// DOSSIER: INTERNATIONALE SOLIDARITÄT MIT LATEINAMERIKA

Vor zweieinhalb Jahren feierten die Lateinamerika Nachrichten ihr 40-jähriges Bestehen. Anlässlich dieses runden Geburtstages befassten wir uns mit den andauernden Folgen des Putsches in Chile, der 1973 die Welt schockierte und die gerade gegründeten Chile-Nachrichten zu einer wichtigen Quelle für unabhängige Informationen machte.

Nun erscheint die Nummer 500 der LN. Zu diesem Jubiläum widmen wir uns dem zweiten großen Gründungsthema unserer Zeitschrift, der internationalen Solidarität.

Mit dem vorliegenden Dossier wollen wir Geschichte und Aktualität der Solibewegungen zu Lateinamerika thematisieren. Wir schauen nach Chile, Nicaragua und El Salvador in den historischen Hochzeiten der internationalen Lateinamerika-Solidarität, als soziale Prozesse in Lateinamerika im Fokus der (Welt-)Öffentlichkeit standen. Warum und wie sich dies zu heute verändert hat, in welche Richtung sich die Koordinaten der hiesigen Linken verschieben und ob sich ihre Solidarität letztendlich an der Staatsfrage entzweit, wird in weiteren Beiträgen thematisiert.

(Download des gesamten Dossiers)

Nach der gewaltsamen Machtübernahme durch Augusto Pinochet wurde die Solidarität mit der unterdrückten chilenischen Bevölkerung auch hierzulande immer größer. Die Auflage der Chile-Nachrichten stieg von 200 auf 6.000, im Spätsommer 1973 demonstrierten bundesweit fast 150.000 Menschen gegen die Militärdiktatur. Da die Berichterstattung in den folgenden Jahren zunehmend auf die Nachbarländer Chiles ausgeweitet wurde, in denen es zu ähnlichen politischen Entwicklungen gekommen war, erschien die Zeitschrift ab der Nummer 51 im September 1977 unter dem heutigen Namen Lateinamerika Nachrichten.

Zwar war die Solibewegung mit Chile am größten, doch gab es auch politische Prozesse in anderen Regionen mit denen sich große Gruppen der hiesigen Bevölkerung solidarisierten: Zum Beispiel mit den Sandinist*innen in Nicaragua oder der FMLN-Guerilla in El Salvador. Kurz andauernde breite Kampagnen, wie etwa der Protest gegen die Militärdiktatur in Argentinien zur Fußball-Weltmeisterschaft 1978, bekamen große Öffentlichkeit und Unterstützung.

Die Solidaritätsbewegungen der 1970er und 80er Jahre reichten bis in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft – von Kommunist*innen über Gewerkschaften und Kirchen bis hin zu Teilen der bürgerlichen Parteien. Entsprechend breit war auch die Art der Solidaritätsbekundungen, die von politischen Nachtgebeten und gewerkschaftlichen Kampagnen wie „Ein Stundenlohn für Chile“ über Kunstaktionen bis hin zu Spendenkampagnen wie „Waffen für El Salvador“ reichte.

Nach der Abwahl der Sandinist*innen in Nicaragua 1990 und dem Friedensschluss in El Salvador 1992 wurde es um die Solidarität mit Lateinamerika deutlich ruhiger. Der Zapatismus im mexikanischen Chiapas sorgte 1994 noch einmal für eine Erneuerung internationalistischer Perspektiven, doch insgesamt scheinen die großen Zeiten der Solidarität der Vergangenheit anzugehören. Heute ist es kaum mehr vorstellbar, dass hierzulande für emanzipatorische soziale und politische Prozesse in Lateinamerika auch nur Tausende Menschen auf die Straße gehen.

Ähnliche Ereignisse wie in den 1980er Jahren – ein fortschrittliches gesellschaftliches Projekt und ein anschließender Putsch oder Putschversuch wie in Venezuela, Honduras oder Paraguay – führen heute nicht mehr dazu, dass ähnlich starke solidarische Bewegungen entstehen. Es waren und sind jedoch bewegende und oft kontroverse Themen, denen sich die Lateinamerika Nachrichten bis heute widmen: Die Unterstützung von Menschen in Lateinamerika in ihrem Widerstand gegen die Militärregierungen, die Solidarisierung mit lateinamerikanischen Befreiungskämpfen gegen den US-amerikanischen Imperialismus und die Begleitung dieser Bewegungen bei ihren Transformationsprozessen hin zu linken Regierungen. Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Solidarität durch die LN-Geschichte.

Die zahlreichen Diskussionen, die zum Thema Solidarität in der Redaktion geführt wurden und werden, spiegeln die Probleme der Bewegung wider: Ob Solidarität mit den Regierenden oder nur mit den Regierten auf dem Programm steht, wann von kritischer Solidarität nur noch Kritik bleibt oder umgekehrt nur Solidarität – dies sind Themen, die auch heute noch auf der redaktionellen Tagesordnung stehen. Um die Offenlegung dieser Diskussionen und Widersprüche geht es auch in einem dokumentierten Gespräch zwischen LN-Redakteur*innen, das sich in diesem Dossier wiederfindet.

Nicht zuletzt durch bittere Erfahrungen mit der Realpolitik ehemals revolutionärer Bewegungen, aber auch durch unvermeidliche Veränderungen aufgrund von geopolitischer Neukonstellationen, hat die internationale Solidaritätsbewegung in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren, gleichzeitig aber neue Inspiration gewonnen. Diese geben vor allem in der Süd-Süd-Solidarität Anlass, Erfahrungen, mit denen man sich solidarisiert hat, auf eigene lokale Kämpfe und Prozesse zu übertragen und so eine „erweiterte“ Form der Solidarität zu praktizieren.

