Das Land der geheimen Gräber

Noch immer keine Wahrheit, keine Gerechtigkeit Demo zum 10. Jahrestag des Verschwindenlassens von Ayotzinapa in Mexiko-Stadt (Foto: Fabiola Osorio)

Vor genau 10 Jahren begannen Mütter und Väter die Suche nach den 43 vermissten normalistas (in der staatlichen Ausbildung befindliche Lehramtsstudierende an den sogenannten Escuelas Normales Rurales, Anm. d. Übersetzung) von Ayotzinapa, die immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt sind. Während sie ihre Kinder auf Hügeln, in Schluchten und auf unbebauten Grundstücken suchten, sprach die Erde zu ihnen: Ihre Risse zeigten eine unumkehrbare Realität.

Risse. Wunden. Opfer. Schmerz. Gewalt. Die ehemalige Regierung von Andrés Manuel López Obrador von der „Bewegung Nationaler Erneu­erung“ (Movimiento Regeneración Nacional, kurz Morena) hinterlässt seiner Nachfolgerin Claudia Sheinbaum vom gleichen gemäßigten Linksblock dieses grauenhafte Erbe. Ein Mexiko, das vom Süden bis zum Norden seine Toten, Verschwundenen, ermordeten Frauen, schutzlosen Menschen, Tagelöhner*innen und Migrant*innen auf der Suche nach einer Chance beweint. Enteignung, Vergessen, Straflosigkeit und Korruption.

Konzentrieren wir uns für einen Moment auf den Fall Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero: das massenhafte gewaltsame Verschwindenlassen von 43 Lehramtsstudenten am 26. September 2014. Ein Jahrzehnt später hat Mexiko die Komplizenschaft der Streitkräfte mit kriminellen Gruppen aufgedeckt. Ayotzinapa offenbarte eine Armee, die angesichts eines Massakers historischen Ausmaßes tatenlos blieb. Es wurde deutlich, dass nichts ohne das Mitwissen des Staates geschieht.

Vom ersten Tag seiner Regierung an, dem 1. Dezember 2018, hatte sich López Obrador gegenüber den Familien der Verschwundenen verpflichtet, ihnen Wahrheit und Gerechtigkeit zu verschaffen. In der ersten Phase seiner Amtszeit war der politische Wille vorhanden: Es wurden Regierungsmechanismen wie die Kommission für Wahrheit und Zugang zur Justiz im Fall Ayotzinapa (CoVAJ) geschaffen. Der entscheidende Fortschritt war, dass die staatlichen Institutionen letztendlich zugaben, was die Familien vom ersten Tag des Verschwindens an geschrien hatten: „Es war der Staat“. Ein Schritt hin zur Wahrheit. Mehr als das, was den anderen Familien der, nach offiziellen Zahlen, über 115.000 Verschwundenen zugestanden wird, die Wahrheit und Gerechtigkeit für ihre Opfer fordern. Mehr wurde jedoch nicht erreicht.

Sechs Jahre später ist dieser nach wie vor ungeahndete Fall, der international große Aufmerksamkeit erregt hat, ein Beweis dafür, dass Mexiko seine Streitkräfte schützt. In den letzten Tagen von López Obradors Regierung wurde ein Gesetz erlassen, durch das die Nationalgarde, die als Ersatz für die korrupte Bundespolizei eingerichtet wurde, formell zur Armee gehört. AMLO hinterlässt ein Land, das seine öffentliche Sicherheit in Richtung Militarisierung institutionalisiert.

Die Regierung Obrador hat ihre Versprechen gegenüber den Familien von Verschwundenen in Mexiko systematisch gebrochen. Ayotzinapa ist nur ein Beispiel für die größte Brutalität, die wir aus der jüngeren mexikanischen Geschichte kennen. In diesem Fall hat sich die Regierung selbst über die Ergebnisse der von ihr gegründeten Kommission hinweggesetzt, indem sie die Haftbefehle, die CoVAJ gegen die am Veschwindenlassen beteiligten Militärs erlassen hatte, wieder aufhob.

Die Wahrheit zuzugeben, ohne für Gerechtigkeit zu sorgen und schon gar nicht für den von den Familien geforderten Zugang zu den Militärarchiven, die zeigen, wie die Armee seit mindestens 50 Jahren strategisch gegen die Bevölkerung vorgeht, wird so AMLOs schwerwiegendstes negatives Vermächtnis sein. Ein Erbe, das seine Nachfolgerin Sheinbaum nicht noch größer werden lassen sollte.

