„DAS WAR KEIN UNFALL“

Am 7. März gegen Abend waren 50 Mädchen und Jungen aufgrund der miserablen Zustände aus dem Kinderheim in die nahe gelegenen Wälder geflohen. Die nationale Zivilpolizei (PNC) bringt sie auf direkte Anweisung des guatemaltekischen Präsidenten zurück und überwacht die Jugendlichen nach dem Fluchtversuch. Am frühen Morgen werden 52 Mädchen in einen Klassenraum gesperrt und weiterhin von der PNC überwacht, diese Maßnahme kann juristisch als institutionelle Entführung gewertet werden. Als die Mädchen trotz Bitten auf die Toilette gehen zu dürfen, nicht heraus gelassen werden, beginnen Tumulte, bei denen einige Mädchen Matratzen im Klassenzimmer angezündet haben sollen. Das Feuer breitet sich schnell aus und noch immer wird den Mädchen die Befreiung aus dem Klassenzimmer verwehrt. Viele verbrennen vor den Augen der PNC. Diese soll die Kontrolle über das Einschließen der Mädchen gehabt haben, diese werden nicht heraus und die bald eintreffende Feuerwehr erst nach 40 Minuten herein gelassen. 19 Mädchen sterben in dem Feuer, die Zahl der in den Krankenhäusern Verstorbenen steigt innerhalb von drei Tagen auf 40 an.

Das 2006 zum Schutz der Kinder gegründete Heim ist eine staatliche Institution.

Das Kinderheim, welches im Jahre 2006 als Refugium zum Schutz von Minderjährigen gegründet wird, ist eine staatlich geführte Institution. Es beherbergt Kinder und Jugendliche von Null bis 18 Jahren, betroffen von Kindesmisshandlung, „leichten Behinderungen“, sexueller, psychischer und physischer Gewalt, Opfer von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und ohne familiäre Zufluchtsmöglichkeit.

Die räumlichen Kapazitäten der Herberge liegen bei 400-500 Kindern und Jugendlichen, zum Zeitpunkt des Brandes waren 807 Kinder und Jugendliche dort untergebracht. Einige Kinder wurden als Resultat sexuellen Missbrauchs – seitens der Lehrer*innen und Autoritäten der zuständigen Aufsichtsbehörde – innerhalb des Heims geboren. Bei der zuständigen staatlichen Wohlfahrtsbehörde (SBS) gingen immer wieder Anzeigen unter anderem wegen Prostitution, sexuellen Missbrauchs, körperlichen, psychischen, verbalen Miss­handlungen und fehlender medizinischer Versorgung innerhalb des Kinderheims ein. Zudem sollen Autoritäten der Behörde selbst an sexuellem Missbrauch beteiligt gewesen sein. Die Aufsichtsbehörde hat die Weiterreichung der Anzeigen an die Staatsanwaltschaft in vielen Fällen verhindert und Namen sowie Details den zuständigen Behörden vorenthalten. Zwischen Januar und August 2014 waren 28 Anzeigen dokumentiert worden, es kam zu einzelnen juristischen Prozessen. Darunter war auch die Anzeige gegen den Maurer José Arias, der 2013 ein 17-jähriges Mädchen mit „kognitiven Defiziten“ in einem Klassenraum vergewaltigte und sich nun für acht Jahre in Haft befindet; oder gegen den Lehrer Edgar Rolando Dieguez Ispache, welcher mehrfach Kinder innerhalb seines Unterrichts demütigte und einzelne zu Oralverkehr zwang. Der Gerichtsprozess gegen ihn läuft seit 2016. Die meisten Anzeigen bleiben jedoch in der Investigationsphase stecken oder werden der Staats­anwaltschaft gar nicht erst übermittelt. Der nationale Adoptionsrat überprüfte das Heim trotz der Anzeigen nicht.

Dem Heim wird Kinderhandel vorgeworfen.

Am 11. März kommt es zu den ersten Massenprotesten in der Hauptstadt Guatemalas und vor den guatemaltekischen Botschaften verschiedener Länder. Auch hier findet der Verdacht auf ein Staatsverbrechen Ausdruck und die Aktivist*innen beginnen, über ein Netzwerk von Menschenhandel zu sprechen.
Die lokale Organisation „Kinder“ der Verschwundenen des Genozids („Hijos“) fordert in einem öffentlichen Schreiben Interventionen seitens nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen, unter anderem durch die Internationale Kommision gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) zur Tatortermittlung sowie die präventive Festnahme der Verantwortlichen unter dem Verdacht des Femizids.

