„DIE PROGRESSIVEN KRÄFTE HINTER EINEM PROJEKT VERSAMMELN”

Indigene Kämpfe verbinden Mural im Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez in Mexiko-Stadt (Foto: Claudia Fix)

Nach mehreren Korruptionsskandalen gab es diesen Sommer große Proteste in Guatemala. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Die Proteste wurden durch das korrupte Vorgehen des Staates ausgelöst, der sich nur um das Wohl der mächtigen Gesellschaftsgruppen sorgt, die die Wirtschaft und Politik in diesem Land bestimmen. Die Regierung nahm nur noch Kredite auf, um die Wirtschaftsinteressen und Bedürfnisse der Regierenden und ihrer Unternehmen zu bedienen. Ein anderer Grund ist das schlechte Krisenmanagement in der Pandemie. Es gibt noch einen unaufgeklärten Fall um die Investitionen, die in Impfstoffe für das Land geflossen sind. Die Demonstrationen sind Ausdruck des Widerstands der kämpfenden Bevölkerung und der Ablehnung eines Staates, der historisch bedingt die indigenen Gemeinschaften ausschließt. Die Ausgrenzung, Ausbeutung und Unterwerfung dieser Bevölkerungsgruppen sind etwas, das seit der Kolonisation stattfindet.

In den letzten Jahren wurden in Guatemala korrupte Strukturen abgebaut, aber im Moment wird versucht, die Institution, die für die Verfolgung von Korruption zuständig ist (die Sonderstaatsanwaltschaft gegen die Straflosigkeit, Anm. d. Red.), zu demontieren. Als die Entlassung von Juan Francisco Sandoval, dem leitenden Staatsanwalt dieser Institution, bekannt wurde, begannen sich die Demonstrationen in den verschiedenen Sektoren zu verstärken.

Könnten Sie uns etwas mehr von Ihrer Organisation, dem Rat der Maya-Bevölkerung (CPO), erzählen, und welche Rolle dieser im plurinationalen Streik vom 29. Juli 2021 gespielt hat?
Der CPO ist ungefähr 2005 entstanden, im Zusammenhang mit den Kämpfen zur Verteidigung unserer Gebiete und der Entwicklung der Konsultationen auf Ebene der Gemeinschaften. Bis jetzt wurden im gesamten Land etwa 80 Konsultationen durchgeführt, um die Rechte der indigenen Gemeinschaften auf ihr Land einzufordern. Das ist nötig, weil die transnationalen Unternehmen – sei es Bergbau, Wasserkraft oder monokulturelle Landwirtschaft – ohne Einverständnis in die Gebiete der indigenen Gemeinschaften vordringen. Wir verstehen uns als politische Bewegung, mit der wir die Maya-Bevölkerung vertreten und die Konstruktion einer neuen Staatsform für Guatemala vorantreiben. Der CPO hat die Leute auch dazu aufgefordert, den unterschiedlichen Demonstrationsaufrufen der indigenen Gemeinschaften und den sozialen Bewegungen zu folgen. Der 29. Juli war ein besonders starker Ausdruck dafür. Die Demonstrationen zeugen vom Widerstand und vom Kampf der indigenen Gemeinschaften, aber auch von der Ablehnung dieses rassistischen Staates.

Bei unserer Strategie geht es jedoch nicht nur um Proteste, sondern um ein politisches Projekt für einen tiefgreifenden Wandel. Wir versuchen dabei immer, so nah wie möglich an den Gemeinschaftsorganisationen zu sein und ihnen eine Stimme zu verleihen. Wir machen auch Fortschritte bei der politischen Bildung, damit der Vorschlag zur Veränderung des Landes in den Gemeinschaften ankommt. Wir versuchen, eine Kraft nicht nur auf der Straße, sondern auch aus den Gemeinschaften heraus zu entwickeln.

Wir setzen uns für einen Pakt der Einheit unter den verschiedenen Bewegungen und Sektoren ein, um ein gemeinsames Projekt voranzutreiben. Das ist sehr schwierig, weil die Bewegungen noch in der Phase des Widerstands verharren, ohne die nächste Stufe zu erreichen. Aber es ist notwendig, ein neues Staatsmodell für Guatemala aufzubauen und glücklicherweise haben schon einige Bewegungen den Vorschlag eines plurinationalen Staates für sich angenommen. Das ist etwas Neues, sich nicht einfach nur zu beschweren, sondern Vorschläge zu machen.