Im Kontext des Regierungswechsels hat Sol Salgado Ambrós, die erste Beauftragte für die Suche nach Vermissten in der Nationalen Suchkommission (CNB), mit LN gesprochen. Sie ist eine der wenigen Beamt*innen, bei denen ein ehrlicher Wille erkennbar ist, der den Tausenden von Familien ein wenig Hoffnung in die Institutionen gegeben hat.

Schwieriges Erbe für Sheinbaum

Die CNB wurde 2018 noch unter der Regierung Peña Nieto eingerichtet, nachdem 2017 das Allgemeine Gesetz über das Verschwinden von Personen und das Verschwindenlassen durch Privat­personen in Kraft getreten war. Dies war eine historische Errungenschaft für Familien, die nach Vermissten suchen. Obwohl ihr Ziel darin bestand, die Bemühungen um die Suche nach vermissten Personen zu koordinieren, insbesondere wenn die lokalen Behörden keine Ergebnisse vorweisen konnten, war sie während der sechsjährigen Amtszeit von López Obrador überfordert. Sie verfügte nie über die finanziellen und materiellen Ressourcen, um die Krise zu bewältigen.

Sol Salgado war sechs Jahre lang die erste Leiterin der Kommission für die Suche nach Personen im Bundesstaat Estado de México und vier Jahre lang Staatsanwältin für Verschwundene. Wenige Monate vor dem Ende der Regierung López Obrador trat sie zurück. Sie ist eine Frau, die von den Kollektiven der Verschwundenen, deren Zahl in diesem Jahrzehnt gewachsen ist, geschätzt wird. Salgado erzählt von den Anfängen ihrer Arbeit: „Im September 2014 wurde ich im Estado de México zur ersten Staatsanwältin für Verschwindenlassen ernannt, wenige Tage vor der schrecklichen Tragödie von Ayotzinapa.“ Sie erinnert sich daran, dass es Unklarheit darüber gab, wer wie zu suchen hatte. Die Personensuche wurde den Auto­ritäten erst von Suchenden wie Mario Vergara beigebracht. Vergara starb im Mai 2023, ohne etwas über den Verbleib seines am 5. Juli 2012 verschwundenen Bruders Tomás Vergara zu wissen. Im Jahr 2009 verortet Salgado den Beginn der höchsten Gewaltrate, wie wir sie heute in Mexiko kennen. Es ist nicht so, dass es in Mexiko vorher keine kriminellen Gruppen gegeben hätte. Es sind die Aufteilung der kriminellen Gruppen und die verschiedenen Arten des Tötens und Verschwindenlassens, die sich verändert haben. Als die Staatsanwaltschaft von Sol Salgado Ambrós gegründet wurde, geschah dies gerade „wegen dieser Welle des Verschwindenlassens, die die Kapazitäten aller Institutionen und alles Weitere übertraf, was sie nicht nur im Bereich der Ermittlungen, sondern leider auch im Bereich der Forensik geplant hatten“, so Salgado Ambrós. Die Staatsanwaltschaft des Estado de México, ein Bundesstaat mit einer hohen Mord-, aber vor allem Feminizidrate, gehörte zu den Staatsanwaltschaften mit den besten Ergebnissen bei der Auffindung von Personen. Aber um diese Bemühungen zu ermöglichen, mussten Menschen wie Salgado Ambrós die städtische Polizei umkrempeln, die mit diesen Aufgaben nicht befasst war, sowie Behörden, die nicht die korrekten Protokolle für die Suche nach lebenden Personen befolgten. All dies basierte auf den Lektionen der Angehörigen der Verschwundenen.

Bis zur Aufklärung ist es ein langer Weg

Die ehemalige Staatsanwältin erinnert sich daran, dass 2013, ein Jahr vor dem Verschwinden der 43, ein Streik von Eltern und Geschwistern Verschwundener das Innenministerium dazu zwang, sich mit dem Thema des gewaltsamen Verschwindenlassens von Menschen zu befassen.
„Viele dieser Menschen werden heute noch gesucht, aber es wurden dadurch einige staatliche Maßnahmen angestoßen. Eine davon war zum Beispiel die Schaffung von spezialisierten Staatsanwaltschaften für das Verschwindenlassen von Personen jeweils auf nationaler und Bundesstaatsebene“, so Salgado Ambrós. Erst 2015 wurde in einer Publikation der Nationalen Konferenz der Justizstaatsanwälte das erste Ermittlungs- und Fahndungsprotokoll veröffentlicht. Davor gab es nichts dergleichen.

