TRAVESTIS: EINE POLITISCHE IDENTITÄT

Wie wir uns selbst nennen: Travestis in Lateinamerika
Ich wünsche mir, dass dies dazu beiträgt, ein Gedächtnis des lateinamerikanischen Travestismo aufzubauen. Ich glaube, wir haben Geschichte zu erzählen und Geschichte zu schreiben. Und zwar eigene Erfahrungen aus der ersten Person, um sie den Diskursen entgegenzusetzen, die über uns verbreitet werden. […]

In den 90er Jahren, als wir Travestis begonnen haben, in der Öffentlichkeit laut zu werden und uns zu organisieren, haben wir entschieden, dass wir unsere kollektive Energie zuerst auf die Umdeutung des Begriffs Travesti konzentrieren mussten, der bis dahin sowohl für andere als auch für uns selbst negativ besetzt war. Er wurde und wird immer noch als Synonym für aidskrank, diebisch, skandalös, infiziert und ausge-grenzt verwendet. Wir haben uns entschieden, dem Wort Travesti neue Bedeutungen zu geben und es mit Kampf, Widerstand, Würde und Freude zu verbinden.

Uns Travestis ist es wichtig, die politischen Bedeutungen des Wortes Travesti zum Ausdruck zu bringen. Es bestimmt Subjekte – uns –, die wir in verschiedenen Momenten und Orten Gegnerinnen und Gegnern die Stirn bieten, den Fundamentalistinnen und Fundamentalisten, den Autoritären, den Ausbeuterinnen und Ausbeutern und den Verteidigerinnen und Verteidigern des Patriarchats und der Heteronormativität. […]
Wir konstruieren unsere Identität, indem wir die Bedeutung, die die dominante Kultur den Genitalien verleiht, infrage stellen. Die Gesellschaft sieht auf die Genitalien und daraus ergeben sich Erwartungen hinsichtlich der Identität, der Fähigkeiten, der sozialen Position, der Sexualität und der Moral eines jeden Menschen. Es wird davon ausgegangen, dass zu einem Körper mit einem Penis eine maskuline und zu einem Körper mit einer Vagina eine feminine Subjektivität gehört. Der Travestismo bricht mit dieser in westlichen Gesellschaften hegemonialen binären Logik, die diejenigen unterdrückt, die sich dagegen wehren, sich den Kategorien „Mann“ und „Frau“ unterzuordnen. […]

Travestis in Lateinamerika: Wie wir leben
Unser Travestismo ist ein Phänomen, das sich vom nordamerikanischen und europäischen Transgenderismus unterscheidet. […] Das Wort Transgenderismus ist in theoretischen Arbeiten der US-amerikanischen Wissenschaft entstanden. Im Gegensatz dazu stammt der Begriff Travesti in Lateinamerika zunächst aus der Medizin und wurde sich von Travestis selbst angeeignet, neu ausgearbeitet und verkörpert, um sich selbst so zu benennen. Das ist der Begriff, in dem wir uns wiedererkennen und den wir uns ausgesucht haben, um uns als Rechtssubjekte zu konstruieren.

Dieser Prozess der Aneignung des Travestismo als Ort, von dem aus wir unsere Stimmen erheben und unsere Forderungen aufstellen, bestimmt einen politischen Kampf. […] Der Travestismo als verkörperte Identität überwindet die Politik der binären Körperlichkeit und der dichotomen Logik von Sexualität-Geschlecht.

