Vor genau 10 Jahren begannen Mütter und Väter die Suche nach den 43 vermissten normalistas (in der staatlichen Ausbildung befindliche Lehramtsstudierende an den sogenannten Escuelas Normales Rurales, Anm. d. Übersetzung) von Ayotzinapa, die immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt sind. Während sie ihre Kinder auf Hügeln, in Schluchten und auf unbebauten Grundstücken suchten, sprach die Erde zu ihnen: Ihre Risse zeigten eine unumkehrbare Realität.
Risse. Wunden. Opfer. Schmerz. Gewalt. Die ehemalige Regierung von Andrés Manuel López Obrador von der „Bewegung Nationaler Erneuerung“ (Movimiento Regeneración Nacional, kurz Morena) hinterlässt seiner Nachfolgerin Claudia Sheinbaum vom gleichen gemäßigten Linksblock dieses grauenhafte Erbe. Ein Mexiko, das vom Süden bis zum Norden seine Toten, Verschwundenen, ermordeten Frauen, schutzlosen Menschen, Tagelöhner*innen und Migrant*innen auf der Suche nach einer Chance beweint. Enteignung, Vergessen, Straflosigkeit und Korruption.
Konzentrieren wir uns für einen Moment auf den Fall Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero: das massenhafte gewaltsame Verschwindenlassen von 43 Lehramtsstudenten am 26. September 2014. Ein Jahrzehnt später hat Mexiko die Komplizenschaft der Streitkräfte mit kriminellen Gruppen aufgedeckt. Ayotzinapa offenbarte eine Armee, die angesichts eines Massakers historischen Ausmaßes tatenlos blieb. Es wurde deutlich, dass nichts ohne das Mitwissen des Staates geschieht.
Vom ersten Tag seiner Regierung an, dem 1. Dezember 2018, hatte sich López Obrador gegenüber den Familien der Verschwundenen verpflichtet, ihnen Wahrheit und Gerechtigkeit zu verschaffen. In der ersten Phase seiner Amtszeit war der politische Wille vorhanden: Es wurden Regierungsmechanismen wie die Kommission für Wahrheit und Zugang zur Justiz im Fall Ayotzinapa (CoVAJ) geschaffen. Der entscheidende Fortschritt war, dass die staatlichen Institutionen letztendlich zugaben, was die Familien vom ersten Tag des Verschwindens an geschrien hatten: „Es war der Staat“. Ein Schritt hin zur Wahrheit. Mehr als das, was den anderen Familien der, nach offiziellen Zahlen, über 115.000 Verschwundenen zugestanden wird, die Wahrheit und Gerechtigkeit für ihre Opfer fordern. Mehr wurde jedoch nicht erreicht.
Sechs Jahre später ist dieser nach wie vor ungeahndete Fall, der international große Aufmerksamkeit erregt hat, ein Beweis dafür, dass Mexiko seine Streitkräfte schützt. In den letzten Tagen von López Obradors Regierung wurde ein Gesetz erlassen, durch das die Nationalgarde, die als Ersatz für die korrupte Bundespolizei eingerichtet wurde, formell zur Armee gehört. AMLO hinterlässt ein Land, das seine öffentliche Sicherheit in Richtung Militarisierung institutionalisiert.
Die Regierung Obrador hat ihre Versprechen gegenüber den Familien von Verschwundenen in Mexiko systematisch gebrochen. Ayotzinapa ist nur ein Beispiel für die größte Brutalität, die wir aus der jüngeren mexikanischen Geschichte kennen. In diesem Fall hat sich die Regierung selbst über die Ergebnisse der von ihr gegründeten Kommission hinweggesetzt, indem sie die Haftbefehle, die CoVAJ gegen die am Veschwindenlassen beteiligten Militärs erlassen hatte, wieder aufhob.