Auch die Bundesstaaten Guerrero und Veracruz sind vom massenhaften Verschwindenlassen betroffen,. Veracruz ist außerdem der Bundesstaat mit den meisten ermordeten Journalist*innen in den vergangenen 20 Jahren. Dort wurden 2019 die Gräber von Colinas de Santa Fe entdeckt. Diesen Fund beschreibt Salgado Ambrós als einen Schlüsselmoment des Wandels ihrer Arbeit: „Als Colinas de Santa Fe, das größte geheime Grab in ganz Lateinamerika, entdeckt wurde, wurde deutlich, dass die Familien diese Reisen und Funde allein hatten machen müssen. Damals begannen wir, uns mit der Unterstützung vieler Menschenrechtsexperten einzubringen.“

Die ehemalige Staatsanwältin berichtet jedoch darüber, dass es immer noch an Mitteln fehle, um den Familien Zugang zu Gerechtigkeit zu verschaffen. Obwohl sie, unterstützt von Dutzenden von Kollektiven, die vor Ort nach ihren verschwundenen Angehörigen suchten, viele Menschen finden konnte, litt sie sehr darunter, dass ihre Vorgesetzten keine Vorschläge annahmen, um die Suche effizienter zu gestalten. Damit mehr Menschen gefunden werden könnten, selbst wenn sie tot aufgefunden werden. „Leider wurden Gelder, die für die Untersuchung von Fällen des Verschwindenlassens vorgesehen waren, zwischen allen Staatsanwaltschaften verteilt. Obwohl ich Staatsanwältin für das Verschwindenlassen war – was eine ziemlich hohe Position in der Kette der Suche nach Menschen ist – konnte ich nichts tun, und diejenigen, die jetzt an dieser Stelle sind, können nichts tun“, beklagt sie.

Das wenige, was in den letzten Jahren getan wurde, um Verschwundene zu finden, wurde von den Familien getan. Mexikos neue Präsidentin Claudia Sheinbaum wird dafür sorgen müssen, dass Ressourcen zur Verfügung stehen und alle Protokolle eingehalten werden. Suchen und finden. Es sollten nicht nur die Familien bleiben, die sich zusammen mit einigen Beamten wie Sol Salgado Ambrós auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit befinden. Die ehemalige Staatsanwältin will nach ihrer Zeit im Regierungsapparat nun auf anderer Art zur Suche nach Menschen beitragen. „Ich weiß, dass jeder Regierungswechsel ein Raum der Möglichkeiten ist. Ich denke, dass es jetzt an mir ist, zu versuchen, unsere Kolleg*innen von außen zu schulen. Denn es ist ein langer Weg, solange es weiterhin neue Fälle gibt. Ich führe immer noch Gespräche, vor allem mit den Familien von Fällen, die schon lange zurückliegen. Wir suchen nach wie vor nach Möglichkeiten, auf die Masse an Fälle zu reagieren.“


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DER FEMINISTISCHE KAMPF FORDERT EINEN ECHTEN WANDEL

Am Montag den 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sind wir von Victoria Alada aus zum Zócalo im Zentrum von Mexiko-Stadt marschiert. Als wir ankamen, hörten wir die Kundgebung der gemeinsamen Erklärung der Autonomen Feministischen Versammlung und der Hauptstädtischen Feministischen Versammlung: „Wir leben in Zeiten des Krieges, Schwestern, compañeras. Zeiten der Krisen und Notfälle. Sie töten uns, sie vergewaltigen uns, sie zwingen uns, zu gebären, sie verurteilen uns zum Tode, weil wir nicht gehorchen. Sie wollen uns hungrig, sie wollen uns ängstlich, traurig, müde, fügsam. Sie wollen uns spalten, Schwestern, compañeras.“

„Das ist die feministische Welle“

Das ist unsere Antriebskraft und ein Zurück gibt es nicht mehr. Das ist die feministische Welle. Sie speist sich aus kleinteiliger Arbeit: aus Sitzungen, organisatorischer Praxis, Wissensaustausch und verschiedenen Blickpunkten. Sich in den Versammlungen sehen, sich mit anderen treffen, die Entrüstung miteinander teilen, aber auch Unterschiede ertasten.