Wie sieht die aktuelle Situation der Maya-Bevölkerung in Guatemala aus?
Seit der Staatsgründung 1524 und der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1821 haben die indigenen Gemeinschaften nicht an der Gestaltung des Staates teilgenommen, wir sind nicht in den Regierungsstrukturen repräsentiert und können nicht über unsere Gegenwart oder Zukunft bestimmen. Wenn man sich das Parlament anschaut, so gibt es dort zwar einige Indigene, aber sie vertreten die Interessen der politischen Parteien, die von der Oligarchie gesteuert werden.

Wenn wir von Rassismus sprechen, sehen wir vier Formen der Enteignung. Während der Kolonisation wurde die Bevölkerung ihres Landes beraubt. Später, in der Phase liberaler Regierungen, als der Staat das gemeinsame Land unserer indigenen Gemeinschaften aufteilte und an Großgrundbesitzer und Unternehmer verteilte, wurden wir versklavt und zur Arbeit in den Kaffee- oder Baumwollplantagen gezwungen. Während des bewaffneten Konflikts fand die dritte Enteignung statt, als alle indigenen Gemeinschaften als Kommunisten und guerilleros gebrandmarkt wurden und man sie vertrieben und umgebracht hat. Ganze Gemeinden wurden ausgelöscht oder mussten Zuflucht in Mexiko oder an anderen Orten suchen. Als sie zurückkehrten, war ihr Land von hohen Funktionsträgern der Regierung oder dem Militär in Besitz genommen worden. Heute haben sich z.B. in Cobán, Petén oder Izabal schrittweise ehemalige Funktionäre der Regierung, des Militärs oder sogar des Drogenhandels diese Orte angeeignet. Die vierte Enteignung ist die derzeitige Durchsetzung des extraktivistischen Modells in unseren Gebieten. Es wird Bergbau betrieben, Erdöl gefördert oder es werden Wasserkraftwerke an den Flüssen im Gebiet der Gemeinschaften gebaut und später verkaufen sie uns den Strom zu überhöhten Preisen. Diese Projekte werden ohne die Zustimmung der indigenen Gemeinschaften umgesetzt. Dies stellt eine Verletzung ihrer kollektiven Rechte dar, zu denen unter anderem das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Konsultation gehören. Es hat aber auch andere Auswirkungen, wie zum Beispiel das Fehlen von Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnraum oder Infrastruktur. Dies zeigt, dass wir in einem Land leben, in dem die indigenen Gemeinschaften nicht über ihr eigenes Leben bestimmen können.

Der CPO strebt einen plurinationalen Staat an. Was bedeutet dieses Konzept für Guatemala?
Seit der Gründung des CPO nehmen wir uns die Schaffung eines neuen inklusiven Staates vor, denn wir sind vier Bevölkerungsgruppen in Guatemala: Maya, Xinca, Garífuna und Mestizo. Es ist also nicht nur ein indigenes Projekt oder ausschließlich für uns Maya. Wir schöpfen aus den Erfahrungen unserer eigenen Gemeinschaften, so gibt es zum Beispiel die Maya K’iche’ und Kaqchikel, die ihr Land gemeinschaftlich verwalten. Dies zeigt, dass es durchaus möglich ist, in Richtung einer plurinationalen Kultur weiterzukommen. Auch in anderen Ländern Lateinamerikas wie Bolivien oder Ecuador gibt es dazu Beispiele, sogar in Europa existieren Vorläufer dieses Modells. Wir bauen hier in Guatemala darauf auf, indem wir vier Veränderungen in Betracht ziehen, die berücksichtigt werden müssen. Wir nennen sie die vier Pakte, die notwendig sind, um auf dem Weg zu einem plurinationalen Staat voranzukommen.

Der erste Pakt ist ein politischer. In der neuen plurinationalen Verfassung wollen wir unsere kommunitäre Demokratie festschreiben, die in der Vergangenheit ignoriert wurde. Heute werden die Entscheidungen in den Regierungsstrukturen getroffen und in die Gemeindschaften getragen. Wir wollen diesen Prozess umkehren, denn unsere Gemeindschaften werden durch Gemeinschaftsversammlungen, Konsultationen und Konsensentscheidungen organisiert.

