LIEDER DES AMAZONAS

Wie kann man einen Film über den Amazonas machen, der fast vollkommen schwarzweiß ist? Bei all den blühenden Farben, die dieser faszinierende Dschungel zu bieten hat? Bei El abrazo de la serpiente (deutscher Titel: Der Schamane und die Schlange – Eine Reise auf dem Amazonas), kann man fast glauben, der Dschungel sei zu Anfang des 20. Jahrhunderts schwarzweiß gewesen, so sehr passt seine monochrome Ästhetik in seine Geschichte, so eindrucksvoll sind die Totalen der Natur, so lebendig seine Bildsprache trotz fehlender Farben: Schlüpfende, schleimige Schlangenbabys, tanzende Schmetterlingsschwärme, das glänzende Fell eines Jaguars strahlen schwarz-weiße Farbenpracht aus.

Der Film ist eine Wucht. Er handelt von dem Weltenbeweger Karamakate, einem Schamanen der Cohiuano, der allein, ohne sein Volk, das fast völlig durch die Kolonisator*innen ausgerottet wurde, in einer Hütte im Amazonasgebiet lebt. Mit Karamakate begeben wir uns auf eine Reise; durch den Dschungel, über die Flüsse, in die Träume, in den Rausch. Der Film springt hin und her zwischen dem jungen und dem alten Karamakate. Beide sind faszinierende und auf beeindruckende Art und Weise integere Charaktere.

Erzählt wird die auf echten Tagebuchaufzeichnungen basierende Geschichte zweier Reisen, in einer Zeit ohne Zeit, auf der Suche nach der heiligen Pflanze Yakruna. Der deutsche Forscher und Anthropologe Theodor von Martius und sein treuer Reisebegleiter Manduca bitten Karamakate, dem kranken Forscher zu helfen und ihn mit der Yakruna zu heilen. Widerwillig lässt sich Karamakate darauf ein, denn „weiße Wissenschaft führt nur zu Gewalt und Tod.“ 30 Jahre später bittet ihn erneut ein Forscher, der auf den Spuren von Von Martius‘ Tagebüchern wandert, ihm zu helfen, die Yakruna zu finden („Ich bin ein Mensch, der sein Leben den Pflanzen widmet“ – „Das ist das Vernünftigste, was ich je von einem Weißen gehört habe“). Und so springen die beiden Geschichten vom alten zum jungen Karamakate, von Theo zu Evan, und vermischen sich, denn Zeit stellt sich in dieser Art, die Welt zu verstehen nicht als fortlaufende Linie dar, sondern als Serie multipler Universen, die sich gleichzeitig abspielen. So ist der junge Forscher Evan für den alten Karamakate der gleiche wie Theodeor von Martius, das gleiche Leben und Erleben, was sich im Körper zweier Menschen abspielt. Karakamate scheint hingegen zwei Figuren in einem Körper zu sein. Als junger Mann strahlt er eine eindrucksvolle Standfestigkeit und Willensstärke aus, gleichzeitig Stolz und Verletzlichkeit. Im Alter hat er seine Kräfte und seinen Zugang zum Wissen verloren und befindet sich in einer „Sinnkrise“, um es in städtischem Vokabular auszudrücken. „Ich erinnere mich nicht mehr“, sagt der alte Karamakate voller Trauer. „Die Sterne sprachen früher zu mir. Sterne, Bäume, Tiere, alles schweigt. Ich bin nur ein Chullachaqui, eine leere Hülle.“ Und so wird auf einmal der junge Forscher zu dem, der dem alten Schamanen den Weg leiten soll.

Die beiden weißen Forscher, deren Leben über viele Dinge verbunden sind, sind zwar vergleichsweise respektvoll gegenüber dem Wissen der Indigenen, aber vor allem, um es für sich selbst zu nutzen. Das „Konservieren“ von Kultur und Wissen wird einerseits zur geschätzten Tugend, zeigt aber auch dessen potentielle paternalistischen Züge, wenn Entwicklungsmöglichkeiten nur manchen vorbehalten bleiben sollen. Dies wird zum Thema, als Theo um keinen Preis seinen Kompass als (erzwungenes) Gastgeschenk zurücklassen will – die Indigenen würden sonst ihr Wissen, Wind und Sterne zu lesen, verlieren. „Du wirst nicht verhindern, dass sie lernen“ lehrt Karamakate Theo, „das Wissen gehört allen“.

Und so sprechen die passionierten, wissbegierigen Forscher die indigenen Sprachen, lernen Rituale, aber bleiben dennoch Weiße und ihre geschäftigen Bewegungen im Dschungel wirken lächerlich, die Versuche Karamakates Wissen mit „viel Geld“ (zwei Dollar) zu kaufen, erbärmlich, ihre Fixierung auf materielle Dingen absurd. „Warum hängen die Weißen so an ihren Objekten?“ fragt Karamakate Manduca, Theos Begleiter, der zu einer Art Mittler zwischen den beiden Männern geworden ist und als Indigener in europäischer (Ver-)Kleidung zunächst bei Karamakate nur Verachtung auslöst. Sogar die Liebe in der Welt der Weißen wird als Form von Besitz entlarvt, als die Liebesbekundungen, die Von Martius voller Sehnsucht und Wehmut in Manducas Feder an seine Frau diktiert, durch das schallende Gelächter über die „Gefühle“ des Weißen von Karamakate zu einer etwas unverständlichen Sinnlosigkeit verkommen. Wenn der Weltenbeweger vor Lachen fast aus dem Kanu fällt, muss man unweigerlich mitlachen.

Auf ihrer Reise passieren die Gefährten neben überwältigenden Schauplätzen der Natur immer wieder auch die brutalen Vermächtnisse des Kolonialismus, die sich wie ein unheilvoller Fluch und düstere Orte des Wahnsinns präsentieren. Die zerstörerische Macht ist greifbar, bedrückend, bedrohlich – und effektiv gewesen. Von vielen der Kulturen, die im Amazonas lebten, sind die Aufzeichnungen in Von Martius‘ Tagebüchern das einzige Zeugnis, das noch existiert. „Wo sind die Lieder, mit denen Mütter ihre Kinder trösten? Wo sind die Erzählungen der Ahnen, ihr Liebesgeflüster, ihre Kriegsgeschichten? Wohin sind sie gegangen?“ klagt der alte Karamakate, nachdem Kolonialisierung und Kautschukbarone längst ganze Völker seines Amazonas ausgelöscht haben. „Lasst nicht zu, dass unser Lied verstummt“, mahnt der junge Karamakate dann auch die Kinder, denen in der Mission der Teufel ausgetrieben werden soll.

Es sind die Lieder des Amazonas, denen seine Besucher*innen zuhören lernen müssen. „Lass dich von deinen Träumen führen“, rät Karamakate seinem Begleiter. „Ich bin ein Mann der Wissenschaft, der realen Fakten“ erklärt Evan, während er mit Karamakate einer Platte auf seinem tragbaren Plattenspieler lauscht und überzeugend klarmachen will, warum er weiß, dass der Fluss zwei Ufer hat. „Der Fluss hat tausend Ufer. Das weiß jedes Kind.“ entgegnet ihm Karamakate. „Träume sind viel echter als Deine Wirklichkeit. Die Welt spricht. Ich muss nur zuhören. Hör ganz zu. Nicht nur mit Deinen Ohren.“

Zuhören sollte man auch diesem Film, sich auf ihn einlassen. Dann wird er einen mitnehmen auf eine berührende Reise in den Amazonas, für die es, wenn man es mit Von Martius‘ Tagebucheinträgen hält, „keine Sprache gibt, in der sich die Schönheit und Pracht […] ausdrücken ließe“, die sich einem in diesen „verzauberten Stunden“ bieten wird.

ENDZEITSTIMMUNG IM GEISTERDORF

Juan Rulfos einziger Roman wurde in den 61 Jahren seit seinem Erscheinen vielfach rezipiert: mehrere Verfilmungen, eine davon nach einem Drehbuch von Carlos Fuentes, ein kathedralenfüllender Haufen Sekundärliteratur, unzählige Doktorarbeiten. Eigentlich, so müsste man denken, kann über ein so dünnes Büchlein unmöglich noch mehr gesagt werden. Und dennoch: In Mexiko werden Neuauflagen mit Vorworten Intellektueller und auch die Doktorarbeiten immer noch wie am Fließband produziert.