Sie kam plötzlich. Wie vulkanisches Magma, das die Straßen im Protest einnimmt, das uns mit einem Regen aus Gesängen, Parolen und Performances durchnässt. Aus Schreien, Trommeln und Forderungen. Sie verpasst den Straßen einen neuen Anstrich, sie will die nicht erzählten Geschichten und nicht erhörten Schreie furchtlos auf den Denkmalen verewigen. Jetzt, da wir vereint sind, jetzt, wo sie uns endlich sehen.
Dieses Jahr war ein bewegtes. Sein Zeitstrahl zeigt eindeutig auf, dass sich die Geschlechtergewalt in Mexiko-Stadt verschärft hat.

Im Januar waren es die Entführungsversuche in U-Bahn Stationen, bekannt unter dem Namen „Cálmate mi amor“ („Beruhige dich, meine Liebe“). Diese hatten zum Ziel, unter den Umstehenden Misstrauen gegenüber den Hilferufen der Frauen auszulösen. Diese beteuerten, dass ein Unbekannter, der behauptete, ihr Partner zu sein, versuchen würde, sie zu entführen. Feministische Aktivistinnen konnten durch partizipatives Mapping 31 Stationen identifizieren, an denen dies in den letzten zwei Jahren passiert war.

Kurze Zeit später schlug Ana Miriam Ferráez, lokale Abgeordnete aus Veracruz, im Angesicht des Anstiegs von Femiziden in ihrem Bundesstaat vor, ab 22 Uhr eine Ausgangssperre für Frauen einzuführen. Unter dem Hashtag #LaNocheEsNuestra („Die Nacht gehört uns“) versammelten sich daraufhin Frauen im ganzen Land zu Fahrraddemonstrationen.

Glitzer als Symbol einer neuen feministischen Bewegung

Im März erreichte die #MeToo-Welle Mexiko, ausgehend von Anklagen im Literaturbereich, die unter dem Hashtag #MeTooEscritores („MeToo Schriftsteller“) gesammelt wurden. Kurz darauf sind weitere gleichnamige Kanäle für die Bereiche Journalismus, Musikindustrie, Kino, Wissenschaft und soziale Organisationen aufgetaucht. Mehr als 130 Schriftsteller und etwa 300 im journalistischen Bereich Tätige wurden angezeigt. Das Anzweifeln der Legitimität der Anschuldigungen in sozialen Netzwerken war nicht nur im öffentlichen, machistischen Diskurs präsent, sondern auch innerhalb von Sektoren des Feminismus der „alten Schule“.

Am 3. August löste die Anzeige der Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen durch Polizisten im Bezirk Azcapotzalco Empörung in den Medien und sozialen Netzwerken aus. Die Besetzung des öffentlichen Raumes, die Monate zuvor mit #MeToo im Internet stattfand, verlagerte sich nun auf die Straßen.

Die „Brillantinada“, („Glitzerschlacht“), eine Reihe von Protesten im August (siehe LN 543/544), wurde auf Twitter unter dem Slogan #NoMeCuidanMeViolan („Sie schützen mich nicht, sie vergewaltigen mich“) bekannt, allerdings erst, als Demonstrantinnen die Glastür des hauptstädtischen Verwaltungsgebäudes zerschlugen und den Staatssekretär für Sicherheit von Mexiko-Stadt, Jesús Orta, mit pinkem Glitzer bewarfen. Dieser Glitzer wurde zum Symbol einer neuen feministischen Welle im Land.

„Sie hassen uns, weil wir Frauen sind“

Das Ausmaß der Empörung über Konfetti in der Luft ist lächerlich, aber repräsentativ für eine Debatte, die die schwere Krise der Gewalt gegen Frauen immer wieder aus dem Mittelpunkt des Gesprächs verdrängt. Genauso repräsentativ für diese Debatte ist, dass der eigentlich so festliche Glitzer, der im Kampf gegen männliche Gewalt ein Symbol der Einforderung eines genussvollen und freudigen Lebens ist, zu einem destabilisierenden Element gemacht wurde.

Die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, bezeichnete die Zerstörungen als „Provokation“, wodurch die feindliche und aggressive Haltung den feministischen Bewegungen gegenüber verschärft wurde und letztendlich in den sozialen Medien dominierte. Einmal mehr wurden Feministinnen im Netz attackiert. „Wir alle waren es“, war die Antwort auf Kriminalisierung und Drohungen.