Wir möchten die Wahlgesetzgebung verbessern, damit im Parlament die vier Bevölkerungsgruppen proportional vertreten sind. Wir schlagen zwei Arten für die Wahl der Abgeordneten vor: einerseits über das offizielle politische System und andererseits aus der eigenen Dynamik der indigenen Gemeinschaften und ihrer Versammlungen heraus, das heißt, dass die indigenen Gemeinschaften ihre Abgeordneten frei und selbstbestimmt wählen können.

Der zweite Pakt ist wirtschaftlicher Natur. Das Hauptziel der Wirtschaft muss das buen vivir der indigenen Gemeinschaften sein, in Mam nennen wir es Tb’anel Chwinqel und in K’iche’ Utz K’aslemal. Alle Gruppen, mit denen wir hier zusammenleben, verfolgen diesen gemeinsamen Horizont des buen vivir im Sinne eines erfüllten Lebens im Einklang mit der Natur und dem Universum.

Im Moment jedoch wird eine vom Markt regulierte Wirtschaftsordnung durchgesetzt. Wir aber wollen, dass sie durch die Gemeinschaft bestimmt und reguliert wird. Das bedeutet, dass die Gesetze im Land geändert werden müssen, damit Transparenz bei der Verwaltung der Einnahmen des Landes herrscht und nicht alles in den Taschen der Unternehmen und Korrupten landet, so wie es jetzt ist. Wir wollen auch, dass natürliche und soziale Gemeingüter wie Energie, Wälder und Flüsse in öffentlichen Besitz übergehen, dem Nutzen der Mehrheit dienen und nicht privatisiert und von transnationalen Unternehmen kontrolliert werden.

Der dritte Pakt ist die Kultur. Wir müssen eine plurinationale Kultur anstoßen. Die Bildung, die wir im Moment haben, ist darauf ausgerichtet, das System zu erhalten. Zentral für unseren Ansatz ist aber die Dekolonisierung des Denkens, um eine Kultur des Miteinanders, der Harmonie, der Produktivität und politischen Partizipation von Männern und Frauen anzustoßen.

Der letzte Pakt betrifft die Gerechtigkeit. Die Justiz muss die Systeme der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zur Rechtsprechung und Autoritätsausübung gleichberechtigt anerkennen. Wir wollen, dass diese juristische Pluralität anerkannt wird. Die indigene Justiz ist versöhnlich, sie verfolgt, kriminalisiert, tötet oder bestraft die Betroffenen nicht. Sie ist vor Allem nicht nur eine Justiz zur Konfliktlösung, sondern eine soziale Rechtsprechung, die Bildung, Gesundheit, den Lebensraum und alles, was mit dem buen vivir der indigenen Gemeinschaften zu tun hat, berücksichtigt.

Das sind die vier Elemente, auf denen ein plurinationaler Staat aufgebaut ist. Um sie zu erreichen, wollen wir nicht die bestehende ausgrenzende Verfassung flicken, sondern schlagen eine plurinationale verfassungsgebende Versammlung vor. Dafür brauchen wir Stimmen im Parlament und das heißt, wir müssen die indigenen Gemeinschaften als politische Kraft in den Kongress bringen und diese müssen sich sehr klar über unser Projekt sein. Von dort aus kann die Gesetzgebung zu den Wahlen und den politischen Parteien verändert werden, um den Weg für die plurinationale verfassungsgebende Versammlung zu ebnen.

Guatemala hat einen hohen Anteil indigener Bevölkerung. Diese scheint aber noch weit davon entfernt, eine ähnliche politische Kraft zu sein wie in Bolivien oder Ecuador. Was fehlt?
Es gibt eine bedauernswerte Situation, die das Resultat von vielen Jahren ideologischer Unterwerfung der indigenen Gemeinschaften ist. Die Regierung benutzt eine Vielzahl von Strategien, um über Gesetze, Institutionen und Akteure wie Armee, Polizei, Medien oder den Parteien einen Belagerungs- oder Ausnahmezustand aufrecht zu erhalten. Damit dämpfen sie die Forderungen der indigenen Gemeinschaften und haben die Gesellschaft zersplittert.