Rulfo, geboren 1917 in Sayula im mexikanischen Bundesstaat Jalisco, gestorben 1986 in Mexiko-Stadt, hat zu Lebzeiten nicht mehr als knappe 300 Seiten Text an Verlage geschickt, von denen jede einzelne jedoch umso bemerkenswerter ist. Pedro Páramo ist einer der ersten Romane der künstlerischen Strömung des Magischen Realismus, der auf der einen Seite kategorischer Imperativ war, der die Literatur des lateinamerikanischen Kontinents auf der Weltbühne zu jahrzehntelangem Exotismus und Lokalkolorit verdonnerte, und andererseits Werke wie Pedro Páramo hervorbrachte, das so gar nicht farbenfroh ist und welches Gabriel García Márquez nach eigener Aussage auswendig aufsagen konnte. Pedro Páramo ist, schlicht gesagt, Anfang und zugleich Kulmination dessen, was die Essenz eben jenes berühmt-berüchtigten Magischen Realismus ausmacht: Es scheint, als würden Worte nicht ausreichen, um dieses Buch zu beschreiben, und trotzdem wird dies immer wieder versucht.

Die einzelnen, nicht unbedingt chronologisch angeordneten Fragmente des Romans handeln von dem Aufenthalt des Protagonisten Juan Preciado in Comala, dem Dorf in dem seine Mutter einst lebte und in dem sich laut dieser auch Juans Vater, der Großgrundbesitzer Pedro Páramo aufhält. Comala, ein verwahrlostes und verlassenes Dorf, an dem die mexikanische Revolution scheinbar spurlos vorbeigerauscht ist und das von der monstruös großen Hacienda Pedro Páramos, der Media Luna, eingekesselt ist, „liegt auf glühender Erde, geradewegs am Eingang zur Hölle“. Pedro Páramo selber ist „der wandelnde Groll“. Es dauert nicht lange bis Juan bemerkt, dass die wenigen Menschen, die Comala noch bevölkern, tot sind, als Geister umherwandeln, und sich dennoch mit denselben Problemen herumschlagen wie zu Lebzeiten: mit der Boshaftigkeit Pedro Páramos, der selbst zwar längst verstorben, doch auch im Tode noch Tyrann. Comala ist ein Dorf voller Klagen, ein Ort, der die Leser*innen trotz der flimmernden Hitze immer wieder erschaudern lässt. Es ist außerdem Schauplatz einer der wohl eindrucksvollsten Szenen der Weltliteratur: die Dialoge zwischen Juan und den Toten Comalas sind Ausdruck einer tief sitzenden Verzweiflung und erfahrenen Ungerechtigkeit, die über das Leben selbst hinausgehen und eins zu eins auf Kontexte des 21. Jahrhunderts übertragbar sind.

Übersetzt wurde Pedro Páramo in mehr als dreißig Sprachen, ins Deutsche zunächst im Jahr 1958 von Mariana Frenk-Westheim, einer gebürtigen Hamburgerin mit sephardischen Wurzeln, die 1930 ins mexikanische Exil emigrierte und zu einer der wichtigsten Übersetzerinnen Mexikos avancierte. Trotz der Popularität innerhalb Lateinamerikas hat es einige Jahrzehnte gedauert, bis die deutsche Übersetzung neu aufgelegt wurde. Die neueste deutsche Ausgabe ist 2010 im Suhrkamp Verlag erschienen und wurde von Dagmar Ploetz neu übersetzt. Was hier natürlich nicht fehlen darf: das Nachwort von García Márquez, dem größten Fan Rulfos.

EIN GEWISSER BLUES

„Du trägst das Abbild der Nostalgie im Gesicht“ heißt es, als sich zwei Menschen in einem Hauseingang begegnen. Habana Light von Lien Carrazana Lau ist eine von sieben zeitgenössischen Erzählungen aus Kuba, die gerade in der zweisprachigen Ausgabe Unbekanntes Kuba erschienen sind.

Ein gewisser Blues entspringt der Sammlung zweifellos. Mal geht es um ein Havanna, das vom dichten Qualm einer Zigarette verschleiert wird, mal um das Havanna eines Exil-Kubaners, der zurückkehrt, einen „Friedhof vorsintflutlicher Saurier“ vorfindet und eben jenen Schleier der Nostalgie verzweifelt sucht.

Surreales und Realität mischen sich, wobei sich fragen lässt, was von beidem mehr Absurdität beinhaltet. In jeder der Erzählungen taucht Gesellschaftskritik auf, mal mehr, mal weniger subtil, nicht zuletzt jedoch häufig mit einem gewissen Witz. „Als vorbeugende Maßnahme gegen eine starke Reizung meiner Kopfhaut, meiner ach so empfindlichen Epidermis, schlafe ich an den Nationalfeiertagen“ heißt es zum Beispiel bei Lia Villares in Eine halbe Minute westlicher Stille. Oder so werden in Erick J. Motas Erzählung nach und nach ganze Stadtviertel von funktionierenden Zombies bevölkert, die man nur noch als Expert*in des „Zentrums für die Erforschung und Entwicklung der Zombies“ von Normalsterblichen unterscheiden kann.

Aus den Erzählungen sprechen Kummer, Perspektivlosigkeit und politischer Verdruss, aber auch Komik und Erotik. Wenn beispielsweise über mehrere Seiten hinweg der gewaltige Hintern einer Liebhaberin beschrieben wird. Oder die uralte Großmutter den Zombie, der sich als Beamter ausgegeben hat, wortlos mit einem gezielten Schlag ihres berüchtigten Spazierstocks erschlägt, um sich sogleich wieder, ebenso stumm, in den Fernsehsessel fallen zu lassen.

Alle Geschichten handeln von persönlichen und gesellschaftlichen Grenzen, vom Stagnieren eines politischen Systems und dem damit verbundenen Stillstand der Protagonist*innen. „Ein Engel, gefangen in einem Gesellschaftssystem ohne Himmel (Die Justiz ist menschlich, allzu menschlich in Kuba)“. Obgleich sie fiktiv sein mögen, könnten alle Figuren genauso existieren: Der Exil-Kubaner, der auf seinem Rückflug nach New York feststellt, dass er das verhasste Kuba liebt. Die Studentin, die über den Dächern von Havanna eine Stadt im Rauch ihrer Zigarette verschwinden lässt, und deren Freund, der der „Krankheit der Nostalgie“ zum Opfer fällt.

Dtv hat die Ausgabe mit „Texte für Könner“ betitelt, was durchaus zutrifft. Praktisch sind die beigefügten Anmerkungen und Kurzbiographien zu den Autor*innen. Aber nicht nur um Spanischkenntnisse aufzufrischen, sondern vor allem der Poesie wegen ist diese Sammlung zu empfehlen. Ein lesenswertes Nachwort des Übersetzers Enno Petermann rundet den Band ab.

DIE EINSAME KUH

Den Anfang macht ein frühmorgendlicher Anruf in Buenos Aires. Von seinem Vater erfährt Federico Souza, dass Pajarito Lernú tot in einem Wassergraben gefunden wurde und ihm „einige Stunden vor seinem Tod eine Kuh geschenkt“ habe. „Das Tier ist in keinem guten Zustand, sagt er. Er hat es dem alten Soto geklaut.“ Also fährt der Drehbuchautor erstmals nach zwölf Jahren wieder nach Chivilcoy, sein Heimatstädtchen in der Provinz, wo früher einmal die Bahnlinie endete.

Nur einen kurzen Absatz braucht der argentinische Autor Hernán Ronsino, um die Leser*innen in seinen neuen Roman Lumbre („Glühen“) hineinzuziehen. Wer nun aber eine von den Rätseln um Lernús Tod und die mysteriöse Kuh getragene Spannungsgeschichte erwartet, wird überrascht. Zwar versucht der Erzähler Souza akribisch, den Umständen von Lernús Tod auf den Grund zu gehen. Doch Ronsino verwebt in diesen Rahmen unzählige Nebenstränge, die den vermeintlichen Hauptstrang an den Rand drängen. Immer wieder schweift der herumtreibende Souza in persönliche Erinnerungen ab, sei es an seine verstorbene Mutter, deren Grab er sucht, oder an seine in Buenos Aires zurückgebliebene Freundin Hélène. „Sich an etwas zu erinnern bedeutet, es – jetzt erst – zum ersten Mal zu sehen“, lautet einer der zentralen Sätze des Buches.

Seiner Heimatstadt begegnet der Erzähler mal liebevoll, mal distanziert. Er beobachtet präzise alltägliche Szenen, beschreibt die von latenter, struktureller Gewalt durchzogenen Lebensumstände und spickt seine Erinnerungen mit zahlreichen Anspielungen auf die argentinische Geschichte. Eine zentrale Rolle spielen die Aufzeichnungen des verstorbenen Lernú und ein verschollener Film über den modernistischen Dichters Carlos Ortiz, der 1910 in Chivilcoy ermordet wurde. Das Drehbuch hat kein geringerer als der große argentinische Schriftsteller Julio Cortázar verfasst, der in jungen Jahren eine Zeit lang als Spanischlehrer in Chivilcoy gelebt hat.