Eine überwältigende Mehrheit der Frauen in Mexiko hat im Laufe ihres Lebens irgendeine Form von Gewalt erlebt: 66 Prozent laut dem Nationalen Institut für Statistik und Geographie. Die Angriffe auf Frauen haben eine tödliche Absicht. Ein Hassverbrechen, für das wir einen Namen schaffen mussten, um das Unverständliche zu verstehen: Femizid.

Sie hassen uns, weil wir Frauen sind. Sie hassen uns, weil wir nicht bereit sind, zu gehorchen.

Die Malereien und Graffitis bilden das ab, was zum Schweigen gebracht wurde, die Anklagen, die keinen Weg durch die Rohre einer ineffizienten Justiz fanden. Laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen war Mexiko 2018 das Land der Region mit der zweithöchsten Anzahl von Femiziden. 898. Laut UNO neun pro Tag. Die Wände werden gereinigt. Die Getöteten kommen nicht zurück.
Nun hat Sheinbaum wegen der Gewalt gegen Frauen für Mexiko-Stadt den Notstand ausgerufen. Die Wendung in ihrem zuvor bestrafenden Duktus wurde vielfach kritisiert. Es ist allerdings unwiderlegbar, dass diese die Folge eines unaufhaltsamen und entschlossenen feministischen Kampfes ist, der dieses Jahr geprägt hat. Sie töten uns und wir verteidigen uns. Es wird fallen. Und wir werden es zum Fallen bringen.


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GLITZER UND GEWALT

Flammender Protest Demonstrationen vom 16. August in Mexiko-Stadt / Fotos: Mirjana Mitrović

Im August wurden unabhängig voneinander zwei Fälle von Minderjährigen bekannt, die berichteten, von Polizisten in Mexiko-Stadt vergewaltigt worden zu sein. Eine 16-Jährige gab an, während ihres Praktikums im Museum Archivo de la Fotografía von einem Polizisten vergewaltigt worden zu sein. Eine 17-Jährige sagte aus, dass sie nachts auf dem Heimweg, nur zwei Straßen entfernt von ihrem Zuhause von vier Polizisten in deren Patrouillenwagen vergewaltigt wurde. Wie die mexikanische Tageszeitung El Universal berichtete, wurden die Beweise nicht ordnungsgemäß auf-genommen und somit ein ordentlicher Gerichtsprozess verhindert. Noch dazu wurde der Name des einen Mädchens an die Presse weitergegeben. Dies sind keine Einzelfälle, schließlich ist Mexiko bekanntermaßen eines der gefährlichsten Länder für Frauen, aber sie brachten ein schon lange brodelndes Fass zum Überlaufen.

Am Montag, den 12. August, demonstrierte zunächst eine überschaubare Gruppe von Frauen vor dem Gebäude für städtische Sicherheit in Mexiko-Stadt gegen Polizeigewalt und für die Aufklärung der Fälle sowie die Bestrafung der Täter. Dabei wurde der zuständige Sekretär Jesús Orta Martínez mit pinkem Glitzer beworfen. Die Demonstrantinnen zogen dann weiter vor die Zentrale der Staatsanwaltschaft. Einige der Teilnehmerinnen zerstörten eine Glastür des Gebäudes und hängten einen Schweinekopf auf. Die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, welche Teil der Regierungspartei MORENA und die erste Frau in diesem Amt ist, betonte noch am gleichen Tag in einer Pressemitteilung, dass der Kampf gegen die Gewalt an Frauen bereits Teil des Regierungsprogramms sei. Zugleich nannte sie die Proteste eine Provokation. Auf Plattformen wie Facebook wurde die Verbindung von Glitzer und Provokation in feministischen Kreisen zum Meme-Hit. Beispielsweise wurden Bilder von Drogenfunden nun zu Bildern von polizeilich gesicherten Paketen mit pinkem Glitzer umgestaltet. Zugleich wurde Glitzer zum Protestsymbol, denn neben der Ironie reagierten viele vor allem entsetzt auf Sheinbaums Aussage.