Es gibt keine Einheit, keine gefestigte Stimme, weder der Organisationen selbst, noch der Autoritätspersonen der Gemeindschaften und Studierenden-, Frauen-, Jugend-, Indigenen- und Bauernbewegungen. All diese lebendigen Kräfte im Land sind sehr zersplittert und auf politische Parteien ausgerichtet. Sie äußern sich nur bei speziellen Anlässen, wie jetzt gerade zum Thema Korruption. Darüber hinaus hat der Staat die Gemeindschaften mit seinen Akteuren infiltriert, die deren Führungspersonen durch kleine Geschenke oder Projekte gefügig machen. Eine historische Strategie ist es auch, die Führungspersonen zu kriminalisieren, sie zu verfolgen und durch spezielle Gesetze zum Schweigen zu bringen. Es gibt ein Gesetz, das den freien Zusammenschluss von Gemeinschaften und sozialen Organisationen verbietet. Und dann gibt es Strukturen wie die Stiftung gegen den Terrorismus, die indigene Gemeinschaften als Terroristen und Kriminelle abstempelt, wenn sie ihre Rechte einfordern oder auf die Straße gehen, um zu demonstrieren.

Hinzu kommt, dass die Linke in Guatemala sehr arm ist, insofern als ihr Ansatz ein rein politisches Projekt war und sich nicht auf das Wohl des Landes bezog. Die große Herausforderung hier ist, die progressiven Kräfte und die der indigenen Gemeinschaften zu organisieren und gemeinsam hinter einem transformativen Projekt zu versammeln. Das bedeutet auch, die traditionellen rechten Parteien nicht weiter zu unterstützen, die uns alle vier Jahre aufs Neue betrügen. Es gibt ein großes Potential innerhalb der indigenen Gemeinschaften, aber wir haben keine Stimme. Deshalb möchte ich eine Botschaft, einen Aufruf an alle Bewegungen der indigenen Gemeinschaften und die sozialen Bewegungen in Guatemala senden und sie einladen, diesen Weg gemeinsam weiterzugehen. Aber vor allem einvernehmliche Kriterien für das politische Projekt des Landes zu vereinbaren und natürlich mit allen Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, denn nur so können wir endlich vorankommen.

VERPASSTE CHANCE

Es war eine historisch einzigartige Konstellation, die Lateinamerika vor gut zehn Jahren erlebte. In einem Land nach dem anderen gewannen linksgerichtete Kräfte demokratische Wahlen. Nach der Schuldenkrise der 1980er Jahre und den Jahren neoliberaler Strukturanpassung schien es möglich, dass ein ganzer Kontinent aus dem Mainstream des Primats von Finanz und Profit ausscheren könnte. Ein neuer Prozess regionaler Integration wurde eingeleitet, der ganz andere Ziele verfolgte als die von der US-Regierung gewünschte und ein Jahr zuvor von Lateinamerika abgelehnte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA. In vielen Ländern, darunter Ecuador, hatten soziale Bewegungen nicht nur Regierungen unblutig zu stürzen vermocht, sondern auch Visionen einer anderen Gesellschaft entwickelt. Seit den späten 1960er Jahren hatte soziale Emanzipation nicht einen solchen Aufwind erlebt.

In den ersten Jahren atmete Ecuador Demokartie von unten.

In dieser Konjunktur kam der Ökonom Rafael Correa in Ecuador an die Macht. Er begann seinen Wahlkampf als Außenseiter, doch gelang es ihm und seiner Bewegung Alianza País, die Forderungen der sozialen Bewegungen auf die wahlpolitische Ebene zu übersetzen. Das Land sollte am besten neu gegründet werden – eine neue Verfassung musste her. Der neue Präsident regierte in den ersten Monaten hauptsächlich mit Ausnahmedekreten, um das alte Establishment in Schach zu halten und das Parlament zu umschiffen. Dennoch atmete Ecuador in diesen ersten Jahren Demokratie von unten.