Lumbre ist der dritte Roman Ronsinos, der ebenso wie seine Vorgänger in dem Geburtsort des Autors angesiedelt ist. Auch die Figuren sind teilweise schon bekannt. So ist der Vater von Federico Souza einer der vier Erzähler aus dem meisterhaft konstruierten Kurzroman Letzter Zug nach Buenos Aires, der in deutscher Übersetzung ebenfalls im bilgerverlag erschienen ist.

Ronsino bedient sich filmischer Stilmittel und erzeugt starke Bilder. Nach und nach entsteht so ein großes gesellschaftliches Panorama, verortet in der Provinz im Jahr 2002, kurz nach dem Staatsbankrott Argentiniens. Von politischer Mobilisierung ist in Chivilcoy nichts zu spüren, aber der über Jahrzehnte vollzogene wirtschaftliche Niedergang ist allgegenwärtig. Sinnbildlich dafür fallen während der drei Tage die Getreidesilos des Ortes der Abrissbirne zum Opfer. Statt des einstigen Wohlstands bleibt nur eine einsame, gestohlene Kuh zurück.

MEXIKOS VERDRÄNGTER VÖLKERMORD

Sein Ruhm als Krimiautor mag seinen Ruhm als Historiker überstrahlen. Es besteht jedoch kein Zweifel: Paco Ignacio Taibo II ist in beiden Bereichen ein Meister seines Fachs. In Sachen Geschichte hat er das mit seinen beiden Biografien über den argentinischen Revolutionär Che Guevara und den mexikanischen Revolutionär Pancho Villa unter Beweis gestellt. In seinem neuesten Werk Die Yaqui – Indigener Widerstand und ein vergessener Völkermord gelingt es ihm erneut. Mit diesem Sachbuch rekonstruiert Paco Ignacio Taibo II anhand von Archivmaterial, aber auch anhand von Gesprächen mit Nachfahren der Yaqui die Geschichte dieses widerständigen Volkes. Die Indigenen aus dem nordwestlichen mexikanischen Bundesstaat Sonora hatten dafür einen hohen Preis zu zahlen. Sie wurden in einer über 40-jährigen Verfolgung von 1868 bis 1909 fast ausgelöscht. Alles nach offizieller mexikanischer Lesart im Namen des Fortschritts oder, nach Lesart von Taibo II, um große agro-industrielle Projekte voranzubringen. Der Kapitalismus „reitet das Pferd des Teufels, auch wenn er im Gewand der Moderne daherkommt, unter juristischem Mantel und ideologischer Maske“, schreibt er. Das traditionelle Siedlungsgebiet der Yaqui, ihre acht Dörfer, liegt ausgerechnet um den Río Yaqui, der wegen seiner fruchtbaren Auswirkungen auf den umliegenden Boden auch mit dem Nil verglichen wird. Die Denkweise der Yaqui, die Kollektiv-, aber kein Privateigentum kennt, stand der kapitalistischen Landnahme von Anfang an im Weg. Rassistische Begründungen über die Minderwertigkeit der unzivilisierten Yaqui wie vom spanischen Kolonialisten Vicente Salvo bereiteten den Weg: „… ihre Faulheit ist so groß, dass wenn sie eine Tür öffnen, sie diese nie schließen.“ Dass diese Einschätzung nicht nur rassistisch ist, sondern auch von Unkenntnis strotzt, macht Taibo II klar: „Calvo wusste nicht oder wollte nicht wissen, dass die Türen in der Yaqui-Gemeinschaft nicht geschlossen wurden, weil sie weder Schlösser noch Schlüssel hatten, und zwar deshalb, weil sie sie nicht brauchten.“ In dieser treffenden Art kontert Taibo II an vielen Stellen die offiziellen Verlautbarungen, die er den Archiven entnommen hat.

1868 massakrierte die mexikanische Armee in einer Kirche eingesperrte Yaqui, einschließlich Frauen und Kinder. Seitdem kursiert unter den Indigenen ein Gedicht bis heute: „Der Yori ist derjenige, der uns immer geschadet hat mit Krieg, uns das Land genommen hat, die Ernte, das Vieh, die Weiden und das Holz; uns jeder Art von Folter und Qual unterzog.“ Der Yori, unschwer zu erraten, ist der Eindringling: als „die Fremden, Weißen, Kreolen, Mestizen, Angelsachsen, Europäer“, beschreibt sie Taibo II. Wörtlich heißt Yori, „der nicht respektierte.“
Taibo II lässt an seiner Sympathie und seiner Bewunderung für die Yaqui keinen Zweifel. Ein Volk, das sich über Jahrzehnte an Waffenkraft deutlich unterlegen, mit Guerilla-Taktik gegen einen übermächtigen Feind gewehrt haben. Neben zahlreichen detaillierten Schilderungen von größeren Schlachten, widmet Taibo auch herausragenden Persönlichkeiten auf beiden Seiten einzelne biographische Kapitel und Abschnitte, vor allem Cayeme. Er war ein Offizier der Yaqui-Kavallerie, der von Gouverneur Pesqueira 1874 die Zuständigkeit für die Yaqui- und Mayo-Territorien, eines weiteren indigenen Volks in Sonora, übertragen wurde. Ein Yaqui, der in der mexikanischen Armee ausgebildet wurde. Der Plan, so den Widerstandsgeist der Yaqui zu brechen, ging gründlich schief. Cayeme griff auf die traditionelle demokratische Struktur der Yaqui zurück, statt hierarchisch Macht auszuüben. Diesem Ansatz blieb er bis zu seiner Ermordung 1887 treu. Auch wenn sich nach seinem Tod die Landnahme beschleunigte, der Widerstand blieb, bis sich die Regierung entschloss, „die Yaqui-Indios vollkommen auszulöschen.“ Das gelang nicht ganz, aber fast. 1868 lebten rund 30.000 Yaqui, nach der Endphase mit Massendeportationen und Massenexekutionen waren es 1909 noch rund 6000. Heute leben nur noch wenige Yaqui in den Bergen von Sonora rund um den Río Yaqui. Taibo schließt mit: „Ich beende das Buch in der Hoffnung, dass seine Lektüre diese bittere Mischung aus Abscheu und Bewunderung erzeugt, die ich empfunden habe.“ Diese Hoffnung dürfte sich in den allermeisten Fällen erfüllen.

 

DER REBELLION NICHT MÜDE

Als „punk reggae party“ bezeichnen die Musiker von Che Sudaka ihren eigenen Stil. Und unter diesem Motto steht auch das neue Album der Band aus Barcelona (siehe LN Interview). Die meisten Stücke darin sind nicht neu: Es enthält viele bekannte Klassiker wie „Mentira Polítika“, „La risa bonita“ oder den Titelsong „Almas Rebeldes“. Jedoch ist das Album weit ab von einem schnell zusammengewürfelten Best-of Album, für das sich Künstler*innen entscheiden, wenn sie plötzlich knapp bei Kasse sind. Almas Rebeldes verfolgt mit viel Aufmerksamkeit für jedes Detail ein Gesamtkonzept: In neuen Versionen eingespielte, alte Stücke sind mit neuen Liedern bewusst aufeinander abgestimmt. Jeder Song geht flüssig in den nächsten über, sodass Übergänge manchmal gar nicht zu merken sind.

Bei vielen Liedern sind andere Musiker*innen zu Gast: So etwa der deutsche Ska- und Reggae-Künstler Dr. Ring Ding, die ehemalige Frontfrau der Band Amparanoia Amparo Sánchez oder Manu Chao. Mit manchen der Künstler*innen haben Che Sudaka schon häufiger zusammengearbeitet und wurden von ihnen in ihrem musikalischen Werdegang beeinflusst. Viele der Features sind aber auch zum ersten Mal dabei und geben den Liedern einen ganz neuen Charakter.

Almas Rebeldes ist, sowie auch die bisherigen CDs von Che Sudaka, ein politisches Album. Es handelt von sozialen Bewegungen und Protest, Polizeigewalt und Repression, sozialer Ungleichheit und fehlendem Vertrauen in Politik und Staat. Vor allem die Themen Saatgut und bäuerliche Autonomie stehen im Mittelpunkt und werden von Anfang bis Ende des Albums immer wieder angesprochen. Der Aufruf zum Widerstand („almas rebeldes levántense“) zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Album. Sogar das CD-Cover, das von dem Künstler Pablo Kalaka entworfen wurde, spiegelt diese Nachricht wider und ist Aussagen der Band zufolge eine Hommage an alle Bäuerinnen und Bauern, welche für sie die Hoffnung auf eine bessere Welt repräsentieren.