Schon im November 2016 informierte die Ombudsstelle für Menschenrechte über möglichen Menschenhandel durch das Kinderheim. Eine anonyme Richterin erzählt in einem Interview mit dem Journalisten Francisco Goldman, dass 62 Kinder aus dem Heim verschwunden seien und dass sie glaube, diese seien noch vor dem Brand ermordet worden. Weiterhin berichtet sie über die Zwangsprostitution innerhalb des Kinderheims, auch wenn noch unklar sei, wer genau dahinter stecke.Der Journalist Camilo Villatoro bezeichnet die Tragödie des Kinderheims als „geplante Massenvernichtung um Zeuginnen und Betroffene eines möglichen kriminellen Netzwerks von Kinderhandel und Sexsklaverei zu eliminieren.“

Wegen der Vorfälle im Kinderheim sollen nun erneut die Untersuchungen bezüglich Kinderhandel aufgenommen werden. Aufgrund des Verschwindens vieler Mädchen existiere der Verdacht, dies sei zu Zwecken der Prostitution geschehen, sagt der Anwalt und Aktivist Alejandro Axpuac.

Der guatemaltekische Präsident Jimmy Morales sowie der Sekretär des Büros für Gemeinwohl, Carlos Rodas, weisen alle Verantwortung und den Vorwurf eines Staatsverbrechens öffentlich zurück. Zwei Tage später, am 12. März, verstrickt sich Morales jedoch in seiner Argumentation während eines Interviews mit CNN. Er bejaht die Unfähigkeit der guatemaltekischen Instanzen und bestätigt den Vorwurf, die PNC habe auf seine Anordnung hin die Mädchen festgehalten. So bezeugt Morales, dass der Staat mit repressiven Mitteln agierte und die Sicherheit der Jugendlichen nicht priorisiert wurde.

Am 13. März werden drei leitetende Angestellte der SBS präventiv festgenommen. Die Anordnung kam von der Richterin Claudia Blandón Alegría unter dem Vorwurf von Mord, Nichterfüllung ihrer Aufgaben und Misshandlung von Minderjährigen.

Die Proteste in Guatemala halten an, einige Aktivist*innen fordern den Rücktritt des Präsidenten Morales. Es bleibt die Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft.

 

STRAFE TROTZ MACRI

Buenos Aires, 20. September 2016. Das Gerichtsgebäude mit seiner bürokratischen Nüchternheit nimmt einen ganzen Häuserblock ein. Gleich hinter ihm beginnt das Hafenviertel. Vom Stadtzentrum ist es durch mehrspurige, vom Schwerlastverkehr beherrschte Avenidas abgeschnitten. Wer das Gebäude betritt, gelangt in ein zentrales Hauptportal, das von hohen Eisengittern umgeben ist. Ob man zu den Kläger*innen oder den Angeklagten gehört, will das Personal wissen, dann erst gibt es die Zutrittserlaubnis. Der Verhandlungssaal liegt im Keller. Er ist fensterlos und in ein schummriges künstliches Licht getaucht. Der allgemeine Publikumsbereich, der durch eine Glaswand vom Innenbereich getrennt ist, ist an diesem Tag prall gefüllt. Unter den vielen Köpfen stechen zwei hervor, bedeckt mit den weißen Tüchern der Madres de la Plaza de Mayo. Darüber befindet sich die Galerie. Dort sitzen – außerhalb des Sichtbereichs aller anderen – die Angehörigen und Sympathisant*innen der Angeklagten.

