Leviathan – das biblische Monster aus den Tiefen des Meeres: Einen besseren Namen für die Untersuchungsoperation hätten sich die Ermittler*innen kaum ausdenken können. Am 18. Februar dieses Jahres begann die brasilianische Bundespolizei erneut, Büros und Privatwohnungen von Politiker*innen zu untersuchen. Diesmal ging es um Schmiergeldzahlungen des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht im Zusammenhang mit dem Bau des umstrittenen Projekts Belo Monte. Das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt am Xingu-Fluss mitten in Amazonien wird von Kritiker*innen als „Belo Monstro“ – „Schönes Monster“ – bezeichnet. Und tatsächlich liegt das Bauwerk im Flusslauf des Xingu wie ein gestrandetes Meeresungeheuer.
Nach Aussagen der Ermittler*innen sollen ein Prozent der etwa 8,5 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten des Baus in die Kassen von Parteien geflossen sein. Um welche Parteien es sich handelte, wurde nicht erwähnt. Vermutlich handelt es sich aber um die rechtskonservative PMDB, der der aktuelle Präsident Michel Temer angehört, und um die linke Arbeiterpartei PT, an deren Vorgängerregierung Temer als Vizepräsident ebenfalls beteiligt war.
Leviathan ist die jüngste Ermittlung, die aus der Operation Lava Jato – deutsch für „Autowaschanlage“ – erwachsen ist. Lava Jato begann vor zwei Jahren und elf Monaten und brachte schon einigen Politiker*innen massive Probleme — wie im Fall des ehemaligen Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral. Unter anderem weil er Bestechungsgelder von Odebrecht im Zusammenhang mit der Renovierung des Fußballstadiums Maracanã angenommen hat, sitzt Cabral derzeit im Gefängnis. Die öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen trugen auch zur umstrittenen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff bei, obwohl ihr bislang keine Beteiligung an den kriminellen Machenschaften nachgewiesen werden konnte. Zunächst ging es bei Lava Jato nur um die Veruntreuung von Geldern des staatlichen brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras für die Wahlkampfkassen von brasilianische Parteien. Doch je weiter die Ermittler*innen bohrten, desto mehr kam zum Vorschein. Schnell ging es auch um den Baukonzern Odebrecht und der Skandal zog internationale Kreise.
Da die Schmiergeldzahlungen unter anderem über die Schweiz und die USA liefen, klagten die beiden Länder vor einem New Yorker Gericht gegen Odebrecht. Im vergangenen Dezember stimmte das Unternehmen einer Strafe von 3,5 Milliarden Dollar zu, der höchsten Summe, die je in solch einem Fall gezahlt wurde. Odebrecht hatte vor Gericht zugegeben, in den Jahren von 2001 bis 2014 etwa 788 Millionen US-Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Lateinamerikas und Afrikas gezahlt zu haben, um an öffentliche Aufträge zu kommen. Seitdem kommen die Ermittlungen nicht mehr zur Ruhe.
In der Dominikanischen Republik wurden die Büroräume von Odebrecht durchsucht. In Venezuela fror die Justiz Ende Februar die Konten des Unternehmens ein, auch hier hatten Militärs Büroräume durchsucht. Der Präsident Panamas, Juan Carlos Varela, soll ebenfalls Bestechungsgelder der Firma entgegengenommen haben. In Kolumbien wurde der ehemalige Vizeminister für Transportwesen, Gabriel García Morales, verhaftet, weil er gegen Schmiergelder den Auftrag für den Bau einer Überlandstraße an Odebrecht vergeben haben soll.