Dieser ernsthafte Charakter wird aufgelockert von Stücken, die die Freude am Leben feiern, wie etwa „La risa bonita“ oder „El libro de los abrazos“. Mal haben die Songs mehr Cumbia- oder Rumba-Rhythmen, mal geht es rockiger zu, öfters sind Hip-Hop Elemente dabei. Das ganze Album wirkt sehr energisch, die neuen Auflagen der Klassiker sind meist schneller und werden durch elektronische Komponenten dem neueren Stil der Band angepasst. Die Musik von Che Sudaka lässt sich noch immer schwer in feste Genres einordnen und hat sich über die Jahre zu einem ganz eigenen Stil mit verschiedenen Einflüssen entwickelt. Gesungen wird auf fünf Sprachen, überwiegend auf Spanisch, aber auch Portugiesisch, Französisch, Englisch und Kibunda.

Almas Rebeldes reißt einen beim Hören mit und regt zum Tanzen, zum Abschalten, aber auch zum Nachdenken an. Es ist ein rundes und sehr gelungenes Album einer Band, die sich seit ihrer Gründung immer weiterentwickelt hat und sich kontinuierlich neu ausprobiert. Diesen Prozess mit zu verfolgen und sein vorläufiges Ergebnis auf diesem Album zu erleben macht Spaß – und vor allem bekommt man Lust auf mehr von dieser Band, die auch nach 15 Jahren nicht müde wird, sich und die Welt immer wieder neu erfinden zu wollen.

 

KEIN FUNKEN REUE

Das Geheimnis lüften, um es in den Akten seiner Institution verschwinden zu lassen: Die Mission Padre Garcías ist so zwielichtig wie die Atmosphäre des kleinen Orts am Meer, wo die Sonnenstrahlen auf eine gewaltig düstere Wolkenfront treffen. Dass dieser Ort La Boca heißt und an der chilenischen Küste 160 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago liegt, ist unwichtig; wesentlich ist vielmehr die Tatsache, dass er abgelegen ist, überschaubar und wenig Abwechslung zu bieten hat. Hierher kommt Padre García als Abgesandter der katholischen Kirche Chiles, Seelsorger und Psychologe mit europäischen Diplomen, der für eine „neue Kirche“ eintritt. Der kriminellen Vergangenheit der vier Priester in dem so harmlos wirkenden gelben Haus am Hang will er auf die Spur kommen, herausfinden, ob sie sich ihrer Verfehlungen bewusst sind.
Nachdem sich Pablo Larraín in vorhergehenden Filmen – darunter sein bekanntester No! (2012) – mit der chilenischen Geschichte auseinandergesetzt hatte, behandelt El club ein Thema, das in der Öffentlichkeit vieler Länder seit einigen Jahren verstärkt diskutiert wird. Durch den diesjährigen Oscar für den US-amerikanischen Film Spotlight wurde den sexuellen Vergehen von Priestern an Minderjährigen gerade wieder umso mehr jener medialen Aufmerksamkeit zuteil, der die Kirche jahrzehntelang zu entkommen suchte: Anstatt die staatliche Justiz walten zu lassen, zog sie es vor, ihre straffällig gewordenen Mitglieder in eigenen Einrichtungen vor der Außenwelt zu isolieren, zu verstecken. Die Existenz zahlreicher solcher „Häuser der Buße“ überall auf der Welt habe für El club den Anlass gegeben, so Larraín im Interview. Bei der 65. Berlinale 2015 feierte sein Film Weltpremiere, er erhielt den Großen Preis der Jury zusammen mit einem Silbernen Bären und gewann in der Folge weitere Preise bei internationalen Festivals.
„Es ist ein schönes Leben. Den Brüdern geht es gut. Sie sind gesund und rein im Herzen.“ So versichert es Schwester Mónica gegenüber Padre García bei einem Gespräch unter vier Augen am Strand. Als einzige Frau bei den Priestern nimmt sie die Rolle einer Haushälterin ein und sorgt für die Einhaltung der strengen internen Regeln. Unberechenbar in ihrer Art, aber besorgt in der Beschaulichkeit ihres Alltags behelligt zu werden, geht Schwester Mónica sogar noch weiter: „Wir führen ein heiliges Leben. Es ist wirklich sehr schön.“ Da mag Padre García mit seiner Erwiderung vom „Ort der Reue“ der Wahrheit zwar näher kommen – aber bereuen diese Priester wirklich die Verbrechen, die sie begangen haben? Kann eine immer gleiche Abfolge von Beten, Essen, Singen, Schlafen, in der auch Alkohol und Hunderennen ihren Platz haben, wirklich angemessene Strafe sein?
El Club möchte ausdrücklich nicht den moralischen Zeigefinger erheben, wie Schauspieler Roberto Farías, der im Film in der Figur des Sandokan als einziges Opfer auftritt, bei der Pressekonferenz zur Berlinale klarstellte, sondern es dem Publikum überlassen, was es mit den Eindrücken aus dem Film anfängt. Dabei wirken Musik und visuelle Ästhetik so eindringlich mit der vielfach als „Kammerspiel“ bezeichneten Handlung zusammen, dass die Suche wenigstens nach einem Funken Reue in der Redeweise und im Mienenspiel der Priester in ihrer abgekapselten Welt für das Publikum zu einer verzweifelten, ungläubigen Aufgabe und der Film doch zu einer klaren Anklage der Straflosigkeit von Kirchenleuten wird. Die Abscheu gegen die Bewohnerschaft des gelben Hauses wächst mit der Gewissheit, dass diese Padres immer noch eine Gefahr darstellen. Der schwer traumatisierte und gesellschaftlich vollkommen marginalisierte Sandokan, der seinem Peiniger bis nach La Boca gefolgt ist und dessen schonungslose Sprache auf Interviews mit realen Opfern basiert, muss den Beweis dafür liefern.
Fahles Licht und fortwährende Beklemmung – verstärkt durch sowjetische Linsen aus den 60er Jahren – und kein einziger Sympathieträger. Dafür nimmt der Film die Zusehenden besonders in den Verhördialogen und mit seiner Kameraführung gefangen, wenn sie geduldig forschend über Gesichter und Landschaft streift. Zugleich zeigt El Club nicht, was die Menschen im Dorf über das Priesterhaus denken, was sie womöglich ahnen oder wissen. Da wäre zu fragen, ob diese nicht wir selbst sind, die es hinnehmen, dass die katholische Kirche sich hinter ihre Mauern zurückziehen kann, sodass nur ein Kunstwerk wie El club es schafft, einen vagen Blick dahinter zu werfen.

 

IM RYTHMUS EINES GENIALEN MUSIKERS

Chico Buarque ist einer der bekanntesten Musiker und Komponisten Brasiliens, eine international anerkannte Größe der Música Popular Brasileira. Weniger bekannt ist er in Deutschland als Autor von Romanen, die er in großen Abständen seit Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht. Mein deutscher Bruder von 2014 erschien in deutscher Übersetzung im S. Fischer Verlag und bietet für Leser*innen hierzulande etwas ganz Besonderes: Chico Buarque, eigentlich Francisco Buarque de Hollanda, erzählt darin den lange verschwiegenen, deutschen Teil seiner Familiengeschichte. 2013 kam er nach Berlin, um nach dem unehelichen Sohn seines Vaters Sergio de Hollanda zu suchen, den dieser in den 1930er Jahren während eines Studienaufenthaltes gezeugt und nie gesehen hatte. Und – soviel sei verraten – auch ihm ist es nicht mehr gelungen, den Halbbruder lebend zu treffen.
Basierend auf dieser realen Familiengeschichte gestaltet Buarque eine fiktive Version der Entdeckung des Familiengeheimnisses und der Suche nach dem unbekannten Halbbruder, in der sich, wie in einem Vexierspiegel, reale Geschehnisse und erzählerische Verfremdung mischen. So ist der Vater der Hauptfigur, wie der Vater von Chico Buarque, ein Intellektueller, der nie über den in Deutschland gezeugten Sohn spricht.
Auch Nino selbst liebt die Bücher, spricht mehrere Sprachen und verdient so seinen Lebensunterhalt. Anders als der Autor, hat Nino nur einen, sehr verhassten, älteren Bruder, den – vermutlich – eine seiner Frauengeschichten in die Fänge der brasilianischen Militärdiktatur treibt. Auch Nino leidet unter der brasilianischen Diktatur und beschreibt die Veränderungen genau, die im Laufe der Jahre jeden Protest unmöglich machen. Anders als Chico Buarque aber, dessen politisches Theaterstück Roda Viva ihm 1967 nur die Wahl zwischen dem italienischen Exil und dem Gefängnis ließ, findet Nino eine Nische im Institut Français, das ihn vor politischer Verfolgung bewahrt. Das „Verschwinden“ seines Bruders treibt Nino immer tiefer in die Auseinandersetzung mit der deutschen Diktatur der 1930er Jahre, als sein Vater versuchte, den unehelichen Sohn aus Berlin nach Brasilien zu holen und am fehlenden Ariernachweis scheiterte. Unklar ist daher selbst der Name des Bruders – ein schlechter Ausgangspunkt für die Suche, bis Nino, auch als Nichtmusiker, ihn endlich an der wieder lebendig gewordenen Stimme des Vaters erkennt. Wie sehr ist die eigene Familiengeschichte von der Weltgeschichte bestimmt, wo berühren sich das Politische und das Private? Haben Diktaturen zu unterschiedlichen Zeiten etwas gemeinsam? Diese großen Fragen stellt diese Familiengeschichte. Doch während bei anderen Romanen, die auf realen Geschehnissen beruhen, die Fiktion oft interessanter ist als die Realität, entsteht in Mein deutscher Bruder der Verdacht, die „eigentliche“ Geschichte wäre letztlich spannender gewesen als die sehr konstruierte – und oft skurrile – fiktive Familiengeschichte. Dennoch besitzt der Roman große literarische Qualitäten. Da ist zuerst die Sprache Chico Buarques, der Rhythmus seiner oft halbseitenlangen Sätze, die den genialen Musiker verraten. Der Autor spielt mit Begriffen, mit deutschen Passagen, mit Zitaten großer Klassiker und dem Portugiesisch der Straßen von Rio de Janeiro. Kongenial übersetzt wurde er von Karin von Schweder-Schreiner, mit der er intensiv zusammengearbeitet hat. Nicht zuletzt ist angesichts der aktuellen Situation in Brasilien die Auseinandersetzung des bis heute politisch engagierten Chico Buarque mit der Militärdiktatur äußerst spannend.

