Nicht nur eine Band, sondern auch ein Freundeskreis

Wiederstand und Spaß Fast 30 Musiker und Freunde haben in 30 Jahren bei Desarme gespielt (Foto: Desarme Rock Social)

Was motiviert euch, Musik zu machen?
Daniel: Als die Band Desarme 1993 entstanden ist, waren wir alle Jugendliche und wollten der damaligen Politik, die nur Armut, Ungerechtigkeit und Misere hervorbrachte, etwas entgegensetzen. Als Form wählten wir den Punkrock, vielleicht weil man dazu kein Musikstudium braucht. Nach und nach kamen neue Bandmitglieder dazu und die musikalische Qualität wurde immer besser, die Kritik an der Politik blieb.

Wie spiegelt die Geschichte eurer Band die verschiedenen Phasen der politischen Situation in Kolumbien wider?
Daniel: Vor kurzem haben wir uns unsere Alben und Musiktexte angeschaut. Eines der Lieder heißt „Te odiamos!“ (Wir hassen dich!). Es war dem Präsidenten Pastrana gewidmet, der zu dieser Zeit an der Macht war. Fünf Präsidentschaften vergingen und wir kritisierten eine nach der anderen. Wir wollten auf der Bühne stehen, Gruppen kennenlernen und Teil der Bewegung sein, die Kritik an den Zuständen äußert. Es ist nicht unser Lebensprojekt, sondern eher eine Ausrede, um an Orte zu kommen und mit aller Kraft der Mikrofone und Verstärker zu sagen, womit wir nicht einverstanden sind und was sich ändern soll.

Diego: Wir machen seit langer Zeit wegen genau dieser Nonkonformität Musik. Denn wir denken, wie es in einem Lied von Desarme heißt, dass eine bessere Welt möglich ist und es eine Welt für alle gibt, die unsere Rechte, die Gemeinschaften und die Unterschiede respektiert und sich um ein freies Denken dreht.

Wie sieht euer Kompositionsprozess aus und wie wählt ihr Themen für eure Lieder aus?
Daniel: Die meisten Texte drehen sich um Sozialkritik und sind in einer sehr einfachen Weise formuliert, um zu sagen, was man fühlt, begleitet von lauter, mitreißender Musik. Das Motto der Gruppe und des Punks generell ist, Ideen und Gedanken mit Musik zu verbinden, die Aufmerksamkeit erregen. Du interviewst uns an einem wichtigen Ort. Er heißt Poemapa und wurde von unserem Freund Erik Arellana gegründet. Unser Lied „Yo digo vida“ (Ich sage Leben) basiert auf einem seiner Gedichte.

Es ist also ein kollektiver Prozess?
Daniel: Ja, das ist es, was uns von anderen unterscheidet und uns zusammengehalten hat. Desarme ist weder eine Person noch eine Musikgruppe, sondern ein Freundeskreis, in dem jeder und jede willkommen ist. Fast 30 Musiker haben sich in den letzten 30 Jahren beteiligt, andere haben uns mit Videos und grafischen Erzeugnissen geholfen.

Diego: Und jetzt sind wir schon so alt, dass wir wie eine Familie sind. Aber ich möchte gern, dass Erik etwas über „Yo digo vida“ sagt.

Erik, wie war es für dich, als dein Gedicht zu einem Lied wurde?
Erik: Das war sehr schön, gerade weil es eine Anspielung inmitten des Krieges war, zu dem sie uns gezwungen haben. Auf das Leben zu setzen, ein Leben wie es Desarme zeigt. Denn trotz der bewaffneten Akteure werden wir nicht aufhören zu sagen, was wir denken. Als die CD herauskam, musste ich nach Deutschland ins Exil gehen, so war es auch ein Weg, mit Kolumbien verbunden zu bleiben. Das Lied wurde bekannt, die Veröffentlichung des Albums ist jetzt schon zehn Jahre her. Die Leute haben sich das Lied zu eigen gemacht. Das ist das soziale Gefüge, das Desarme webt. Zurückkehren zu können, obwohl ich im Exil war, und wieder mit diesem Engagement verbunden zu sein, geht weit über Musik hinaus und das ist toll.