Viele Politiker*innen versuchen, die Odebrecht-Aussagen zu nutzen, um ihren politischen Gegner*innen zu schaden. In Ecuador, wo am 21. Februar die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfand, versuchte die Opposition die Anschuldigungen gegen die Regierung zu verwenden, um dem Kandidaten von Präsident Rafael Correa zu schaden. In Venezuela, wo die Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung sich in den letzten Monaten massiv zugespitzt hatten, versucht die Regierung den Skandal für sich zu nutzen. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro hatte Mitte Februar erklärt: „Ein Gouverneur hat Geld von Odebrecht angenommen und dafür wird er ins Gefängnis gehen!“ Die Anschuldigungen gingen in Richtung des Oppositionsführers und Gouverneurs des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, der die Vorwürfe von sich wies.
Tatsächlich erstrecken sich die Vorwürfe über alle politischen Lager hinweg. Offenbar zahlte Odebrecht in die Wahlkampfkassen sowohl linker als auch rechter Politiker*innen, um danach eine Bevorzugung bei der Vergabe von Aufträgen zu erhalten. In Argentinien gibt es Hinweise, dass Odebrecht korrupte Verbindungen sowohl zu den linken Ex-Präsidenten Néstor und Cristina Kirchner als auch zum rechten Präsidenten Marcelo Macri unterhielt.
Der spektakulärste Fall des Odebrecht-Skandals ist sicher Peru. Praktisch alle Präsidenten, die das Land von 2001 bis 2016 regiert haben, sollen von Odebrecht bestochen worden sein. Gegen den Ex-Präsidenten Alejandro Toledo (2001-2006) ist ein internationaler Haftbefehl ausgesetzt, er soll 20 Millionen Dollar erhalten haben und dafür den Auftrag für den Bau der „Interozeanischen Straße Süd“ zwischen Peru und Brasilien an Odebrecht vergeben haben. Toledos derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.
Um das ganze Ausmaß des Skandals zu erfassen, wollen die Staatsanwaltschaften der betroffenen Länder bei den Ermittlungen zusammenarbeiten. Am 18. und 19. Februar trafen sich in Brasília Generalstaatsanwält*innen aus 15 Ländern, mehrheitlich aus Lateinamerika und Afrika, um sich über ihren jeweiligen Untersuchungsstand auszutauschen. Zehn Staaten unterschrieben ein Abkommen, das unter anderem internationale Ermittler*innenteams vorsieht. Es ist die größte internationale juristische Kooperation, die je zu einem Korruptionsfall in Lateinamerika stattfand.
Die Zusammenarbeit wird wohl auch nötig werden, denn das komplizierte Netz von Odebrechts Zahlungen zu entflechten, wird eine schwierige Aufgabe. Mehrere Briefkastenfirmen und Banken in Steuerparadiesen waren dabei involviert. Das Unternehmen ging so weit, eine Bank auf Antigua und Barbados aufzukaufen, um Zahlungen abzuwickeln. Die panamaischen Behörden ermitteln in diesem Zusammenhang auch gegen die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca, die schon bei der Veröffentlichung der Panama Papers eine Hauptrolle spielte.
Als Hauptplaner dieses kriminellen Netzwerks wird der Firmenchef und Gründererbe, Marcelo Odebrecht selbst, angesehen. Im vergangenen Jahr ist er in Brasilien zu 19 Jahren Haft wegen Bestechung, Geldwäsche und anderer Delikte verurteilt worden. Durch seine Kooperation mit der Justiz wird er seine Strafe vermutlich halbieren können, zudem wird wohl ein Teil in offenen Vollzug umgewandelt. Insgesamt haben 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht im Rahmen von Kronzeug*innenregelungen ausgesagt. Mehrere Medien warnen davor, die Anschuldigungen der Ex-Odebrecht Manager*innen zu ernst zu nehmen: Schließlich beschuldigten da Kriminelle andere, um ihre eigene Haut zu retten.
Bislang unterliegen die Aussagen der Ex-Manager*innen noch der Geheimhaltung, da es um laufende Ermittlungen geht. Nur tröpfchenweise kommen Gerüchte zutage. Viele Politiker*innen – insbesondere die von den Anschuldigungen betroffenen – verlangen nun, dass die Geheimhaltung aufgehoben wird: Die kleinen Nadelstiche schaden mehr, als die Explosion einer großen Bombe. Vor allem können sie wohl besser an ihrer Verteidigung arbeiten, wenn sie wissen, was ihnen vorgeworfen wird.