 

AUF DEM RÜCKEN DER BESTIE

Was ist exakt 1,58 Meter lang und schwarz weiß? Nein, es handelt sich nicht um ein südamerikanisches Tier, das sich in den Wäldern des Amazonas tummelt – es ist eine Besonderheit ganz anderer Art. Von einem Buch soll hier die Rede sein.
Beinahe mystisch mutet das in schwarzes Leinen gebundene Buch an. Öffnet man es, faltet sich ein exakt 1,58 Meter langes Wimmelbild und ein Text auf der linken Seite wie eine Ziehharmonika auseinander. Zu sehen sind kleine Männer und Frauen, die auf dem Feld arbeiten. Tiere zwischen Bäumen und kleine Häuser, die sich aneinander reihen. Weiter unten ein Zug, Zäune, Hunde, Polizeiautos und Menschen, die sich vor bewaffneten Männern verstecken. Es sind Flüchtende, die nicht sicher sein können, was sie auf der anderen Seite erwartet.
Jedes Jahr treten viele Mexikaner*innen eine gefährliche Reise an: Die Überquerung der Grenze zu den USA. Diesem Thema widmen sich José Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro in ihrem Buch Migrar. Weggehen. Der Erste sprachlich, der Zweite in Zeichnungen.
Auf beiden Ebenen nehmen sie ihre Leser*innen mit auf die gefährliche Reise eines Jungen, der gemeinsam mit seiner Mutter nach Los Angeles flüchtet. Sie sind auf der Suche nach dem Vater, der schon früher dorthin gegangen war und plötzlich aufhörte, Geld in das kleine mexikanische Heimatdorf zu schicken. Die Flucht gestaltet sich nicht einfach: Sie müssen auf den Rücken der Bestie springen, wie sie den Zug Richtung USA in Mexiko oft nennen. Außerdem gibt es Hunde, die nach ihnen schnappen und dunkle Erdlöcher, in denen sie sich verstecken müssen.
Das Buch ist ein Meisterwerk auf beiden Ebenen. Auf der einen Seite ist da der junge Ich-Erzähler, der klug und kindlich zugleich seine Erlebnisse und Ängste schildert. Auf der anderen Seite gibt es die Zeichnung, die aus der Vogelperspektive die Geschichte vieler flüchtender Menschen zeigt. Der Illustrator José Martínez Pedro schafft es, altaztekischen Zeichenstil mit aktueller Thematik zu verbinden und schafft damit ein einzigartiges Werk.

 

Vom Feldbauern zum Preisträger

Interview mit dem Kleinbauern und Buchillustratoren Javier Martínez Pedro

Warum haben Sie sich dazu entschieden, das Buch Migrar zu illustrieren?
Der Verlag lud mich dazu ein, dieses Buch zu machen. José Manuel Mateo stellte seinen Text zur Verfügung, in dem er über einen Jungen schreibt, der aus Mexiko in die USA flieht.
Sie leben in dem kleinen Dorf Xalitla in Mexiko. Wie kam der Verlag auf Sie ?
Der Sohn der Verlegerin kannte mich, da ich für ihn Zeichnungen gemacht hatte. Daher kam es, dass sie mich dazu einlud, eine Zeichnung zum Thema Migration anzufertigen. Natürlich spielte José Manuel Mateo eine Rolle, da sein Text ja die Basis für meine Zeichnungen war. Mir gefiel an der Idee vor allem, dass ich selbst Teile der Geschichte Migrar erlebt habe: Ich machte mich auch auf den Weg in die USA und überquerte die Grenze. Ich denke, mir ist das Buch einigermaßen gut gelungen. Das liegt bestimmt daran, dass in meinen Zeichnungen etwas von meinem Leben steckt.

Sie leben zum Teil vom Verkauf Ihrer Zeichnungen. Welche Themen stellen Sie dar?
Die Traditionen meines Dorfes. Dort widmen sich die Leute der Erde: Wir säen, wir ernten die Früchte, pflanzen Kürbisse und Wassermelonen. Die Hochzeiten, zum Beispiel, sind in meinem Dorf etwas ganz Besonderes. Die Menschen heiraten zur Musik des Windes, sie tanzen und es gibt Musiker, die auf der Trommel spielen. All das zeichnen wir, meine drei Söhne und ich.

Wo verkaufen Sie Ihre Zeichnungen?
Meistens auf der Straße. Manchmal klopfen wir aber auch an Türen und fragen: „Brauchen sie nicht eine Zeichnung?“ Ab und zu kaufen die Leute die Zeichnungen dann, oft aber auch nicht. Ehrlich gesagt, ist die Situation gerade sehr hart. Es gibt viel Konkurrenz und leider auch viele Leute, die unsere Arbeit nicht mehr schätzen.

Sie müssen ja wirklich viel Zeit mit Zeichnen verbringen!
Ha! Ja, viel Zeit. Ich fing auch schon mit zwölf Jahren damit an, jetzt bin ich 52!
Zurück zu Ihrem Buch. Haben Sie eine Lieblingsszene in dem Buch und wenn ja, welche?
Ja, zum Beispiel gefiel es mir, den Zug zu zeichnen. Das war nämlich auch nicht ganz einfach. Normalerweise machen wir ja eher schlichte, hm, sagen wir, einfachere Zeichnungen. Als sie zu mir sagten, ich solle das machen, meinte ich: Wie soll ich das tun? Ich zeichne normalerweise nicht einmal Autos. Das sind ja ganz moderne Dinge!

Das war bestimmt eine Herausforderung.
Ja. In Mexiko nennt man den Zug übrigens „die Bestie“, weil dieser Zug alle Leute mitnimmt, die beispielsweise von Guatemala oder El Salvador kommen, um die Grenze zu überqueren. Es gefiel mir, Leute auf das Dach des Zuges zu zeichnen, die sich festhalten oder versuchen aufzuspringen.

Sie zeichnen auf Baumrindenpapier. Warum ist dieses Papier so besonders?
Das Baumrindenpapier wird aus der Rinde des Amatl-Baumes gemacht. Deswegen gab man ihm auf Spanisch auch den Namen papel amate.Interessant ist auch, dass dieses Papier eigentlich braun ist und dann erst mit Chlor gebleicht wird.
Das Thema der Flucht aus Mexiko ist ein politisches. Würden Sie sich daher auch selbst als politischen Illustrator sehen?
Ich möchte den Menschen verständlich machen, was es heißt, sein Land zu verlassen. Auswandern bedeutet für uns, wo anders bessere Lebensbedingungen zu suchen. Wir nehmen viele Risiken auf uns. Manchmal misshandeln sie uns an der Grenze. Manche, die werden sogar umgebracht. Und genau deshalb möchte ich vor allem den Kindern eine wichtige Botschaft mitgeben: Sie sollten lernen und dafür kämpfen, etwas aus ihrem Leben zu machen. So müssen sie nicht irgendwann ihr Leben riskieren, um eine Grenze zu überqueren.