Hier in Lateinamerika hat sich der Travestismo über die politische Mobilisierung und Diskussion mit anderen subalternen Subjekten einen eigenen Raum geschaffen. […] Es ist nicht möglich, Identitätskonstruktion von Lebensbedingungen in unseren Gesellschaften zu trennen. Unsere Lebensbedingungen sind gekennzeichnet durch den Ausschluss aus dem formellen Bildungssystem und Arbeitsmarkt. Innerhalb dieser Szenarien ist Prostitution die einzige Einnahmequelle, die am weitesten verbreitete Überlebensstrategie und einer der sehr wenigen Orte, in der die Travesti-Identität als Möglichkeit, in der Welt zu existieren, anerkannt wird. […]

In Lateinamerika und Argentinien wird der Travestismo oft in jungen Jahren angenommen. In einer Gesellschaft, die Travesti-Identitäten kriminalisiert, führt diese Situation häufig zum Verlust des Zuhauses, der familiären Bindungen und dem Ausschluss aus der Schule. […]

In den Lebenswegen von vielen von uns ist die Erfahrung der Entwurzelung mit der Annahme unserer Identität verbunden. […] Auch die Erfahrung des Todes und insbesondere der Verlust von Freundinnen und Bekannten ist für lateinamerikanische Travestis im Unterschied zu privilegierten Gruppen nichts Außergewöhnliches, sondern eine alltägliche Erfahrung. Die geringe Lebenserwartung begleitet die Mehrheit von uns. Es fehlen Generationen von älteren Travestis und die jüngeren kennen keine Erwachsenen, die ihnen helfen, einen Zeitpunkt kommen zu sehen, der über die unmittelbare Gegenwart hinausgeht oder eine Dimension zu erahnen, die die Individualität übersteigt. Der massive Verlust von compañeras hat Einfluss auf eine fehlende kollektive Erzählung, eine fehlende gemeinschaftliche Erinnerung, die uns ermöglichen würde, uns in der Zukunft zu projizieren.

Über Sittenverstöße, Polizeiverordnungen, Verhaltenskodexe und den öffentlichen Raum (für einige und einige wenige)
Die Kriminalisierung der Travesti-Identität findet zudem durch die Kontrolle bestimmter Bevölkerungsgruppen statt, die der Staat durch Polizeiverordnungen, Sittenverstöße, Verhaltenskodexe durchführt. Diese verfassungswidrigen Regulierungen sind dazu da, bestimmte soziale Gruppen polizeilich zu verfolgen und ihren Zugang zum öffentlichen Raum zu begrenzen: Travestis, Sexarbeiterinnen, cartoneras und cartoneros (Papiersammler*innen), piqueteras und piqueteros (Mitglieder der Arbeitslosenbewegung) und Straßenhändlerinnen und Straßenhändler.

Auf diese Weise wird unser Aufenthalt und unsere Bewegung eingeschränkt und für Travestis ist diese Begrenzung des Öffentlichen besonders schwerwiegend, da die Straße eine der wenigen Ressourcen ist, die wir als Kollektiv haben. Wir haben weder Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu eigenem Wohnraum und die Straße ist daher ein sehr relevanter Raum in unserem Alltag.

Es ist nicht unser Wunsch, soziale Anerkennung zu erreichen, sondern die Hierarchien, die über die Identitäten und die Subjekte verfügen wollen, die wir uns als Schwarze, Nutten, Palästinenserinnen, Revolutionärinnen, Indigene, Dicke, Inhaftierte, Drogensüchtige, Exhibistionistinnen, Piqueteras, Villeras (Slumbewohnerinnen), Lesben, Frauen und Transen bekennen, niederzureißen. Auch wenn wir keine Möglichkeit haben, ein Kind zu gebären, haben wir trotzdem den Mut und die Wut, die notwendig sind, um eine andere Geschichte hervorzubringen.


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MENSCHLICHKEIT IM TIEFEN SINNE