Welche musikalischen Einflüsse habt ihr?
Daniel: Wir sind Lateinamerikaner. Wir sind aus einem Teil der Welt, in dem sich viele Musikgenres vermischen und wir schon als Kinder Cumbia, Vallenato, Ranchera bis zum Rock in spanischer und englischer Sprache oder auch Balladen hören. Aber was uns schließlich zusammenbrachte, ist der Hardrock. Den meisten von uns gefällt der Punkrock, vor allem Punk auf Spanisch. Spanische Bands wie Polla, Escorbuto, Vómito waren sehr wichtig für die Bewegung im Baskenland und hatten Einfluss in Bogotá, ebenso der Metal.

Wie beschreibt ihr eure politische Haltung?
Diego: Wir glauben daran, dass man etwas verändern kann – im Leben und an der politischen und sozialen Situation. Wir verstehen uns als Freigeister, weil wir mit der politischen Linie der Regierungen nicht übereinstimmen. Ob sie nun links, rechts oder aus der Mitte sind: Es bleiben Regierungen, die über die Menschen herrschen wollen. Sie unterwerfen und trennen uns voneinander.

Erik: Im Kollektiv erkennen wir die Potentiale und die Unterschiede zwischen allen, es gibt etwas Gemeinsames und genau das gibt uns die Stärke, denn 30 Jahre zu bestehen schafft nicht jede Band in Kolumbien.

Welches Angebot macht ihr?
Daniel: Wir haben den Radikalismus und den Pragmatismus der Worte und Einstellungen hinter uns gelassen. Unsere Standpunkte sind die Freiheit und die Anerkennung des anderen. Aber unter dem Vorwand der Demokratie wird uns auch ein patriarchales, kapitalistisches, machistisches System aufgedrückt, welches den Wettbewerb zwischen uns Gruppen in der Musik sucht. Für uns ist jedoch klar, dass Solidarität immer Teil von Freiheit ist.

Wie viele Alben habt ihr bis jetzt veröffentlicht und welche Touren gemacht? Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Publikum in Lateinamerika und Europa?
Diego: Unserem Publikum gefällt, was wir zu sagen haben. Die Nonkonformität gibt es nicht nur hier in Kolumbien, die gibt es weltweit. Diese Unzufriedenheit mit der Politik und diesen Regierungen, die die Türen und Fenster für die Menschen nicht öffnen. Natürlich hat das Publikum in Europa eine Perspektive der sogenannten ersten Welt. Auch sie führen Kämpfe, aber unsere Kämpfe sind andere. Ich glaube, die Bedürfnisse der Bevölkerung in Europa sind sehr verschieden von denen in den Ländern hier in Lateinamerika oder auch in Afrika. Die Leute können ein großes Bewusstsein haben, dass sich Sachen ändern sollen, aber wenn die Bedürfnisse verschieden sind, dann sind auch die Kämpfe andere.

Daniel: Desarme hat an mehr als 14 Sammelalben von autonomen Labels und Gruppen teilgenommen, denn Solidarität ist uns wichtig. 2021 haben wir mit dem Lied „Cantos de Resistencia“ (Gesänge des Widerstandes) bei einem antifaschistischen Kollektiv aus Deutschland mitgemacht. Außerdem haben wir vier eigene Alben, drei haben wir selbst bei Diego und Antonio zu Hause aufgenommen und das vierte hat das unabhängige Label El Lokal aus Barcelona produziert.

Erik: Die Musik kann eine eigene Energie produzieren. Ich denke an Rock al Parque 2012. Da gab es einen magischen Moment, als viele Personen zu den Liedern von Desarme tanzten, es war eine starke Energie zu spüren, etwa bei dem Lied „El baile contra la motosierra“ (Der Tanz gegen die Motorsäge), ein politischer Tanz gegen die Gewalt. Die Motorsäge ist ein Werkzeug, das dazu verwendet wurde, Menschen zu zerteilen. Genau dagegen tanzen wir. Auch beim letzten Konzert an der Universidad Pedagógica (staatliche Pädagogische Hochschule) oder beim Protest gegen Stierkämpfe wurde durch die Musik eine kollektive Energie für soziale Veränderung geschaffen.

Ihr seid Musiker, aber ihr habt auch andere Jobs, weil es euch wichtig ist, eine Verbindung zum Alltag zu haben…
Daniel: Es ist nicht unser Ziel, von der Musik zu leben, denn die Bedingungen sind nicht einfach und der Wettbewerb ist groß. Wir wollen nicht mit unseren eigenen Freunden in Wettbewerb treten. Mario arbeitet mit dem Kulturministerium, Raul mit dem Kultursekretariat, Diego arbeitet für die Integration von Obdachlosen, El Gato (Andres) und seine Partnerin sind Tierärzte. Ich arbeite auch für die soziale Integration mit Indigenen und gefährdeten Bevölkerungsgruppen.