 

VERFOLGUNGSJAGD

„Er sah auf seine Hände. Kriminelle, jawohl. Wegelagerer, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen.“ Das stellt der Soldat León Almansa am Ende des Romans fest. Gleichermaßen könnte dieses Zitat die Erkenntnis mehrerer Protagonist*innen aus Antonio Ortuños Madrid, Mexiko sein. Gewalt und Brutalität ziehen sich durch den ganzen Roman. Ob aus Rache, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen oder im Kampf ums eigene Überleben, gnadenlos wird gejagt und vergolten.

Der Roman ist die Geschichte einer Familie aus der Sicht verschiedener Generationen, aus zwei Jahrhunderten und über zwei Kontinente hinweg erzählt. Dabei verknüpft Ortuño in beinahe filmisch anmutenden Szenen die Zusammenhänge. Vom spanischen Bürgerkrieg wird ins Jahr 1997 gesprungen, in welchem der Enkel des Anarchisten Yago, einst aus Madrid vor Franco geflüchtet, nun selbst zurück in das Land seiner Großeltern flieht. Omar wird nämlich vom Handlanger eines korrupten Gewerkschaftsbosses (Mariachito genannt) verfolgt, weil er als heimlicher Geliebter von Mariachitos Freundin, der sich obendrein auch noch am Tatort befand, fälschlicherweise für dessen Mord verantwortlich gemacht wird.

Madrid, Mexiko ist nicht nur eine einzelne spannende Verfolgungsjagd, sondern bietet gleich mehrere davon, und das auf verschiedenen Ebenen. Da ist beispielsweise die Cousine Omars, die ihm zur Flucht verhilft und in gewisser Hinsicht auch Fluchthelferin der Literatur ist. So verfolgt und beschafft sie Manuskripte über Kontinente hinweg, um sie an gut zahlende, geheimnisvolle Kund*innen zu verkaufen, deren Ziel es ist, dass selbige niemals an die Öffentlichkeit gelangen.

Obwohl Flucht und Verfolgung im Vordergrund des Geschehens stehen, erzählt Ortuños neuer Roman doch vor allem vom Ankommen und von der Identitätssuche in der Fremde. Madrid, Mexiko ist auch eine Geschichte verschiedener Versuche, dem Schicksal zu entkommen und eine Heimat zu finden, Migrations- und gesellschaftliche Konflikte mit eingeschlossen. „So viel Foucault, um am Ende in irgendeinem Scheißladen ein Tüllkleid zu kaufen; So viel Derrida, um dann für einen Bauern Tortillas zu backen.“ Die Worte Omars und seiner Kommilitonin, die mit einem Landwirt aus der Provinz, aus der sie stammt, verlobt ist, treffen es auf den Punkt. Ortuño zeichnet ein authentisches Bild der konservativen mexikanischen Gesellschaft und erzählt auch von der Rebellion gegen das eigene Schicksal.

Mögen die einzelnen Charaktere auch sehr unterschiedliche Biographien haben, die auf verschiedene Weisen miteinander verwoben sind – am Ende steht eine Nachricht klar und deutlich für alle Beteiligten. Die Menschen glichen sich seit Kain nur in einem: „Sie seien alle Verbrecher.“

 

AUF DER SUCHE NACH PAITITI

„Paititi wartet seit Jahrhunderten auf uns, und wir werden hinkommen, koste es, was es wolle.“ Der Patriarch Hans Ertl, einst Kameramann von Leni Riefenstahl und Erwin Rommel, nach dem Krieg mit seiner Familie nach Bolivien ausgewandert, ist besessen von der Idee, die seit der Conquista verlorene Inkastadt Paititi zu finden. Eine von vielen Expeditionen, im Zuge derer Hans üblicherweise monatelang verschwindet, während seine Frau und seine drei Töchter in La Paz auf ihn warten. Doch für Paititi macht er eine Ausnahme: Die beiden älteren Töchter, Monika und Heidi, sollen ihn begleiten, Kameratechniken erlernen, den Dschungel durchstreifen und überhaupt: Hans ist es wichtig, dass seine Töchter nicht wie ihre Mutter enden und ihr Leben lang auf einen Mann warten, sie sollen selber Abenteuer erleben. Die stoische Besessenheit und inneren Widersprüche des Vaters führen sein Team auf eine absurde, langwierige und gefährliche Expedition, die in einem hochexplosiven Finale endet.

Die Affekte ist der zweite Roman des bolivianischen Nachwuchsautors Rodrigo Hasbún. Er enthält dabei viel mehr als nur die tatsächlich stattfindende Suche nach Paititi. Der Mythos um die verschwundene Stadt symbolisiert eine nicht enden wollende Suche nach sozialer Gerechtigkeit und nach Rache, nach Einsamkeit und gleichzeitig nach familiärem Zusammenhalt. Nicht nur werden neben den fünfziger Jahren auch die sechziger und siebziger Jahre, sowohl in Bolivien als auch in München anekdotenhaft umrissen. Der Fokus liegt insbesondere auf dem Innenleben der verschiedenen Protagonist*innen des Romans wie der ältesten Tochter Monika, die ihrem Vater charakterlich sehr ähnlich und deren politische Radikalisierung der im wahrsten Sinne des Wortes rote Faden ist, der am Ende in einer erzählerisch spektakulären Aktion reißt.

Hasbún behandelt in Die Affekte allerdings nicht nur das Leben der beiden realhistorisch berühmten Ertls Hans und Monika. Sowohl die Perspektiven der beiden jüngeren Töchter, als auch des Guerrilleros Inti und Reinhards, eines ehemaligen Geliebten Monikas, spielen eine gleichberechtigte Rolle. Der Autor setzt für die verschiedenen Erzählperspektiven unterschiedliche sprachliche Techniken ein. So ist beispielsweise Reinhards Grabrede auf Monikas und seine Beziehung eine durch doppelte Schrägstriche verbundene Aufzählung scheinbar zusammenhangsloser Tatsachen, während Heidi, die mittlere Tochter, in ihrer Erzählung so stringent bleibt wie in ihrem Handeln. Der Tonfall bleibt jedoch immer lakonisch und gleichzeitig mitfühlend gegenüber den Figuren des Romans. Insbesondere Trixi, die jüngste Schwester, ist nach dem frühen Tod der Mutter verzweifelt darum bemüht, die Entfremdung der Familienmitglieder untereinander zu verhindern. Ihr eigenes trostloses Dasein in La Paz, geprägt von einer pathologischen Nikotinsucht, absoluter Einsamkeit und Ausgrenzung – ihre große Schwester sei schließlich eine Terroristin – präsentiert sie dabei ohne Scham und ohne Reue, lediglich nostalgisch. „Es stimmt nicht, dass die Erinnerung ein sicherer Ort ist“, so Trixi, „auch dort entfernen wir uns am Ende von den Menschen, die wir am meisten lieben.“

Hasbún hat sich einer wahren Geschichte bedient, diese meisterhaft fiktionalisiert und einen höchst persönlichen und intimen Abriss über das Schicksal einer vollständig auseinandergerissenen Familie erschaffen. Noch über die letzte Seite hinaus machen sich die Gedanken- und Aschefetzen der Roman-Ertls und dessen, was vielleicht einst Paititi war, selbstständig und schwirren in der Meditation über dem Buchrücken weiter umher.

 

HUNDERT JAHRE BLUTVERGIESSEN

„Die Eckpfeiler und Leitprinzipien der Ideologie des freien Marktes decken sich im Grunde mit der Ideologie von Verbrechersyndikaten“. Auf dieser zu Anfang des Buches dargelegten Prämisse baut die Argumentationsstruktur von ¡Es reicht! auf. Sie ist der rote Faden, der sich durch die Beschreibung einer der blutigsten und verworrensten Geschichten des 20. Jahrhunderts auf dem amerikanischen Kontinent zieht. Und obgleich keine unbekannte These, ist ihre so deutliche Formulierung doch provokant, denn sie sucht die Schuld vor allem bei der prohibitionistischen und neoliberalen Logik der US-amerikanischen und mexikanischen Regierungen.

Carmen Boullosa ist Autorin von Romanen, Theaterstücken und Gedichten, in denen sie immer wieder sozialhistorische Themen aufgreift. Ihr Partner Mike Wallace wurde für seine historische Stadtbiographie New Yorks mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Bezeichnend ist, dass das Buch trotz der Prominenz der beiden Autor*innen im Original auf Englisch und bisher überhaupt nicht auf Spanisch erschienen ist. Boullosa, in Mexiko eigentlich eine anerkannte Schriftstellerin und Literaturpreisträgerin, wurde diesbezüglich praktisch totgeschwiegen. In den USA hingegen schlug ¡Es reicht! 2015 große Wellen. Die Los Angeles Times bezeichnete den Text als wichtigen Beitrag zur Aufklärung derjenigen US-Amerikaner*innen, deren unbändiger Appetit auf illegale Drogen immer gravierendere Konsequenzen im Nachbarstaat mit sich zieht – hinzu kommt die Lethargie im Angesicht des endlos südwärts fließenden Waffenstroms

Obwohl ¡Es reicht! Anklage gegen diesen Teil der US-amerikanischen Zivilgesellschaft und die Regierungen der letzten Jahrzehnte erhebt, ist dies nicht der Fokus des Buches. Am Härtesten wird mit den Dogmen der mexikanischen rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) und insbesondere der ehemaligen Staatspartei Revolutionäre Institutionale Partei (PRI) abgerechnet. Sie haben es nicht geschafft, den Blutrausch der Kartelle zu stoppen und sehen sich nun im 21. Jahrhundert mit einem Land konfrontiert, über das sie die Kontrolle längst verloren haben. Ein Land, das die Politik maßlos überfordert und vice versa.