Die Wahrheit zuzugeben, ohne für Gerechtigkeit zu sorgen und schon gar nicht für den von den Familien geforderten Zugang zu den Militärarchiven, die zeigen, wie die Armee seit mindestens 50 Jahren strategisch gegen die Bevölkerung vorgeht, wird so AMLOs schwerwiegendstes negatives Vermächtnis sein. Ein Erbe, das seine Nachfolgerin Sheinbaum nicht noch größer werden lassen sollte.
Im Kontext des Regierungswechsels hat Sol Salgado Ambrós, die erste Beauftragte für die Suche nach Vermissten in der Nationalen Suchkommission (CNB), mit LN gesprochen. Sie ist eine der wenigen Beamt*innen, bei denen ein ehrlicher Wille erkennbar ist, der den Tausenden von Familien ein wenig Hoffnung in die Institutionen gegeben hat.
Schwieriges Erbe für Sheinbaum
Die CNB wurde 2018 noch unter der Regierung Peña Nieto eingerichtet, nachdem 2017 das Allgemeine Gesetz über das Verschwinden von Personen und das Verschwindenlassen durch Privatpersonen in Kraft getreten war. Dies war eine historische Errungenschaft für Familien, die nach Vermissten suchen. Obwohl ihr Ziel darin bestand, die Bemühungen um die Suche nach vermissten Personen zu koordinieren, insbesondere wenn die lokalen Behörden keine Ergebnisse vorweisen konnten, war sie während der sechsjährigen Amtszeit von López Obrador überfordert. Sie verfügte nie über die finanziellen und materiellen Ressourcen, um die Krise zu bewältigen.
Sol Salgado war sechs Jahre lang die erste Leiterin der Kommission für die Suche nach Personen im Bundesstaat Estado de México und vier Jahre lang Staatsanwältin für Verschwundene. Wenige Monate vor dem Ende der Regierung López Obrador trat sie zurück. Sie ist eine Frau, die von den Kollektiven der Verschwundenen, deren Zahl in diesem Jahrzehnt gewachsen ist, geschätzt wird. Salgado erzählt von den Anfängen ihrer Arbeit: „Im September 2014 wurde ich im Estado de México zur ersten Staatsanwältin für Verschwindenlassen ernannt, wenige Tage vor der schrecklichen Tragödie von Ayotzinapa.“ Sie erinnert sich daran, dass es Unklarheit darüber gab, wer wie zu suchen hatte. Die Personensuche wurde den Autoritäten erst von Suchenden wie Mario Vergara beigebracht. Vergara starb im Mai 2023, ohne etwas über den Verbleib seines am 5. Juli 2012 verschwundenen Bruders Tomás Vergara zu wissen. Im Jahr 2009 verortet Salgado den Beginn der höchsten Gewaltrate, wie wir sie heute in Mexiko kennen. Es ist nicht so, dass es in Mexiko vorher keine kriminellen Gruppen gegeben hätte. Es sind die Aufteilung der kriminellen Gruppen und die verschiedenen Arten des Tötens und Verschwindenlassens, die sich verändert haben. Als die Staatsanwaltschaft von Sol Salgado Ambrós gegründet wurde, geschah dies gerade „wegen dieser Welle des Verschwindenlassens, die die Kapazitäten aller Institutionen und alles Weitere übertraf, was sie nicht nur im Bereich der Ermittlungen, sondern leider auch im Bereich der Forensik geplant hatten“, so Salgado Ambrós. Die Staatsanwaltschaft des Estado de México, ein Bundesstaat mit einer hohen Mord-, aber vor allem Feminizidrate, gehörte zu den Staatsanwaltschaften mit den besten Ergebnissen bei der Auffindung von Personen. Aber um diese Bemühungen zu ermöglichen, mussten Menschen wie Salgado Ambrós die städtische Polizei umkrempeln, die mit diesen Aufgaben nicht befasst war, sowie Behörden, die nicht die korrekten Protokolle für die Suche nach lebenden Personen befolgten. All dies basierte auf den Lektionen der Angehörigen der Verschwundenen.