Wir haben eine Rede von Lohana Berkins zum Travestismo als politische Identität abgedruckt. Können Sie nochmal sagen, was für Sie den argentinischen Travestismo ausmacht?
Unser Begriff Travesti unterscheidet sich von anderen Transgenderbewegungen im Bewusstsein und in der Komplexität, mit der wir uns selbst sehen. Wir sehen uns nicht aus einer Genderperspektive, ohne uns vorher aus der Klassenperspektive betrachtet zu haben. Die Trans- und Travesti-Community in Argentinien ist stark durch strukturelle und symbolische Armut geprägt. Wir beziehen uns in unserem Transgenderismus auf Subjektivität mit klarem eigenen Gehalt. Wir sind eine radikal andere Option der Identität. Wir wollen gar nicht in die Kategorien von Mann und Frau passen. Das ist eine Halluzination der Heterosexualität, dass wir euch imitieren wollen. Wir wollen weder Mann noch Frau sein, da beide ein gescheitertes Dasein haben.
Wir sehen Mann und Frau als systemisches Paar: Es ist nicht allein das Patriarchat und die Männer, es sind Männer und Frauen, die an dieser Gesellschaft, wie wir sie heute haben, schuld sind. Um diese Gesellschaft so derart scheitern zu lassen, haben sich Männer der Unterdrückung bedient. Aber Frauen sind mitverantwortlich, sie sind notwendig in diesem systemischen Paar. Sie tragen immer noch dazu bei, dass das Ganze erhalten bleibt. Bedauerlicherweise müssen sie anfangen, darüber nachzudenken.

Wird das nicht in der Frauenbewegung getan?
Der Feminismus ist eine notwendige Kritik, aber eine Kritik, die nicht die Veränderungen schafft, die die Welt braucht. Und das, was der Feminismus macht, um das Bestehende zu erhalten, macht er besonders gut. Jeden Tag erhält er das Patriarchat, den Kapitalismus und den Machismus, der heute weltweit die Gesellschaft ausmacht.
Die Wahlmöglichkeit der Frauenbewegung bleibt die der Frau, zu entscheiden, dass sie eine Frau sein will. Wir kommen nicht umhin, zuzugeben, dass der Ort der Frau vom Patriarchat und vom Mann konstruiert wurde. Der Mann definiert und er erlaubt, ob dieser Ort sich verändern kann oder nicht. Er erlaubt oder erlaubt nicht, dass heute für ,Ni una menos’ protestiert wird, er erlaubt heute, dass unsere Schwarze Bevölkerung nicht mehr verschleppt und versklavt wird und ob sich Bedingungen ändern.
Dass aber heute in meinem Land immer noch Menschen umgebracht werden, geschieht aufgrund eines systemischen Paars aus dominierendem Mann und funktionaler Frau. Und sogar die Frauen, der Feminismus und die Bewegungen, die aus der weiblichen Subjektivität heraus etwas schaffen wollen, sind immer noch zwingend notwendige Komplizinnen dieses systemischen Paars. Und solange, wie sie sich nicht aus dieser Illusion der obligatorischen Heterosexualität befreien, tun sie so, als ob sie keine Verantwortung dafür tragen würden, funktional für und mitschuldig an einem System zu sein, das tötet.

Können Sie genauer erklären, inwiefern die obligatorische Heterosexualität gescheitert ist und Tod produziert?
Das ist so offensichtlich, dass ich nicht weiß, was ich euch daran noch erklären soll. Ich könnte euch von religiösen Bewegungen erzählen, ganz beispielhaft von der katholischen Kirche mit ihrer Geschichte der Hexenverbrennungen und der Inquisition, Verbrechen, für die sie sich nie entschuldigt hat. Der Mittlere Osten ist ein permanenter Kriegsherd, der Imperialismus produziert immer weitere Tote. Und es regiert der Heterosexismus, um Kinder zu bekommen, ohne dass es irgendjemanden interessiert, ob diese Kinder auf dem Müll landen. Wir sehen nur zerstörte Kindheiten. Wir sehen die Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung – Benetton kommt und kauft ein Stück Land und lässt Hunderte Mapuche umbringen; Wichis werden vertrieben, weil neues Soja angebaut werden muss, die Menschen werden mit Glyphosat vergiftet. Die heterosexuelle Welt definiert sich also über das Scheitern und den Tod. Die Diktaturen in Lateinamerika, die 30 000 Verschwundenen in Argentinien, die weiteren in der heutigen Demokratie – all diese Toten! Die Frauenmorde in Mexiko, die Kinder in der Produktion, bei den Paramilitärs der Drogenkartelle…
Die Heterosexualität ordnet die Welt auf diese Art und Weise. Wir verstehen nicht, dass wir euch, die Heterosexualität, Patriarchat und Kapitalismus aufrechterhalten, immer noch erklären müssen, dass ihr versagt habt und sehenden Auges Tod produziert.