Denn die Hoffnungen von damals sind nicht passé. Dafür, dass eine andere Welt möglich ist, wird auch heute noch geträumt und gekämpft, in veränderten sozialen Bewegungen, unter den neuen Bedingungen einer weithin globalisierten Welt. Zusammenhalt, Unterstützung und Solidarität sind heute mindestens genauso notwendig wie in den 1970er und 1980er Jahren und liegen angesichts des fortschreitenden Extraktivismus und der Zerstörung unseres Planeten im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen privilegierten Stellung darf dabei nicht vergessen werden. Auch nicht, wenn es darum geht, heute vor unserer eigenen Haustür Solidarität mit Menschen zu zeigen, die zu uns flüchten müssen. Und diese Solidarität gegen den wieder erstarkenden offenen Rassismus aktiv zu verteidigen.

“Es lebe die internationale Solidarität“

Die Akte DDR wurde vor acht Jahren geschlossen und seither verstaubt sie im Archiv der Geschichte. Hin und wieder wird sie nochmal aufgeschlagen, um darin zu lesen und Rechtfertigungen für ihre restlose Einäscherung zu suchen. In dieser Ausgabe soll ein relativ kleiner und ganz spezieller Ausschnitt der DDR-Geschichte aus der Versenkung geholt, entstaubt und mit dem Licht der fast ein Jahrzehnt alten Distanz beleuchtet werden. Es geht nicht um Geschichtsbewältigung oder -aufarbeitung. Auch soll es kein Ostalgietrip in eine Vergangenheit ohne Zukunft werden. Der Anspruch liegt einzig darin, Momentaufnahmen aus der DDR-Beziehungskiste aufzuzeichnen und dabei persönliche Erfahrungen ebenso wie offiziell verordnete Richtlinien einzubeziehen.
In der Tat war Lateinamerika, von Kuba und Nicaragua abgesehen, für die DDR politisch eher zweitrangig, in wirtschaftlicher Hinsicht sogar drittrangig. Beim näheren Hinsehen aber fördert das Thema sowohl spannungsgeladene Ost-West und deutsch-deutsche Konflikte als auch Konflikte innerhalb der DDR zutage und blendet Teile (gelebter) DDR-Geschichte ein. Und gerade für jene, die die 40 Jahre westlich der „großen Mauer“ verbrachten, enthalten die anschließenden Beiträge einiges Unbekanntes, aber durchaus Erfahrenswertes.
Wie kann man die jüngste Geschichte Lateinamerikas entschlüsseln, wenn man den Ost-West-Konflikt – den die DDR mitprägte – ausklammert? Wenn wir uns bezüglich lateinamerikanischer Außenbeziehungen immer nur auf die USA oder die Bundesrepublik stürzen, unterschlagen wir den wichtigen Einfluß, den ein untergegangenes System über Jahrzehnte hinweg in Lateinamerika ausübte, ein Einfluß, der noch immer nachwirkt.
Die acht Beiträge zeigen ein komplexes Gebilde ostdeutscher Beziehungen zu Lateinamerika. Bis auf die Analyse der 40jährigen Story der DDR Außenpolitik aus der Sicht von Raimund Krämer, eines ehemaligen Mitarbeiters der kubanischen Botschaft, spiegeln die Artikel eher kurze, aber prägnante Momente dieses Kapitels der DDR-Geschichte wieder.
So wirft Sabine Zimmermann einen Blick auf und hinter die Kulisse des Prestige-Entwicklungsprojekts Krankenhaus „Carlos Marx“ in Managua. Erfahrungen vor Ort, gepaart mit SED-Rhetorik, malen ein sehr differenziertes Bild von offizieller Entwicklungshilfe. Von „unten,“ aus der Perspektive inoffizieller Solidaritätsarbeit in Kirchengruppen, erzählt Willi Volks die Geschichte unabhängigen Engagements und der Schwierigkeiten in einem von Kontrolle besessenen Staat eigene Projekte, übers „Päckchenpacken“ hinaus, zu entwickeln. Christoph Links beschreibt seine ganz persönlichen Erinnerungen an die Vor- und Nachwendezeit – und wie diese sich auf sein Interesse für Lateinamerika auswirkten.
„Tania – la guerrillera“ zeichnet das Porträt der berühmten Nachkriegspartisanin, die nach Lateinamerika ging, „um den unterdrückten Völkern den Sozialismus zu bringen“ und wie Che Guevara zur Märtyrerin wurde. Daran anschließend schwenkt die Kamera vom letzten Schauplatz DDR-Politbüro nur einige Meter weiter in die Friedrichstraße. Dort überquerten zwischen 1973 und 1975 hunderte politische Flüchtlinge aus Chile die Westberliner Grenze Richtung Osten, um sich in der DDR – so gut es ging – erstmal ein neues zu Hause einzurichten. Der Artikel beleuchtet Ängste, Freude und Alltagsprobleme des Exils aus Perspektive der ChilenInnen und das Funktionieren staatlicher Solidaritätspolitik in diesem speziellen Fall.
Wer hat schon einmal von der Existenz eines Lateinamerikainstituts im Osten gehört? Nun, mittlerweile ist es mitsamt der DDR und mit der energischen Hilfe einiger Politiker eingeäschert worden. „Lichter aus!“ beschreibt Aufstieg und Fall des Lateinamerika-Instituts in Rostock. Und für Literaturfreunde, die wissen wollen, welche lateinamerikanischen Bücher die staatliche Zensur passierten und in der DDR gelesen werden durften, bringt der Beitrag von Hans Otto Dill abschließend das eine oder andere Licht ins Dunkel.

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