Die Opposition in Brasilien glaubt, dass die Regierung nun bei ihrer Verteidigung gegen ein drohendes Odebrechtbeben ein gutes Stück vorangekommen ist. Am 22. Februar wurde Alexandre de Moraes als neues Mitglied des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Michel Temer hat den ehemaligen Justizminister und Ex-Mitglied der PMDB als Nachfolger für den im Januar tödlich verunglückten obersten Richter Teori Zavasci bestimmt (siehe LN 512). Zavasci war für die Beurteilung der Aussagen der 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht zuständig. Nun glauben Regierungskritiker*innen, dass die Regierung mit Moraes einen Vertrauensmann in das Gericht gehievt hat, um der politischen Klasse die Schlinge aus dem Hals zu ziehen. Andererseits sind die Ermittlungen und Enthüllungen bereits so fortgeschritten, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass die alten Eliten so korrupt weiter regieren können wie bisher. In der Dominikanischen Republik gab es im Januar bereits Massenproteste, die ein Ende der Straflosigkeit in dem Korruptionsskandal verlangten.
Vielleicht hat der Fall des Bauriesen also positive Folgen für die Region. In einen Kommentar für die brasilianische Zeitung Estadão schrieb der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ironisch, man müsse vielleicht in ein paar Jahren ein Denkmal für Odebrecht errichten: Schließlich hätten die Aussagen der Manager*innen das in Lateinamerika so virulente System Korruption zu Fall gebracht.
Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob der Odebrecht-Skandal wirklich zu tiefgreifenden politischen Veränderungen führt. Aber der Skandal zeigt deutlich, wie die lateinamerikanischen Demokratien von finanziell potenten Privatinteressen untergraben werden.
Der peruanische Anthropologe und Amazonienexperte Alberto Chirif weist darauf hin, dass viele Bauprojekte, an denen Odebrecht und geschmierte Politiker*innen verdient haben, womöglich nur aufgrund der korrupten Machenschaften beschlossen wurden. Als Beispiel nennt er die erwähnte Interozeanische Straße-Süd in Peru. Als das Projekt 2005 beschlossen wurde, hieß es, es würde den Handel zwischen Brasilien und Peru beleben. Doch sechs Jahre nach der Eröffnung der Straße sieht die Realität anders aus: Kaum ein brasilianisches Unternehmen nutzt die relativ schmale Straße, die mehr als 5.000 Höhenmeter überwindet. Das Projekt war ein absoluter Fehlschlag. In einem Kommentar für das Nachrichtenportal SERVINDI schreibt Chirif, dass dies den politischen Entscheidungsträgern um Präsident Toledo schon vorher klar war. Sie hätten bewusst gelogen, weil sie von Odebrecht geschmiert wurden: „Das eigentliche Ziel, das mit der Straße erreicht werden sollte, war allein ihr Bau.“ Laut Chirif ging es von Anfang an nur darum, öffentliche Gelder zu privatisieren. Die beteiligten Politiker*innen machten sich zu Kompliz*innen, da ihre eigenen Wahlerfolge von den Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns abhingen.
Und auch beim Bau des „Schönen Monsters“ Belo Monte mag eine ähnliche Motivation eine Rolle gespielt haben. Gegen den Bau sind insgesamt 25 Klagen anhängig, zahlreiche Gesetze zum Schutz von indigenen Gemeinschaften und der Umwelt wurden missachtet. Doch der Bau wurde immer wieder von der Exekutive mit dem Verweis auf „nationale Interessen“ gegen die Judikative durchgesetzt. Das Ausmaß der Schmiergeldzahlungen wirft nun die Frage in den Raum, in wessen Interesse die Regierung damals agierte: in dem der Bevölkerung oder in dem der beteiligten Konzerne?