Was sind unsere Möglichkeiten, die kulturell besetzten Machtbeziehungen zwischen Mann und Frau und die damit verknüpften konstruierten Identitäten zu ändern?
Der Mann ist heute Herr des Hauses und ihm gehört die Hegemonie. Egal ob das daher kommt, weil er Kapitalist, Patriarch oder Imperialist ist. Und er sagt: ‚Du bist Frau, du bist Travesti, du bist eine Schwuchtel, du bist homosexuell, du bist indigen, du bist, du bist, du bist.’ Und er definiert uns. Er definiert sich nicht selbst. Wir, der Rest der entwerteten Subjekte, definieren diesen Mann. Die überwältigende Mehrheit akzeptiert ihre sekundäre Rolle. Wenn wir Travestis davon sprechen, trans zu sein, geht es um eine politische Position, da wir dieses systemische Paar verlassen.
Auch heterosexuelle Männer und Frauen, schwule Männer und lesbische Frauen können trans sein, hinsichtlich einer neuen Kondition, die eindeutig politisch ist. Das bedeutet, sich nicht in diesem Binom und nicht in diesen alleinigen Kategorien von Mann und Frau zu denken – die außerdem von jeglicher Seite völlig widerlegt sind, auch von der Natur. Weil wir alle aus der Natur kommen, wir sind Intersexuelle, wir sind Lesben, Schwule, Heterosexuelle oder was auch immer. Außerdem handelt es sich um Konstrukte, in denen wir sehr viel mehr aufgrund der Unterdrückung, als aufgrund der Natur festgefahren sind. Der Gebrauch des Wortes Natur wird für Unruhe sorgen, da die Rechte es benutzt, um zu definieren, was natürlich ist. Oder es wird gesagt, dass Gott befiehlt, Mann oder Frau zu sein. Das ist eine völlige Lüge. Der natürliche Charakter des Menschen ist es, sich selbst und die Welt um ihn herum zu verändern, zu transformieren. Wir sind natürlicherweise kulturelle Wesen.

Was ist der politische Ansatz des Travestismo?
Unser Travestismo ist ein politischer Diskurs, wir berufen uns ganz klar auf die Menschenrechte. Wir sind Subjekte ohne jegliche Verhandlungsmacht. Aus dieser ,Unmacht‘ heraus verhandeln wir. Warum müssen wir immer noch fordern, das wir nicht gesteinigt, nicht umgebracht, nicht verhaftet, nicht verfolgt werden? Wenn das doch etwas Wesentliches des Menschlichen ist? Warum müssen wir darüber diskutieren, dass ich aufgrund meiner Geschlechter-identität nicht diskriminiert werden darf, dass mir keine Rechte verwehrt werden dürfen?
Aufgrund dieser schlimmen Erfahrungen tut es uns weh, dass der Feminismus so lange braucht, um klarzukriegen, ob Travestis nun Feministinnen sein können oder nicht, ob sie bei den Frauentreffen dabei sein können oder nicht. Es tut uns weh, dass viele emanzipatorische Bewegungen nicht den Anstand haben, die Türen nicht vor uns zu verschließen. Die Travesti-Bewegung in Argentinien bringt das Konzept ,Trans’ als politische Möglichkeit vor, wo alle hineinpassen, die aus dem obligatorischen Heterosexismus entflohen sind. Für mich ist ,Trans‘ ganz klar die Möglichkeit einer politischen Identität. Wie andere sagen würden rechts, links, demokratisch, republikanisch oder wie auch immer. All diese Politik ist alt und abgelaufen und hat ihr Scheitern in der Realität gezeigt.