Fotos: Christian Dürr

Dann betreten die Richter den Saal und ein mehrminütiges Blitzlichtgewitter beginnt. Von den Angeklagten dürfen keine Fotos gemacht werden, was zu einem ablehnenden Raunen im Publikum führt. Die neun älteren Herren, die Minuten später den Saal betreten, sind halb formell, halb leger gekleidet. Das Haar ist bereits schütter. Ihre Namen sind: Gerardo Jorge Arráez, Juan Carlos Mario Chacra, Eduardo Ángel Cruz, Alfredo Omar Feito, Raimundo Oscar Izzi, Carlos Alberto Lorenzatti, Héctor Horacio Marc, Juan Miguel Méndez und Ricardo Valdivia. Im Dienste der staatlichen Repressionsorgane waren sie Schergen der argentinischen Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 rund 30.000 Personen gewaltsam „verschwinden“ ließ. Konkret wird ihnen zur Last gelegt, an Entführungen, Folterungen und Morden in drei geheimen Internierungszentren im Großraum Buenos Aires mit den Namen „Club Atlético“, „Banco“ und „Olimpo“ – kurz: „ABO“ – beteiligt gewesen zu sein.

Die Verlesung der Anklageschrift dauert mehr als zwei Stunden. 352 Einzelfälle müssen in den kommenden Monaten verhandelt werden. In allen lautet die Anklage auf illegale Freiheitsberaubung und Folter, in einigen wenigen auch auf Mord. Die Militärs wollten möglichst keine konkreten Spuren ihrer Verbrechen hinterlassen, auch nicht in Form der Körper der Ermordeten. Eine der Methoden sich ihrer zu entledigen war, die Gefangenen noch lebend aus Flugzeugen über dem Rio de la Plata abzuwerfen. Doch der Fluss hatte oft seinen eigenen Willen und spülte die Toten wieder zurück ans Ufer. Die Behördenermittlungen führten im Fall solcher Leichenfunde nie zu einem Ergebnis, waren die Behörden selbst doch für das Verbrechen mitverantwortlich. Die Körper wurden als NN –„Identität unbekannt“– in den nächstgelegenen Friedhöfen bestattet. So vergingen Jahre und Jahrzehnte. Erst mittels der modernen forensischen Methoden der Argentinischen Arbeitsgruppe für forensische Antropologie (EAAF), einer Vereinigung von Gerichtsmediziner*innen im Dienste der Menschenrechte, konnten in den letzten zwei Jahrzehnten eine beträchtliche Zahl unbekannter Opfer identifiziert und ihre Angehörigen verständigt werden. Auch im Fall des Olimpo leistete die EAAF entscheidende Aufklärungsarbeit. Im Jahr 2007 wurden zehn als NN begrabene Leichen als die sterblichen Überreste einer Gruppe von Gefangenen identifiziert, die am 6. Dezember 1978 auf einen „Todesflug“ geschickt worden war. Heute kann daher in diesen Fällen wegen Mordes angeklagt werden.

Der erste Verhandlungstag wird für beendet erklärt. Die Angeklagten im Saal erheben sich von ihren Stühlen und strecken ihre Beine durch. Die Zuseher*innen hinter der Glasscheibe machen dasselbe. Dann beginnen einige von ihnen zu singen und spontan stimmen alle anderen mit in den Chor ein: „Cómo a los nazis les va a pasar: a donde vayan los iremos a buscar“ („Wie den Nazis wird es ihnen ergehen: Wo immer sie sich auch verkriechen, wir werden sie uns holen“). Die Angeklagten tun so, als würden sie davon keine Notiz nehmen.

Im Publikum befindet sich auch Isabel Fernández Blanco. Isabel war Gefangene in den Folterlagern Banco und Olimpo. Es wird zumindest noch ein Jahr dauern, bis sie als eine der letzten Zeug*innen im Prozess aussagen wird. Bis dahin wird sie sich mental intensiv darauf vorbereiten. Wenn Überlebende im Gerichtssaal ihren Folterern gegenübersitzen, öffnet sich die Vergangenheit in ihnen oft wie ein Strudel, der sie zurück in die Opferrolle kippen lässt. Isabel dagegen will, so wie in den Prozessen davor, Fassung bewahren und so viele Informationen wie möglich liefern, die zur Verurteilung führen. Sie hat viele Erinnerungen, etwa an ihren ersten Folterer im Internierungszentrum Banco, Julio Héctor Simón, alias „Turco Julián“: „Eines Tages holte er mich aus meiner Zelle und brachte mich in ein kleines Zimmer. Dort brachte er mich mit seinen Schlägen halb um. Aber irgendwann kommt der Moment, an dem du aufhörst, Schmerzen zu empfinden. Er konnte mich weiter schlagen, aber mein Körper war von den vielen Schlägen wie betäubt. Ich konnte nicht mehr vom Boden aufstehen, und da begann ich zu heulen. Ich erinnere mich noch, was er mir sagte: ‚Was für ein Glück du hast, dass du heulen kannst.‘ Dann half er mir auf die Beine, setzte mich in einen Stuhl und bot mir eine Zigarette an.“