„Mata a tu violador“ „Töte deinen Vergewaltiger“

Die Aussage der Bürgermeisterin dürfte auch die erstaunliche Schnelligkeit der spontan und dezentral organisierten Antwort angefacht haben. Innerhalb kürzester Zeit wurde in über 30 Städten Mexikos für Freitagabend, nur fünf Tage nach der „Provokations“-Demonstration, zu neuen Protesten aufgerufen. Bilder mit pink glitzernden Fäusten wurden von Smartphone zu Smartphone verschickt und die Gruppe Resistencia Femme teilte den Aufruf via Facebook unter dem Hashtag „Sie schützen mich nicht, sie vergewaltigen mich“, begleitet von der Forderung „Wir wollen Gerechtigkeit!“. Am Morgen der Demonstration veröffentlichten sie einen Brief, welcher u.a. an die Bürgermeisterin Sheinbaum und den Sekretär für die städtische Sicherheit Orta gerichtet war. Dabei prangerten sie die Unfähigkeit der Regierung an, „diejenigen zu ermitteln und zu bestrafen, welche die Menschenrechte der Frauen verletzen“ und erklärten „unsere Proteste entstehen, weil es der Staat selbst ist, der durch die Streitkräfte die Straftaten des sexuellen Missbrauchs begeht, die Täter schützt und die Opfer zum Schweigen bringt und erniedrigt“.
Am Freitagabend war dann in Mexiko-Stadt kurz nach Beginn der Demonstration in einem brennenden Kreis auf dem Boden der Satz „Strafverfolgung zu verlangen ist keine Provokation“ zu lesen. Dazu rief eine schwarz vermummte Frau mit Spraydose in der Hand laut in Richtung der anwesenden Pressevertreter*innen „Dieser Protest wird ein Spektakel!“ und setzte damit das Motto für diesen Abend. Stundenlang schmissen vermummte Frauen die Scheiben zweier großer Busstationen ein, welche sie vorher mit Graffiti überdeckt hatten und zündeten kleine Feuer. Das alles ereignete sich direkt gegenüber des Gebäudes für öffentliche Sicherheit. Neben pinkem Glitzer in der Luft wurden mehrere Feuerwerkskörper auf das Gebäude abgefeuert. Meist wurden diese Aktionen von den rund 2000 vornehmlich jungen Demonstrantinnen (Männer wurden konsequent durch Rufe und Glitzerattacken aus dem Demonstrationszug verbannt) mit Grölen und Applaus unterstützt, nur selten wurden die Aktionen von Teilnehmerinnen lautstark kritisiert. Die Polizei griff nicht ein und männliche Polizisten wurden erst gar nicht sichtbar aufgestellt. Erst als auf dem Weg zur Statue am Paseo de la Reforma eine Polizeistation nicht nur demoliert, sondern auch angezündet wurde, griff die Feuerwehr ein. Währenddessen zogen die Demonstrantinnen weiter und hinterließen ein mit Graffiti überzogenes Unabhängigkeitsmonument.

Die Frustration entlädt sich Aktivistinnen legten die Metrobus-Station Insurgentes in Schutt und Asche

Am nächsten Tag waren bereits alle Graffitis übermalt oder entfernt und die Glasscheiben und Werbeplakate der Busstationen ersetzt worden. Wie zu erwarten wurde in den darauffolgenden Tagen in der Presse und bei den Diskussionen in sozialen Medien wenig auf die Anliegen der Frauen eingegangen. Stattdessen wurde hauptsächlich der Vandalismus thematisiert. Feministische Gruppen berichten, dass sie neben den alltäglichen Attacken nun noch heftigeren Angriffen ausgesetzt seien. Nichtsdestotrotz greifen feministische Kollektive weiterhin das Thema der Proteste auf. Das Medienkollektiv Luchadoras (Kämpferinnen) lud feministische Juristinnen ein, die Frage „Reicht uns diese Justiz?“ zu diskutieren. Sie setzen aber auch weiterhin auf den Austausch mit Bürgermeisterin Sheinbaum. Vielleicht auch, weil viele der Aktivistinnen bezweifeln, dass bei der nächsten Demonstration wieder auf eine so konsequente Deeskalation gesetzt wird. Die Bilder der gewaltigen Präsenz der Frauen auf der Straße hinterlassen aber weiterhin den Eindruck, dass der feministische Widerstand in Mexiko eine neue Form sowie eine andere (Schlag-)Kraft entwickelt hat. Die Vernetzung hat ihre Funktionstüchtigkeit im ganzen Land bewiesen. Ende August fand ein weiteres feministisches Treffen in der Hauptstadt statt. Eine neue Demonstration ist zwar momentan nicht angekündigt, aber die Proteste haben gezeigt, wie schnell sich inzwischen Feministinnen landesweit zu Aktionen organisieren können.

 


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