Ihr sucht nach einer „anderen Art Weiblichkeit“. Wie soll die aussehen?
Wir gehen in einem radikalen Sinn in Richtung Weiblichkeit. Aber eine Weiblichkeit, die sich mächtig anfühlt und die sich nicht gemäß dem vorherrschenden Paradigma konstruieren muss. Nicht diese frauliche Weiblichkeit, hübsch sein zu müssen. Oder hässlich, dick, tätowiert zu sein, um intelligent sein zu können. Wir sind, wie wir sind. Jede will sein, wie sie sein will und in diesem Sein-Wollen, gebe ich dem Männlichen keinen Deut Macht. Ich bin mit Penis geboren und mit dem Bewusstsein erzogen worden, dass mein Phallus meine Macht bedeutet. Die Situation der Unmacht entsteht nicht dadurch, mich der Identifikation mit dem Maskulinen verweigert zu haben. Ich streite nicht ab, dass es Gewalt gibt, aber ich akzeptiere es nicht, abgewertet zu werden. Es gibt immer noch Frauen, die das zulassen.
Wir ertragen die Gewalt, aber trotzdem sind wir uns unseres Wertes absolut bewusst. Deswegen werden wir nicht unsere Träume und unsere Wünsche zurückstellen. Wir verhandeln nichts. Wir sind in der Welt und wir gehen nach vorne. Die männliche und weibliche Welt will uns auf die Straße setzen, uns umbringen, uns angreifen, uns Entwicklungsmöglichkeiten nehmen – ok. Das ist euer Ding. Ich bin das, was ich in dieser völlig gescheiterten und gewalttätigen Welt sein kann, die von Männern und Frauen in ihrem dichotomen heterosexistischen Paradigma geschaffen wurde. Diese Welt hat nichts mit Menschlichkeit im tieferen Sinne zu tun.
Diese andere Weiblichkeit, die wir suchen, wäre eine wirklich starke Weiblichkeit. Mit der Kraft des absoluten Wissens, das sein zu können, was wir sein wollen, ohne das Männliche zu imitieren. Das wäre, eine menschliche Margaret Thatcher zu sein, eine menschliche Condoleeza Rice, Merkel und CFK (Cristina Fernández de Kirchner) – welche politische Person auch immer. Und dabei absolut kohärent mit dem, was wir sind.

Was ist euer Gegenentwurf für hegemoniale Identitäten und Beziehungen?
So etwas wie das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Erst als die Kinder in ihrer Unbedarftheit sagen, dass der Kaiser nichts anhat, merken plötzlich alle, dass sie von den Schneidern belogen worden sind. Sehr intelligent übrigens. Unser Gegenentwurf will die Gewalt sichtbar machen, die in dieser Welt Schritt für Schritt produziert wird.
Es wird überall gemordet, aktiv, indem mit Kriegsmaschinerie losgezogen wird, oder passiv, indem in Rindfleisch für wenige investiert wird, statt in Nahrungsmittel für alle. Wir erlauben, dass Kinder verhungern, dass es Sextourismus gibt und Vertreter der UNO und Militärs verschiedener Länder unsere Kinder prostituieren, wir erlauben Gewalt in Häusern, Schulen, Medien. Wir erlauben, dass die Gewalt sich in jedem Augenblick produziert und reproduziert. Wir ignorieren, dass es unser Ziel in der Welt ist, uns, Subjekte und Gesellschaften mit Vertrauen zu reproduzieren. Diese sollten frei von Gewalt, Armut und Demütigung sein. Das ist das, was das heterosexuelle, kapitalistische und patriarchale System produziert, mit dem wir alle so beschäftigt sind.