Welche Pläne habt ihr als Band für die Zukunft?
Daniel: Letztes Jahr haben wir unser 30-jähriges Bestehen gefeiert. Deshalb waren wir in Kolumbien in verschiedenen Städten auf Tour und auf einem Festival in Mexiko. Der Plan ist, die nächsten drei Jahre noch verschiedene Touren zu machen, aber das Wichtigste ist, ein Buch herauszugeben. Es soll nicht die Geschichte der Band erzählen, sondern davon, was um dieses Abenteuer herum passiert ist – zusammen mit einer CD, die diese 30 Jahre zusammenfasst. Und wenn alles gut geht, werden wir im März 2025 nach Europa fliegen.

Welchen kollektiven Traum habt ihr für Kolumbien?
Erik: Unser Lied „Die Transformation der Gesellschaft“ nimmt auf die Geschichte Bezug und spricht vom Volksaufstand 1948 (Bogotazo nach Ermordung von Jorge Elicier Gaitan, Anm.d.Red). Auch andere Lieder aus unterschiedlichen Epochen handeln von der gleichen sozialen Transformation, aber aus der Perspektive des Alltags. Freunde und Freundinnen, die mit uns zusammen gekämpft haben, mussten durch das System den Kampf aufgeben. Wir verstehen, dass die Überlebensbedingungen sie dazu gezwungen haben, den aktiven Kampf aufzugeben, aber sie sind immer noch präsent. Sie sind hier mit uns. Es sind diese Veränderungen im Alltag. Wir fangen mit unseren Bekannten an, ausgehend von der Solidarität. Das ist die Art von Gesellschaftsmodell, das wir wollen: Eines, das die Unterschiede und die verschiedenen menschlichen Potentiale anerkennt, über das ökonomische Modell hinaus.

Diego: Ich würde mich freuen, wenn dieser Scheiß-Imperialismus aufhören würde. Wir sind autonome Gesellschaften und brauchen weder Megaprojekte noch multinationale Unternehmen oder die Invasion der Regierungen der USA oder Europa. Wir können auch ohne sie leben. Weil wir Gesellschaften sind, die mit dem, was sie haben, ohne Probleme leben können. Wir brauchen keine Plünderung der natürlichen Ressourcen. Wir haben das Wasser, das wir brauchen und unser tägliches Brot. Ich wäre froh, wenn sie uns in Ruhe lassen würden.


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MIT FUNKELNDEN MESSERN

„Die einzige Person, die diesen Preis gewonnen hat und kein Mann ist, war Mercedes Sosa vor 19 Jahren. Heute gewinnt ihn eine Lesbe.“ Mit diesen Worten nahm Marilina Bertoldi 2019 den wichtigen argentinischen Musikpreis Gardel de Oro für ihr Album Prender un fuego (Ein Feuer entfachen) entgegen. Wie unverzichtbar diese Sichtbarkeit ist, weiß Bertoldi selbst nur zu gut. Aufgewachsen in der Kleinstadt Sunchales in der Provinz Santa Fe, scheiterte sie in ihrer Jugend bis zur Verzweiflung daran, einen Ausdruck für ihr Begehren zu finden. Jahrzehnte nach ihrem lesbischen Comingout kämpft sie nun für echte Diversität. In ihrer Musik können sich auch jene wiederfinden, die sonst keinen Platz haben.

Mojigata heißt Bertoldis viertes, selbst produziertes Soloalbum. Der Titel nimmt Bezug auf eine eher im ländlichen Raum genutzte abwertende Bezeichnung für Personen, die nur keine Aufmerksamkeit erregen wollen. Auch Bertoldi legt es nicht darauf an, zu provozieren, eckt aber mit ihrer bloßen Anwesenheit als lesbische Frau im Musikbusiness oft genug an. Oftmals wurde sie auf Festivals von Musikern und Managern angefeindet: Sie ruiniere den Rock, sei Teil einer Bewegung, die auf Repräsentation und Vielfalt mehr Wert lege als Qualität.