Student*innen, Indigene, die Frauenbewegung, Gewerkschaften – alle machten sich daran, ihre Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft, vom Ende des Patriarchats, von kostenloser allgemeiner höherer Bildung, von wahrhaft interkulturellen Institutionen auszuformulieren: Institutionen, die nicht nur Indigene und Schwarze und Frauen per Quote beteiligen, sondern sich auch anderen Logiken als den herrschenden westlichen, patriarchalpaternalistischen und rassistischen öffnen sollten, was Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtssprechung, von Gesundheit, ja vom Funktionieren des Staates selbst anbelangte. Das war die Vision eines entkolonialisierten, plurinationalen Staats, in dem die Ureinwohner*innen nicht nur am Funktionieren eines vorgegebenen, liberalen Räderwerks beteiligt werden sollten. Ihre eigene Erfahrung von Gemeinschaft, von Entscheidungsfindung und Konfliktlösung sollte dieses Räderwerk vielmehr selbst von Grund auf umbauen.

Zehn Jahre später ist diese Aufbruchstimmung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Nach der Annahme der Verfassung per Volksabstimmung im Jahr 2009 ersetzten die Dynamiken der Realpolitik bald die Konjunktur der Visionen. Zum einen aufgrund der Wirkungsmacht der staatlichen Institutionen selbst. Die Correa-Regierung hat sie nach neoliberalen Managementkriterien modernisiert und auf Effizienz getrimmt. Wobei ihr interkultureller und emanzipatorischer Umbau, der nur als behutsamer, experimenteller Prozess möglich gewesen wäre, zwangsläufig auf der Strecke blieb.

Hinzu kam zum anderen die durch die außerordentlich hohen internationalen Rohstoffpreise attraktiv gewordene Vertiefung des Extraktivismus. Zwar sollte mit den Einnahmen aus dem Rohölexport die wirtschaftliche Diversifizierung und Abkehr von der strukturellen Abhängigkeit finanziert werden – doch blieb der vielbeschworene Cambio de la Matriz Productiva, also die strukturelle Veränderung der Produktionsmatrix, ein Papiertiger. Ecuador ist heute abhängiger von Rohstoffexporten denn je, und im amazonischen Nationalpark Yasuní, bis 2013 internationales Symbol für effektive Klimapolitik unter dem Motto „lasst das Öl im Boden“, entstehen die ersten von 600 geplanten Bohrlöchern. Die ecuadorianische Unternehmenslandschaft weist in vielen Bereichen einen hohen Konzentrationsgrad auf, den die Correa- Regierung nicht antastete. Während rhetorisch oft gegen die wirtschaftlichen Eliten gewettert wurde, erzielten diese unter der Bürgerrevolution historische Gewinnmargen.

Die Correa-Regierung nutzte, wie auch ‚linke‘ Regierungen andernorts, ihre hohe Legitimität, um Maßnahmen durchzusetzen, die unter einer rechten Regierung am Widerstand der organisierten Bevölkerung gescheitert wären. Ein Beispiel ist das zum 1. Januar 2017 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit der EU. Auch mit der Ausweitung des Extraktivismus – der Erschließung neuer Ölvorkommen im Amazonasbecken und der Einführung des transnationalen Megabergbaus in dem biodiversen Land – nahm die Regierung strukturelle Weichenstellungen vor, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Auswirkungen haben: Die für die Verteilung der Rente zuständige staatliche Zentralmacht wird gestärkt, die Kontrollinstanzen werden geschwächt. Dies begünstigt Korruption, und dass Ecuador hierbei keine Ausnahme darstellt, zeigen die zahlreichen Korruptionsskandale rund um das staatliche Ölunternehmen Petroecuador und die brasilianische Baufirma Odebrecht im Vorfeld der Wahlen. Diese warfen auch lange Schatten auf Jorge Glas, der für Alianza País erneut als Vizepräsident kandidiert. Dass sich diese Skandale nicht nennenswert auf die Wahlprognosen ausgewirkt haben, liegt unter anderem an der politischen Erlahmung der Bevölkerung angesichts eines Staates, der sich als einzig legitimer Akteur sozialen Wandels versteht. Aber auch an der Dominanz der Regierungssicht in der ecuadorianischen Medienlandschaft und der in den vergangenen Jahren aufgrund der Petrodollars intensivierten Konsumkultur.

Die hohe Konzentration der Unternehmen hat die Regierung nicht angetastet.

