verübte Selbstjustiz.

Felipe Cazals verwendet in dem Film mehrere Kunstgriffe, die ihn dokumentarisch wirken lassen, obwohl er keine echten Augenzeugenberichte enthält. Interviewsequenzen verschiedener Protagonisten werden in den Ablauf des Geschehens eingeschoben, die Figur eines Bauern agiert als Augenzeuge und Erzähler. Zeit- und Ortssprünge sowie der Dreh an Originalschauplätzen vermitteln die Situation extrem realistisch. Zudem hielt sich Cazals nah an die Fakten und dramatisierte die Handlung nicht durch geschliffene Dialoge oder Nebenschauplätze. Dennoch gelang es ihm, durch die unverbraucht-naive Darstellung der zutiefst unpolitischen Universitätsmitarbeiter im Kontrast zum berechnend agierenden (manchmal aber doch etwas arg dick auftragenden) Pfarrer, Spannung und Emotionalität zu erzeugen. Die Szene, in der der entfesselte Lynchmob die wehrlosen jungen Männer durch den Ort treibt, jagt einem auch heute noch Schauer über den Rücken – vor allem, wenn man an die johlenden Massen bei Veranstaltungen rechtspopulistischer Bewegungen der Gegenwart denkt. Dass Canoa erneut auf der Berlinale gezeigt wird, kann aber auch als Fingerzeig auf die aktuelle Situation in Mexiko verstanden werden, in der Amtsmissbrauch lokaler Behörden, Morde und Gewaltausbrüche in einigen Regionen mehr denn je traurige Realität sind. So könnte zum Beispiel der Fall der 43 aus Ayotzinapa verschwundenen Studenten schon bald Stoff für einen Film liefern, der im Geiste von Canoa ein grausames Verbrechen auf der Leinwand nachzeichnet und so für die Nachwelt festhält.

MIT DEN WAFFEN DES KRIMIS

„Ein großer Kahn, sehr elegant“ ist in der Perlenlagune verlassen aufgefunden worden, in jenem tropischen Waldgebiet nördlich von Bluefields mit seinen Flüssen, Nebenarmen, Lagunen und Seen. Auch wenn es am Anfang dieses Kriminalromans, bei dem die Betonung auf Roman liegt, nicht einmal eine Leiche, sondern nur ein paar Blutspritzer gibt, so ist den Ermittlern doch schnell klar, dass die Drogenmafia ihre Hände im Spiel haben muss:„Wer anders als die Drogenbosse kann es sich leisten, eine Yacht im Wert von einer halben Million Dollar einfach aufzugeben?“

Hauptfigur Inspektor Dolores Morales – übersetzt „moralische Leiden“ – ist unbestimmten mittleren Alters und Teil der Abteilung für Drogenkriminalität in Managua. Als Compañero Artemio hat er in der sandinistischen Revolution gekämpft, dabei ein Bein verloren und eine Prothese aus Kuba gewonnen, die zwar gut sitzt, deren hellrosa Vinyl aber schlecht zu seiner braunen Haut passt. Zusammen mit Unterinspektor Bert Dixon aus Bluefields, enger Freund und wegen seiner tadellosen Manieren Lord Dixon genannt, verfolgt er die Spur der verlassenen Yacht. Bei der geht es, so viel sei verraten, tatsächlich um Drogengeschäfte und einen Mord. Unterstützt werden die beiden Inspektoren von Doña Sofía Smith, auch sie eine ehemalige Stadtguerillera, die ihre Arbeit als Putzfrau im Polizeipräsidium „mit echter Parteidisziplin“ ausübt, in Wahrheit aber zu allen wesentlichen Erkenntnissen der Ermittlung beiträgt und auch vor Undercover-Aktivitäten nicht zurückschreckt.

Der Himmel weint um mich ist bereits 2008 auf Spanisch erschienen und spielt in der Amtszeit des nicaraguanischen Präsidenten Arnoldo Alemán, der von 1997 bis 2002 regierte und später wegen Korruption angeklagt wurde. In einer Phase, in der der Präsident „neue Supertankstellen“ in Serie einweiht und dabei vom Polizeichef begleitet wird, zieht sich – rund zwanzig Jahre nach dem Sieg der Sandinist*innen – die Spur des Verfalls der Integrität und der Korruption bis in höchste Polizei- und Regierungskreise. Aber längst nicht alle sind davon betroffen. So ist Comisionado Selva, Chef von Inspektor Morales, „ein seltenes Exemplar in diesen Zeiten, allzu aufrecht und ehrlich, fast bis zur Lächerlichkeit, so als habe er den Pfadfindereid abgelegt. Deshalb störte er auch einige seiner Kollegen in der obersten Leitung und beunruhigte andere.“

Auch viele der ehemaligen Compañeros legen Skrupel und Loyalitäten ab und tauschen „die frühere Treue zur Ideologie gegen die Treue zur revolutionären Staatsmacht“. Dabei schrecken sie nicht einmal vor Verrat gegenüber den ehemaligen Kampfgefährten zurück, um die eigenen Interessen nicht zu gefährden. Autor Sergio Ramirez, selbst nach dem Sturz der Somoza-Diktatur Mitglied der fünfköpfigen Regierungsjunta und von 1984 bis 1990 Vizepräsident, schmerzen diese Zustände erkennbar. Und so nutzt er das Genre des Krimis für eine genaue Beschreibung des Managuas dieser Zeit mit all seinen Ungleichzeitigkeiten von Luxus und Armut, Beschädigung und Aufbau, Loyalität und Verrat, durch die sich Inspektor Morales in seinem blauen Lada bewegt. Dass die Aufklärung des Falls sich dabei eher langsam entwickelt, fällt angesichts der Fülle der genau gezeichneten Schauplätze, Personen und Handlungsstränge wenig auf. „Wir sind Zeugen, und als solche sind wir auch Chronisten. Die Zeitgeschichte liegt seit je im Wesen unseres Schreibens, und nie war es möglich, private Geschichten abseits von der großen Bühne der Zeitgeschichte zu erzählen,“ dieses Credo von Sergio Ramirez prägt seinen Roman Der Himmel weint um mich.

 

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