Am meisten Kritik muss PAN-Politiker Felipe Calderón einstecken, der zwischen 2006 und 2012 Präsident Mexikos war und dessen Legislaturperiode etwa ein Drittel des Gesamttextes gewidmet wird. Laut den beiden Autor*innen habe dieser in Bezug auf den Kampf gegen die Kartelle keine einzige richtige Entscheidung getroffen. Seine Vorgehensweisen im sogenannten Krieg gegen die Drogen werden eine nach der anderen als desaströs entlarvt. Das mag für viele nichts Neues sein, krass ist es dennoch, diese als Zeitleiste des Totalversagens so präzise gebündelt präsentiert zu bekommen.

Doch auch das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko (NAFTA), die US-amerikanische Waffenlobby-Organisation National Rifle Association und die Rolle der US-amerikanischen Unternehmen, die in den maquiladoras insbesondere seit Beginn der Neunziger Jahre vor allem Frauen ausbeuten, bekommen ihr Fett weg. All diesen Akteuren wird eine Teilverantwortung in dem immer blutiger werdenden Krieg zwischen den schwer zu umreißenden Fronten zugeschrieben. Insgesamt wird die Politik als opportunistischer Spielball der Kartelle präsentiert: Von den Zerwürfnissen und Bündnissen zwischen den mächtigsten Syndikaten seien seit Beginn des 20. Jahrhunderts Krieg und Frieden in Mexiko abhängig gewesen. Die Politik habe dabei nur eine zweitrangige, sehr passive Rolle (mit der negativen Ausnahme der Präsidentschaft Calderóns) gespielt, was sich laut den Autor*innen auch nicht ändern werde, so lange die Prohibition Bestand habe. So habe beispielsweise das Friedensabkommen zwischen dem Golfkartell und dem damaligen Zusammenschluss des Sinaloa- und Juárez-Kartells den Krieg im Jahr 2008 erst wieder richtig aufflammen lassen, da sich ihnen verschiedenste zuvor verfeindete Splittergruppen nun gemeinsam in den Weg stellten.

¡Es reicht! liest sich wie eine chronologisch aufgezogene Netzwerkanalyse des staatlichen Scheiterns. Alle Beteiligten sowohl auf politischer als auch Kartell-Ebene – Grenzen unklar – dachten dabei scheinbar nur daran, ihr eigenes Image zu verbessern, Macht zu demonstrieren und sich auf Kosten von wem auch immer, ob Freund*in oder Feind*in, maßlos zu bereichern.

Boullosa und Wallace haben es geschafft, ein sehr komplexes und schwer einzugrenzendes Thema auf weniger als 250 Seiten verständlich und präzise auf den Punkt zu bringen. Sowohl die mexikanischen als auch die US-amerikanischen Verwicklungen werden durch das Autor*innenteam vielseitig beleuchtet. Auf der anderen Seite wird auch der Rolle einzelner Widerstandskämpfer*innen wie die des Dichters Javier Sicilia, der autodefensas in Michoacán, oder die der Eltern der Verschwunden von Ayotzinapa Rechnung getragen, die es zumindest für einen gewissen Zeitraum geschafft haben, eine breite Öffentlichkeit zu mobilisieren. Diese Mobilisierung ist es auch, die für die Autor*innen eine Schlüsselrolle in der Zukunft einnehmen muss. Die diesbezügliche Analyse ist umso wertvoller, da die Rolle der Zivilgesellschaft in einem so korrupten Staat wie Mexiko niemals unterschätzt werden darf.

Noch schöner wäre es allerdings gewesen, wenn die Autor*innen auch ihren auf politischer Ebene angesiedelten Lösungsvorschlägen mehr Platz eingeräumt hätten. Auf wenigen Seiten wird am Ende des Buches zusammengefasst, was laut Boullosa und Wallace von institutioneller Seite aus getan werden müsste, um das Blutvergießen zu beenden. Genannt werden die Schaffung einer mexikanischen Wahrheitskommission, wie sie bereits in anderen lateinamerikanischen Ländern existiert, die Implementierung eines möglichst autonomen Antikorruptionsprogramms und vor allem das Ende der Prohibitionspolitik. Konkretisiert werden diese Vorschläge leider nicht. Doch vielleicht ist dies auch nicht die Aufgabe von ¡Es reicht!. Einiges ist bereits damit getan, die Geschichte der Drogen aufzuarbeiten und Verantwortliche aufzuzeigen – ein erster Schritt, der in Mexiko bisher nur unter Lebensgefahr getan werden konnte. Umso wichtiger ist es, das Buch auch einem spanischsprachigen Publikum zugänglich zu machen.

 

SUBTILER RASSISMUS

1990 wohnte ich sechs Monate in Rio de Janeiro, in einem Apartment in Leme, dem ruhigen Teil der Copacabana. Nur einmal kurz die Straße und den Berg hoch kam die nächste „Favela“: Chapeu Mangueira. Der Stadtteil, schon damals mehr „Arbeitersiedlung“ denn ein Schauplatz extremer Armut, wurde durch Benedita da Silva bekannt, erste schwarze Frau im Kommunalparlament, später im Landesparlament, noch später im Senat. Fast vor deren Haustür wurden drei Jugendliche erschossen, von denen einer ein Kadett war, der Landgang hatte. Sein Ausbildungsoffizier verbürgte sich für ihn und seinen guten Ruf (kein Drogendealer!) ein und setzte sich dafür ein, dass dieser Mord aufgeklärt würde. Vermutlich war es die Kombination aus militärischer Intervention und der Prominenz von Benedita da Silva, die den Fall bekannt machte. Aufgeklärt wurde er dennoch nie. Die Jugendlichen wurden aus einem fahrenden Auto heraus erschossen, vermutlich Zufallsopfer, vermutlich eine „Nachricht“, die der Forderung nach Schutzgeldzahlungen Nachdruck verleihen sollte.

Einen ganz ähnlichen Fall hat Fernando Molica zum Ausgangspunkt seines Romans Schwarz, meine Liebe gewählt, der bereits 2005 auf Portugiesisch unter dem Titel Bandeira negra, amor erschienen ist: Drei Jugendliche werden in der Favela Borel tot aufgefunden, vor ihrem Tod wurden sie offensichtlich gefoltert, einer von ihnen hatte einen Vertrag mit einem englischen Fußballverein in der Tasche. Schnell kommt der Verdacht auf, dass es sich nicht um „Drogenhändler in einem Bandenkrieg“ handelte, sondern die Polizei selbst in den Fall verwickelt ist. Und ähnlich wie im wirklichen Leben gestaltet sich die Aufklärung schwierig, auch die internen polizeilichen Ermittlungen.

Hauptfiguren dieses Romans, der nur am Rande Krimi ist oder sein möchte, ist das unwahrscheinliche Duo und heimliche Liebespaar Fred – schwarzer Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist – und die weiße Majorin der Militärpolizei Beatriz. Unabhängig voneinander ermitteln sie in ihren jeweiligen Sphären, heimlich tauschen sie Informationen aus und eröffnen Molica so die Perspektiven, um sich dem eigentlichen Romanthema zu nähern: Alltagsrassismus in Brasilien. Denn Fred hat, bevor er der respektable Rechtsanwalt Dr. Frederico Cavalcanti de Souza wurde, alle Phasen einer Erziehung durchlaufen, die darauf abzielte, ihn „weißer“ zu machen, einschließlich des allnächtlichen Gebrauchs einer Schlafhaube, um die „schlechten Haare“ zu glätten. Noch immer verwechselt ihn die weiße Mittelschicht trotz seines gutsitzenden Anzugs am Ausgang des Restaurants gerne mit dem Parkplatzwächter – die Hautfarbe ist Uniform genug. Unter diesen Umständen die Beziehung mit einer weißen Militärpolizistin offen zu leben, ist für beide ausgeschlossen.