Die nach dem Neoliberalismus populäre Forderung nach der „Rückkehr des Staates“ ist in einem disziplinierenden Etatismus gemündet, der einige Steuerungsinstrumente des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts mit dem Erbe der zutiefst kolonial geprägten, autoritär-populistischen und strukturell korrupten politischen Kultur Lateinamerikas verbindet: enge Verstrickung zwischen Staat und Partei, Personenkult und faktische Aufhebung der Gewaltenteilung, Koppelung von Vergünstigungen und Sozialleistungen an politische Loyalität, und schließlich eine Polarisierungslogik, in der Kritik und Debatte auch in den eigenen Reihen von vornherein unterbunden ist. So hat sich Alianza País 2014 einen Ethikcode gegeben, der zum Beispiel der eigenen Parlamentsfraktion das Öffentlichmachen von Dissidenz unter Androhung des Mandatsverlustes verbietet.

Die Bürgerrevolution hat dem Land eine lang ersehnte politische Stabilität und eine neue Infrastruktur beschert. Während sie darauf bedacht war, im Ausland ihr revolutionäres Bild zu pflegen und beispielsweise Julian Assange politisches Asyl zu gewähren, baute sie im Inland im Zuge der Digitalisierung staatlicher Dienstleistungen auch die staatliche Überwachung der Bürger*innen aus. Vor allem aber betrachtete sie jegliche Form autonomer sozialer Organisierung als Bedrohung der eigenen Macht und bekämpft sie – mit einigem Erfolg. Die Indigenen- und Studierendenbewegung sowie die Gewerkschaften sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Andauernde Diffamierung in der Öffentlichkeit, die Gründung von regierungstreuen Parallelorganisationen, aber auch Repression und Militarisierung, wie sie das im lateinamerikanischen Kontext außerordentlich friedliche kleine Land am Äquator nicht kannte, haben schließlich gefruchtet. Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig. Im Süden des Landes, wo die indigenen Shuar-Gemeinden gegen die Konzessionierung ihrer angestammten Gebiete an eine chinesische Bergbaufirma protestieren, herrschen seit Monaten die Armee und der Ausnahmezustand.

Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig.

Als Erfolg der Correa-Regierung gilt vor allem die Reduzierung von Armut und Ungleichheit – in deren Namen der Extraktivismus stets gerechtfertigt wurde. Zwischen 2007 und 2015 war die Armut nach offiziellen Angaben um 13,4 Prozentpunkte gesunken. Aufgrund des Zusammenbruchs der Ölpreise auf dem Weltmarkt seit der zweiten Jahreshälfte 2014 ist sie jedoch seitdem wieder gestiegen – was zeigt, wie wenig nachhaltig die von der Correa-Regierung ergriffenen Maßnahmen waren. Ein offener Brief der Shuar-Indigenen macht außerdem deutlich, wie monodimensional der produktivistische Armutsbegriff der Regierung ist: „Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm. Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.“

Wer die bevorstehende Stichwahl gewinnt, tritt ein problematisches Erbe an. Er oder sie erbt ein Land, das sich auf Jahrzehnte verschuldet und obendrein überteuerte Kredite mit Zinssätzen von teils über zehn Prozent aufgenommen hat. Selbst die produktivsten, zuvor staatlichen Ölfelder wurden vor kurzem gegen schnelles Geld an transnationale Konzerne wie Schlumberger und die chinesische CERGG verscherbelt – ganz im Gegensatz zur Politik der frühen Jahre, die den Anteil der Staatseinnahmen aus der Ölförderung erweitert hatte.

Hinzu kommt, dass ein beträchtlicher Teil der an sich schon eher bescheidenen Ölreserven bereits im Voraus an China verkauft wurde und die Einnahmen hieraus längst ausgegeben sind – ebenso wie auch die erwarteten Lizenzgebühren aus dem erst beginnenden Bergbau bereits zu einem Großteil kassiert wurden und in Schulneubauten und Ähnliches geflossen sind. Da bleibt in Zukunft nicht viel finanzieller Spielraum für staatliche Politik. Vielmehr wurden die natürliche Vielfalt des Landes und die Optionen künftiger Generationen im Rahmen kurzfristigen politischen Kalküls verpfändet.

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