Was sind deine Vorstellungen von einer utopischen Gesellschaft?
Ich würde mir so wünschen, dass die Kinder, die in diese Welt kommen, in eine Welt kommen, in der alle Unterschiede in einer Umarmung aufgenommen werden können. Die Differenz zu radikalisieren und in dieser Differenz zu verstehen, dass die juristische, soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit radikal und intrinsisch notwendig ist. Da können wir eine Utopie erschaffen, in der wir eine Politik der Menschlichkeit im tieferen Sinne schaffen. Wo niemand seinen Körper, seine sexuellen Praktiken oder seine Formen, Beziehungen zu führen, ins Spiel bringen muss. In der wir uns einfach auf wirklich demokratische Weise neu erfinden.


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TWERKING GEGEN DEN MACHISMUS

Die Erzählung von Bixa Travesty (75min) unterteilt sich in drei Ebenen. Da ist zunächst die Bühne, auf der die brasilianische Popfigur und schwarze Trans*frau Linn Da Quebrada zusammen mit Jup Do Bairro (auch Trans* und seine Partnerin in Crime) mächtige, politische und rhythmische Funk-Lieder singt. Die Performances sind voller Farben und Energie, so dass die Message tief ins Bewusstsein der Zuhörer*innen dringt. Die Lieder greifen brasilianische Machos und die rassistische Gesellschaft an, sind voller Wut, die sich aus der Unterdrückung armer schwarze Transsexueller speist. In dieser Wut gibt es aber eine echte Klarheit, die zu hören wichtig ist.

Die zweite Ebene: Linn Da Quebrada und Jup sprechen über verschiedene Anliegen in ihrem Radioprogramm. Unter anderem werden die Themen Hochzeit, Liebe, Politik, Machismus oder Körper mit unvergleichlichem Humor und Charisma von beiden Künstlerinnen behandelt. Das Radioprogramm wäre sehr empfehlenswert für religiöse Fundamentalist*innen, weil beide Frauen sich darum kümmern, kontroverse Fragen über Transsexualissmus ganz einfach zu beantworten.

Die dritte Ebene ist vielleicht die wichtigste von allen und auch der Grund, der diese 75minütige Dokumentation zur einem der “Must-See-Filme” der 68. Berlinale machte. Die Kamera verlässt die Bühne und die Radiosendung und betritt Da Quebradas privates Leben. Die erste Szene spielt in der Küche. Während das Essen gekocht wird, spricht Linn mit ihrer Mutter über die Romantisierung von Armut, ihre eigene Familiengeschichte in den Favelas von Sao Paulo und wie wichtig es ist, sich selbst und den eigenen Körper zu lieben. Ab diesem Punkt wird man tiefer in Da Quebradas Leben getaucht, um sie kennenzulernen: zum Beispiel wie sie gegen den Krebs gekämpft und überlebt hat und welche politischen und körperlichen Reflektionen sie dadurch erfahren hat. Linn da Quebrada hat eine besondere Einstellung, die sie alle diese Themen immer mit einem positiven Blick betrachten und über sie lachen lässt. Sie hat ein grosses Charisma. Die Zuschauer*innen müssen unwillkürlich zusammen mit ihr lachen und sich vielleicht – warum nicht? – ein bisschen in sie verlieben.

Musik und Rhythmus spielen in diesen Film eine besondere Rolle, dafür haben die Brasilianer*innen einfach ein gewisses Talent. Man kann sich auf großartige Bilder, Humor und viel Queer Twerking freuen.

Der Film der Regisseur*innen Claudia Priscilla und Kiko Goifman lief auf der Berlinale in der Sektion Panorama und gewann den queeren Filmpreis Teddy Award für die beste Dokumentation.


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EIN FANTASTISCHER FILM

Foto: Berlinale

Sebastián Lelio hat ein Händchen für herausragende Hauptdarstellerinnen. 2013 gewann Paulina García in seinem Film Gloria für ihre Rolle als lebenslustige, kiffende Endfünfzigerin den Silbernen Bären für die beste Darstellung. Vier Jahre später kam Lelio – mittlerweile Wahlberliner – nun mit Una mujer fantástica (Eine fantastische Frau) zurück auf das Festival und ein gewisser Déjá-Vu-Effekt war unverkennbar: Auch diesmal brillierte mit Daniela Vega wieder eine herausragende Hauptdarstellerin in seinem Film. Und auch diesmal hat Lelio die Berlinale wieder mit Trophäen behängt verlassen. Una mujer fantástica gewann den Teddy Award für den besten queeren Film und wurde für das beste Drehbuch aller Filme im Wettbewerb ausgezeichnet. Beides völlig zu Recht, denn der Film erfüllt thematisch, dramaturgisch und künstlerisch höchste Ansprüche.