Geschrieben ist Schwarz, meine Liebe fast ausschließlich in langen inneren Monologen. Fernando Molica, seit 1982 Journalist in verschiedenen Zeitungen, dem TV-Sender O Globo und aktuell für Rádio CBN in Rio de Janeiro, verwendet eine kraftvolle, brasilianische Alltagssprache für seine Figuren, die in der Übersetzung leider ein wenig verloren geht. Nicht weil sie schlecht übersetzt wäre, sondern weil jenseits des Slangs der Jugendkulturen oder des Mundartlichen keine ähnlich kraftvolle deutsche Alltagssprache existiert. Mit seinem zweiten Roman hat sich Molica mehrerer großer Themen angenommen und entführt uns gleichzeitig an wenig bekannte Orte der „wunderbaren Stadt“ Rio de Janeiro.

 

VON ZERQUETSCHTEN FLIEGEN UND MENSCHENBREI

„Bei der Jagd auf Fliegen sind die wichtigsten Fähigkeiten Schnelligkeit und Beweglichkeit. Wenn du schnell bist und fest zuschlägst, wird sich die Fliege in einen organischen Brei verwandeln, der nicht im Entferntesten mehr an ein Lebewesen erinnert. Man jagt Fliegen zum Spaß, das Amüsement rechtfertigt auf dieser Welt alles, aber man zerquetscht sie auch aus Ekel, da sie dort hinfliegen, wo sie nicht hinfliegen dürfen, und das ärgert uns.“ Die Fliegen-Analogie ist nicht die einzige, die in Antonio Ortuños Die Verbrannten zwischen der Tierwelt und den zentralamerikanischen Migrant*innen, die Mexiko durchqueren, aufgestellt wird. Sie sind Kakerlaken, die zerquetscht werden müssen, gescheuchtes Vieh auf der Reise zum Schlachthof, das anschließend durch den Fleischwolf gezwängt wird.

Irma, genannt La Negra, eine Sozialarbeiterin der Nationalkommission für Migration, wird nach einem Brandanschlag in das fiktive Santa Rita versetzt, ein unscheinbarer, fehlkonstruierter Ort an der Grenze zu Guatemala. Der Anschlag galt der örtlichen Herberge für Migrant*innen auf der Durchreise in die USA. Irma soll die Angehörigen und wenigen Überlebenden mit Infoblättern versorgen und ein standardisiertes geheucheltes Beileid aussprechen. Desillusioniert und verzweifelt ob der Untätigkeit ihrer Beamtenkollegen im Angesicht der immer neuen Angriffe und Massaker in der Herberge, versucht Irma gemeinsam mit dem Journalisten Joel Luna eines der überlebenden Opfer zu schützen: Yein, eine junge Frau, die auf eine fast schon mystische, epische Art als Racheengel stilisiert wird.

Santa Rita ist jedoch nur ein Teilaspekt des extrem vielstimmigen Romans. Seine größte Stärke sind die eingestreuten Kapitel, die den Bewusstseinsstrom des frustrierten und hasserfüllten Vaters  der Tochter Irmas wiedergeben. Gesellschaftsfähiger Rassismus und moralische Verkommenheit werden so denunziert.

Im Stile von Bolaños monumentalen Roman 2666 schildert Ortuño mit medizinischer Präzision unfassbare Gewaltszenen, die besonders darum Übelkeit verursachen, weil sie nicht fiktiv sind, und weil sie mehr als nur die Wertlosigkeit eines Menschenlebens bedeuten. Zentralamerikanische Migrant*innen werden zum Objekt der Macho-Gewaltfantasien, des Machtwahnsinns und der Machtdemonstration degradiert. Insofern erfüllen die „Verbrannten“ eine ganz besondere Funktion zum Erhalt des Systems, aus dessen Teufelskreis scheinbar kein Entkommen möglich ist. Das wichtigste Glied in der Kette ist dasjenige, das seinen Wert durch die eigene Austauschbarkeit erhält, durch die Logik der Massenware.

Eigentlich ist Die Verbrannten trotz der thrillerhaften Motive der Jagd und Rache, des latenten Spannungsaufbaus und eines furiosen Finales kein Krimi, sondern ein Bericht einer Gesellschaft, die bis ins letzte Glied korrumpiert ist und in der Vertrauen zu schenken immer ein Fehler ist.
Für Migrant*innen in Mexiko ist ein Entkommen aus der Hölle so gut wie unmöglich. Zwar beschreibt Ortuño Mexiko als „ein Land voller Opfer mit Tigerzähnen und -krallen“ – die Umkehrung von Opfer- und Täterrollen mag somit vereinzelt zu einer makabren Rehumanisierung der Opfer führen. Ihr Widerstand, wie auch der Irmas und des Journalisten, spielen jedoch innerhalb „der sieben Kreise der mexikanischen Hölle“ keine Rolle. Der Fleischwolf Mexiko mahlt immer weiter, seine Einzelteile sind genau so austauschbar wie die Menschen, die er verschlingt.

DER SILBENREITER

Ende der neunziger Jahre sagte Gonzalo Rojas, damals schon über 80-jährig, sein Leben lang habe er nichts Anderes getan, als die Welt in Silben auszusprechen. Klangliche, rhythmische Physis ist es denn auch, was sein umfangreiches Werk kennzeichnet, während er von der Erotik bis zur Gesellschaftskritik eine Bandbreite an Themen zum Gegenstand seiner Dichtung machte. Nun ist es in erster Linie seinem Übersetzer und Freund, dem Bremer Romanisten Reiner Kornberger, zu verdanken, dass einhundert Jahre nach der Geburt des Dichters in Lebu im Süden Chiles und nach dem Band Das Haus aus Luft (Bremen, 2005) eine zweite zweisprachige Gesamtschau mit dem Titel Atemübung. Gedichte aus sieben Jahrzehnten erschienen ist.

Ein Drittel der Gedichte wurde, laut Vorbemerkung, aus Das Haus aus Luft übernommen, dagegen handele es sich bei den übrigen um bisher unveröffentlichte Übertragungen. In diesen ist in der Tat eine erstaunliche Treue zum Dichter zu erkennen, nicht nur im rhythmischen Fluss und den Zeilensprüngen, sondern auch, weil sich Kornberger an entscheidenden Stellen dichterische Freiheiten erlaubt und dennoch mit dem „Hohl des Meeres / Hohl des Himmels“ zu einer nahezu wörtlichen Übersetzung zurückkehrt. Die zweisprachige Ausgabe ist für Lyriklesende ein Geschenk, da für des Spanischen annähernd Kundige die Originalstimme des Dichters volltönend erfahrbar ist und zugleich das zuvor in seiner Bedeutung vielleicht nur vage Erahnte in der deutschen Version eines Kenners Präzision erlangt. Unterteilt ist das Buch in sieben Abschnitte, die nach emblematischen Gedichten betitelt sind und an sich schon neugierig machen. So finden sich gleich am Anfang bei „Rudernd im Rhythmus“ Gedichte, die der silben-malerischen Poetik von Gonzalo Rojas besonders entsprechen, während zum Beispiel unter „Der Hubschrauber“ seine politischen Gedichte zusammengefasst sind. Erhellendes bieten die sorgfältigen und dabei überschaubaren Anmerkungen im Anhang des Bandes, leichtfüßigen Genuss dagegen die Illustrationen des lebenslangen engen Freundes Rojas’, Roberto Matta, dessen durchscheinende Figuren-Miniaturen über die Seiten trippeln, hier dreiköpfig ein geflügeltes Lachen aufsetzen, dort den fragenden Zeigefinger heben.

Obwohl Gonzalo Rojas zu den herausragendsten und am meisten mit Preisen geehrten chilenischen Dichter*innen zählt, ist er in Deutschland kaum bekannt. Dabei verbrachte er nach Pinochets Militärputsch zwei Jahre im Exil in Rostock und kehrte auch danach immer wieder nach Deutschland zurück. Selbstverständlich fehlt auch in Atemübung nicht sein Gedicht „Domicilio en el Báltico – Ostsee-Domizil“, das ihm Kritik nicht zuletzt von Seiten seiner eigenen Landsleute einbrachte, weil er seinen Frust äußerte, als politischer Emigrant aus Chile von der DDR zwar in allen Ehren empfangen und mit einem Universitätslehrstuhl versehen worden zu sein, aber ohne Lehrerlaubnis, da er ungenehme Namen wie Borges und Octavio Paz auf seine Seminarliste setzte. Rojas entfloh der Enge und setzte sein Exil in Venezuela fort. Solcherlei Lebensdaten finden sich zum einen am Ende des Gedichtbands, zum anderen aber in der wunderbar plastischen Einführung zu Leben und Poetik des Dichters, verfasst von seiner französischen Biographin Fabienne Bradu. Ein rundherum schönes Buch, das sich immer wieder an beliebiger Stelle leselustvoll aufschlagen lässt.

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