„Turco Julián“, war einer der berüchtigtsten Folternden im Komplex ABO. Dennoch konnte er nach dem Ende der Diktatur jahrelang frei herumlaufen. In den 1990er-Jahren absolvierte er Auftritte in Fernsehshows, in denen er sich öffentlich seiner Taten brüstete. Die Schergen der Diktatur waren lange Zeit vor jeglicher rechtlicher Verfolgung sicher – und das obwohl die erste Phase der Aufarbeitung mit der Einsetzung einer „Nationalen Kommission über das Verschwindenlassen von Personen“ (COANDEP) im Jahr 1983 und dem Prozess gegen die Mitglieder der Militärjuntas im Jahr 1985 vielversprechend begann. Unter dem demokratischen Präsidenten Alfonsín wurden 1986 und 1987 zwei Gesetze verabschiedet, die die weitere Strafverfolgung praktisch zum Erliegen brachten: das erste setzte für das Einbringen von Anzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen ein zeitliches Ultimatum; das andere machte Gehorsamspflicht gegenüber Vorgesetzten geltend und gewährte damit den tatsächlichen Folterern, die oft niedrigeren militärischen Rängen entstammten, praktisch Straffreiheit. Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem erließ Amnestiegesetze, mit welchen die bis dahin Verurteilten wieder auf freien Fuß gelangten. Doch im Jahr 2003, zwei Jahre nach dem argentinischen Volksaufstand, wurden diese Gesetze vom Kongress für ungültig erklärt. Dies öffnete den Weg für neue Verfahren, und es war just Julio Héctor Simón alias „Turco Julián“, der als erster verurteilt wurde: im Jahr 2006 zu 25 Jahren Haft, im Jahr 2010 wegen weiterer Delikte schließlich zu lebenslang.

“Hier lebt ein Massenmörder”: Escrache gegen Alfredo Omar Feito

 Der Soziologe Daniel Feierstein analysierte für ein 2015 erschienenes Buch sämtliche seit 2006 geführten Diktatur-Prozesse. Bis Jahresende 2013 ergingen demnach 110 Urteile zu mehr als 3.000 individuellen Fällen. Von etwa 600 Angeklagten wurden mehr als 550 verurteilt – eine Bilanz die weltweit ihresgleichen sucht, wenn es um die juristische Verfolgung staatlicher Verbrechen geht. Die Prozesse waren unter den Regierungen von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015) als staatspolitische Priorität vorangetrieben worden. Mit dem Regierungswechsel und dem Amtsantritt des konservativen Staatspräsidenten Mauricio Macri Ende 2015 hegten viele die Befürchtung, dass die Verfahren zum Stillstand kommen würden. Doch zeigt sich, dass diese mittlerweile eine soziale Dynamik erreicht haben, die auch die gegenläufigen politischen Interessen der neuen Regierung nicht mehr zu stoppen vermögen. Unter dem Präsidenten Macri wurden Budgets und Personal gekürzt, weswegen sich die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen verzögern und die dringend notwendige psychologische Betreuung der Zeug*innen immer dürftiger wird. Doch auch wenn die Umstände, unter denen sie stattfinden, prekärer werden, die Prozesse selbst gehen weiter. Die von Feierstein erhobenen Zahlen werden in Zukunft weiter nach oben korrigiert werden müssen.