Daniela Vega spielt Marina Vidal, eine talentierte junge Salsa- und Opernsängerin in Santiago zu Beginn ihrer Karriere. Marina heißt laut ihrem Pass zwar noch Daniel, tatsächlich nennt sie aber außer der Polizei schon lange niemand mehr so. Seit einem Jahr ist sie glücklich mit dem deutlich älteren Orlando (Francisco Reyes) liiert. Eines Nachts fühlt der sich plötzlich unwohl und obwohl Marina alles in ihrer Macht stehende tut, stirbt Orlando kurze Zeit später im Krankenhaus. Doch zum Trauern bleibt Marina keine Zeit, denn ihre ganze Energie wird nun von der Familie des Verstorbenen beansprucht, die alles daran setzt, ihr die Dinge wegzunehmen, die sie an ihren Geliebten erinnern: Wohnung, Auto, Hund. Marina setzt dem zunächst wenig Widerstände entgegen, um Probleme zu vermeiden.

Aufgrund ihrer Identität als Transfrau und vermeintliche Familienzerstörerin sieht sie sich der kompletten Klaviatur der Diskriminierung ausgesetzt: Von schiefen Blicken über offene Beleidigungen bis hin zu entwürdigender Behandlung, Entführung und physischer Gewalt auf offener Straße ist alles dabei. Marina bleibt letzten Endes nur ein Ausweg: Sie muss mit all ihrer Kraft kämpfen, wenn sie erreichen will, was vielen anderen selbstverständlich zugestanden würde. Lelios Film nur auf die – speziell in Lateinamerika natürlich hochrelevante – Gender-Thematik zu reduzieren, würde der Vielschichtigkeit des Films nicht gerecht. Una mujer fantástica ist auch ein Film über das Trauern, das Loslassen von einem geliebten Menschen und die Notwendigkeit, gleichzeitig sein Leben weiterzuleben. Immer wieder steht der tote Orlando Marina noch vor Augen und immer wieder legt ihr dessen Familie Steine in den Weg, um zu verhindern, dass sie von ihm Abschied nehmen kann. Aus einem Gottesdienst für den Toten wird sie mit den Worten „Haben Sie denn keinen Respekt vor der Trauer anderer?“ abrupt hinausgeworfen – ungeachtet der Tatsache, dass es ihr Geliebter war, der gerade verstorben ist. Dennoch setzt Marina weiterhin alles daran, sich das „Menschenrecht, um einen Menschen trauern zu dürfen“, wie sie es im Film selbst ausdrückt, nicht nehmen zu lassen.

Dem Film tut gut, dass Marina nicht überall gegen Widerstände ankämpfen muss. Von etablierten Machtstrukturen wie Polizei, Kirche oder auch den Ärzten im Krankenhaus wird sie zwar mehrfach diskriminiert. Bei ihrer Familie und ihren Arbeitskolleg*innen findet sie dagegen vollen Rückhalt und Akzeptanz, was – neben der beeindruckenden Darstellung von Daniela Vega – Lelio dabei hilft, seine Figur nicht nur als klischeehaftes Opfer zu zeigen. Wunderschön sind außerdem die Momente, in denen die Geschichte sich von der filmischen Realität entfernt und Marina plötzlich auf der Straße nicht mehr vorankommt, weil sie gegen einen Sturm ankämpfen muss oder in einem Techno-Club zur Anführerin einer Revuetanzgruppe wird. Schließlich schafft es der Film auch noch, ein vernünftiges Ende zu finden – eine Qualität, die auf der diesjährigen Berlinale keine Selbstverständlichkeit war. Una mujer fantástica war ein Highlight des Festivals und einer der ernsthaftesten Bewerber um den goldenen Bären für den besten Film. Aber auch wenn den Preis letzten Endes ein anderer gewonnen hat, ändert das nichts daran: Una mujer fantástica  ist einfach „una película fantástica“ – ein fantastischer Film.