Bis zur Aufklärung ist es ein langer Weg
Die ehemalige Staatsanwältin erinnert sich daran, dass 2013, ein Jahr vor dem Verschwinden der 43, ein Streik von Eltern und Geschwistern Verschwundener das Innenministerium dazu zwang, sich mit dem Thema des gewaltsamen Verschwindenlassens von Menschen zu befassen.
„Viele dieser Menschen werden heute noch gesucht, aber es wurden dadurch einige staatliche Maßnahmen angestoßen. Eine davon war zum Beispiel die Schaffung von spezialisierten Staatsanwaltschaften für das Verschwindenlassen von Personen jeweils auf nationaler und Bundesstaatsebene“, so Salgado Ambrós. Erst 2015 wurde in einer Publikation der Nationalen Konferenz der Justizstaatsanwälte das erste Ermittlungs- und Fahndungsprotokoll veröffentlicht. Davor gab es nichts dergleichen.
Auch die Bundesstaaten Guerrero und Veracruz sind vom massenhaften Verschwindenlassen betroffen,. Veracruz ist außerdem der Bundesstaat mit den meisten ermordeten Journalist*innen in den vergangenen 20 Jahren. Dort wurden 2019 die Gräber von Colinas de Santa Fe entdeckt. Diesen Fund beschreibt Salgado Ambrós als einen Schlüsselmoment des Wandels ihrer Arbeit: „Als Colinas de Santa Fe, das größte geheime Grab in ganz Lateinamerika, entdeckt wurde, wurde deutlich, dass die Familien diese Reisen und Funde allein hatten machen müssen. Damals begannen wir, uns mit der Unterstützung vieler Menschenrechtsexperten einzubringen.“
Die ehemalige Staatsanwältin berichtet jedoch darüber, dass es immer noch an Mitteln fehle, um den Familien Zugang zu Gerechtigkeit zu verschaffen. Obwohl sie, unterstützt von Dutzenden von Kollektiven, die vor Ort nach ihren verschwundenen Angehörigen suchten, viele Menschen finden konnte, litt sie sehr darunter, dass ihre Vorgesetzten keine Vorschläge annahmen, um die Suche effizienter zu gestalten. Damit mehr Menschen gefunden werden könnten, selbst wenn sie tot aufgefunden werden. „Leider wurden Gelder, die für die Untersuchung von Fällen des Verschwindenlassens vorgesehen waren, zwischen allen Staatsanwaltschaften verteilt. Obwohl ich Staatsanwältin für das Verschwindenlassen war – was eine ziemlich hohe Position in der Kette der Suche nach Menschen ist – konnte ich nichts tun, und diejenigen, die jetzt an dieser Stelle sind, können nichts tun“, beklagt sie.
Das wenige, was in den letzten Jahren getan wurde, um Verschwundene zu finden, wurde von den Familien getan. Mexikos neue Präsidentin Claudia Sheinbaum wird dafür sorgen müssen, dass Ressourcen zur Verfügung stehen und alle Protokolle eingehalten werden. Suchen und finden. Es sollten nicht nur die Familien bleiben, die sich zusammen mit einigen Beamten wie Sol Salgado Ambrós auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit befinden. Die ehemalige Staatsanwältin will nach ihrer Zeit im Regierungsapparat nun auf anderer Art zur Suche nach Menschen beitragen. „Ich weiß, dass jeder Regierungswechsel ein Raum der Möglichkeiten ist. Ich denke, dass es jetzt an mir ist, zu versuchen, unsere Kolleg*innen von außen zu schulen. Denn es ist ein langer Weg, solange es weiterhin neue Fälle gibt. Ich führe immer noch Gespräche, vor allem mit den Familien von Fällen, die schon lange zurückliegen. Wir suchen nach wie vor nach Möglichkeiten, auf die Masse an Fälle zu reagieren.“