Seit Macris Amtsantritt häufen sich außerdem Fälle, in denen Militärs Hausarrest gewährt wird. Anstatt wie jede*r gewöhnliche Verbrecher*in die Haft in einem öffentlichen Gefängnis abzusitzen, können sie es sich zu Hause, umgeben von Familie und Dienstpersonal, gemütlich machen. Dieses Privileg wurde auch einem Angeklagten des aktuellen Verfahrens um den Komplex ABO zuteil: Alfredo Omar Feito, in einem früheren Prozess bereits rechtskräftig zu 28 Jahren Haft verurteilt. Die Organisation H.I.J.O.S., gegründet von Nachkommen von während der Militärdiktatur „verschwundenen“ Personen, hat daher zu einem sogenannten Escrache gegen Feito aufgerufen. Der Escrache ist eine während der Epoche der Straffreiheit in den Neunzigern entstandene Form des sozialen Protests, der in einer Mischung aus Volksfest und politischer Demonstration nach wie vor in Freiheit lebende Täter*innen öffentlich outet und die gesellschaftliche Sanktion durchsetzt, wo die staatliche Sanktion versagt. Treffpunkt ist das ehemalige Folterlager Olimpo, vormals Feitos „Dienststelle“. Die physischen Überreste des Olimpo sind heute ein Ort der Erinnerung, aber auch des Community Building im Zeichen der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart. In dem angeschlossenen Seminarzentrum finden etwa Workshops statt, die sich mit der ökonomischen und politischen Geschichte und Gegenwart Argentiniens befassen. Am 14. Dezember spätnachmittags dominieren Plakate mit den Gesichtern der „Verschwundenen“ das Gelände.

Die Verlesung der Anklageschrift dauerte mehr als zwei Stunden.

Dazu wehen die Fahnen von politischen Organisationen und Menschenrechtsgruppen. Eine Murga – die für die Region des Rio de La Plata typische Form der karnevalesken Musik- und Tanzensembles – lässt ihre Trommeln und Trompeten ertönen. Der Demonstrationszug bewegt sich vorbei an neugierigen bis gleichgültigen Anrainer*innen durch ein Mittelschichtsviertel am südwestlichen Rand von Buenos Aires. Julián Athos ist Fotograf und Mitglied von H.I.J.O.S. Er hält diesen historischen Moment mit seiner Kamera fest. Der letzte Escrache, an den er sich erinnern kann, fand im Jahr 2006 gegen niemand geringeren als den Ex-General Jorge Rafael Videla statt. Durch die Wiederaufnahme der Prozesse wurde diese Form des Protests in den folgenden Jahren obsolet. Doch nun sei die Zeit reif, sie wieder aufleben zu lassen. Nach etwa einer Stunde erreicht der Zug eine größere Straßenkreuzung und kommt zu einem Halt. Ordner versuchen Struktur in das Chaos zu bringen. Die Menge singt im Rhythmus der Murga das unvermeidliche „Como a los nazis les va a pasar…“. Eine Gruppe junger Leute malt quer über die Fahrbahn mit gelber Farbe und in breiten Lettern die Worte: „Acá vive un genocida“ („Hier wohnt ein Völkermörder“). Der dazugehörige Pfeil zeigt auf ein unscheinbares, graues, zweistöckiges Haus. Es sieht aus, als sei es lange verlassen. Sämtliche Rollläden sind heruntergelassen, und nicht ein Lichtschimmer ist zu sehen. Hier wohnt Alfredo Omar Feito. Doch heute hat er es vorgezogen, sich an einen anderen Ort zu begeben. Zum Abschluss der Veranstaltung gibt es Reden. Sie erinnern an Feitos Rolle während der Diktatur. Sie betonen die Bedeutung der Gerichtsprozesse. Sie kritisieren die aktuelle Regierung für ihren Unwillen, diese konsequent weiterzuführen. Und sie prangern die sich zuletzt mehrenden Vorfälle von Polizeigewalt und Einschüchterungsversuchen gegenüber Regierungs­gegner*innen an.

Neue Prozesse werden folgen, wenn im Prozess ABO ein Urteil gefällt worden sein wird. Etwa gegen die ökonomischen Profiteure der Diktatur: Leute wie den Unternehmer Carlos Pedro Blaquier, der seine eigene Belegschaft verfolgen und auf seinem Firmengelände ein Folterzentrum errichten ließ. Die Justiz unter Macri sträubt sich, dieses Kapitel der gerichtlichen Aufarbeitung anzugehen. Doch die Gesellschaft verlangt danach. Und so lange dem nicht entsprochen wird, wird es in Zukunft noch den einen oder anderen Escrache mehr geben.

Newsletter abonnieren