 


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TRANSIT HAVANNA

Unfertig sein. Jemand zu viel, jemand anderes zu wenig sein. Drei Menschen berichten von ihrem Kampf um einen Körper, der ihnen Glück ermöglichen soll.
Sehr offen sprechen Malú, Odette Giselle und Juani von sich, von der Sehnsucht nach einer Wandlung, die endlich endgültig ist. In dem mitreißenden und empathischen Dokumentarfilm Transit Havanna wird uns Einblick gewährt in ihr Bemühen um Verständnis in der Familie und um Anerkennung und Unterstützung in der kubanischen Gesellschaft. Die Protagonist*innen müssen lange auf den Tag warten, der die ungewünschten oder ersehnten körperlichen Merkmale mittels einer Operation verschwinden, oder hinzukommen lässt. Denn die beiden Ärzte aus den Niederlanden und Belgien kommen nur einmal im Jahr, um die Umwandlung vorzunehmen.
Malú weiß genau, wer sie ist und dass sie es noch nicht ist – worin allerdings nicht der Widerspruch besteht. Der liegt darin, dass die Ärzte entscheiden, wann sie an die Reihe kommt und nicht sie selbst. In ihrer Kindheit hat es mit dem Vater aufgrund ihrer Veranlagung viele Konflikte gegeben. Mit elf Jahren zog sie von zu Hause aus. Seither habe sie sich zu einem anerkannten Mitglied des Dorfes und der Gesellschaft entwickelt, wie ihr ein Freund versichert.
Odette Giselle führt ihren Kampf mit ihrer Familie bis heute. Ihre Zweifel an ihrer sexuellen Identität führten sie zum Glauben und in die katholische Kirche. Lässt die Kirche ihre Mitglieder darüber bestimmen, wer sie sein möchten? Als Odette noch Osmani genannt wurde, war er in der kubanischen Armee einer der besten Panzerfahrer, wie sie selbstbewusst mitteilt. Bestens ausgebildet für die Verteidigung des Platzes der Revolution in Havanna. Sie fragt, wie wohl die Reaktion ihrer ehemaligen Kamerad*innen wäre, wenn diese sie jetzt sehen könnten. Sie zeigt sogar Verständnis für das Unverständnis ihrer Mitmenschen und vergleicht es mit einem fehlenden Besen: Fehlt die Information zu dem Thema, fehlt auch das Interesse und das Begreifen – so, wie ohne den Besen nicht gefegt werden kann.
Juani geht seinen Weg bereits seit den 1970er Jahren. Als erster, wie er sagt, führte er den Kampf in Kuba. Unterstützung fand er wie auch andere Trans* in der engagierten Mariela Castro, Direktorin des nationalen Zentrums für sexuelle Aufklärung und Tochter des amtierenden Präsidenten Raúl Castro. Auf karibisch offene Art erzählt Juani, es gehe im letzten Schritt darum, seinem „Pancho“ Leben einzuhauchen. Alles andere hat er in den vielen Jahren an sich schon komplettiert. Jetzt fehle nur noch die richtige Frau.
Manche Frage bleibt offen. Zum Beispiel die nach dem System der Auswahl zur Operation betreffender Trans* – welches auch die Protagonist*innen nicht genau zu kennen scheinen. So fühlt man sich ganz als Tourist*in, welche*r nach Ende der Reise mit Eindrücken und dem Interesse an den Menschen zurückkehrt, die man in diesem bildschönen Film „getroffen“ hat. Ein gehaltvoller wie nachklingender Kinofilm!


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