Mojigata ist ein erneuter Beweis, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Platte ist eine absolut notwendige Erneuerung, die dem argentinischen Rock überhaupt erst eine Zukunft schafft. Das stellen zehn Lieder und ein kurzes Intro eindrucksvoll unter Beweis. Kaum einer der Songs ist länger als drei Minuten, sie bleiben schnörkellos auf das Wesentliche reduziert. Eingängige Riffs, eine unglaublich präzise groovende Rhythmusgruppe, kurze, prägnante Gitarrensoli. Dazu singt, flüstert, schreit, knurrt Bertoldi mit ihrer unvergleichlichen Stimme.

Auch die Texte sind schlicht, aber umso eindrücklicher, die fast abgehackt wirkenden Sätze zutiefst argentinisch und durchzogen von Anglizismen, eine Hommage an ihre Vorbilder Fiona Apple und Sheryl Crow. Es geht um Alltägliches, psychische Probleme, Begehren. Im funky „Vivo Pensando en Ayer“ (Ich lebe ans Gestern denkend) wacht im Hintergrund eine Stimme auf, die später in „Beso, Beso, Beso“ (Kuss) poltert. Im Interview beim Programm Caja Negra verrät Bertoldi, dass diese Stimme eine Art vertonte Neurose sei. Denn in der queeren Community gebe es einen feinen Sinn für Humor, ausgelöst von dem Trauma, mit dem dort alle umgehen müssen.

Queeres Begehren ist auch Thema der bisher produzierten Musikvideos. In der sphärischen Ballade „Amuleto“ (Amulett) tritt Bertoldi mit der chilenischen Sängerin Javiera Mena auf. Im Video wird der Tagtraum einer erotischen Begegnung zwischen Mena als Ärztin und Bertoldi als Patientin inszeniert – laut Bertoldi das erste Video zweier offen lesbischer Musikerinnen aus Lateinamerika. Weniger subtil tritt die Musikerin in „La Cena“ (Das Abendmahl) gemeinsam mit der Sexworkerin und Aktivistin María Riot in einem ländlichen Anwesen auf. Das Video spielt mit der Romantik der Gauchos und ist gleichzeitig eine lesbische Utopie, die Klischees und Binaritäten aufwirft, um sie dann wieder zu verwerfen.
„Ich verbringe die Zeit damit, Messer zu schleifen“, faucht Bertoldi in „La Cena“ und es ist das Funkeln dieser Messer, das ausreicht, um die Dinosaurier des Rocks zittern zu lassen. Aber, wie sie selbst sagt: „Das Beste kommt erst noch, und der Rest kann brennen.“


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„ICH DACHTE, ES WÜRDE UNS SO GUT GEHEN“

Barbi Recanati bei einem Konzert in Santa Fé (Foto: TitiNicola via wikimedia commons (CC BY-SA 4.0))

Ausgerechnet am 20. März, dem ersten Tag der Corona-bedingten Ausgangssperre in Argentinien (siehe LN 550), erschien mit Ubicación en Tiempo Real das erste Soloalbum der Gitarristin, Sängerin und Produzentin Barbara „Barbi“ Recanati. Der Titel lässt sich als „Live-Standort“ übersetzen, also jene viel genutzte Option von Smartphones, den eigenen Standort in Echtzeit zu teilen. Recanati selbst befand sich an diesem Tag bereits in häuslicher Quarantäne, zusammen mit Bandkollegen und ihrem Sohn. Auf die Mexiko-Tour im März hätte eigentlich ein Konzert auf dem großen SXSW-Festival in Texas folgen sollen. Trotz dessen Absage folgte auf den Rückweg über die USA die zwingende kollektive Quarantäne.

Barbi Recanati ist schon lange in der Alternativ-Rockszene in Argentinien aktiv und wurde als Lead-Sängerin der Utopians bekannt. Die Band löste sich auf, nachdem Recanati einen der Gitarristen rausschmiss, dem teilweise noch minderjährige Fans übergriffiges Verhalten vorgeworfen hatten.

Recanati stellt die alte Riege machistischer Musiker bloß

Seitdem kämpft sie für die Sichtbarkeit von FLINT*-Personen in der argentinischen Musikszene. Auf ihrem eigenen Label Goza Records, gegründet in Kooperation mit dem Community-Internetradiosender Futurock, ermöglicht Recanati jeden Monat einer Musikerin oder Band, ein Album zu produzieren. Dies soll einen Einstieg in die Musikszene abseits der etablierten und cis-männlich dominierten Strukturen erleichtern.

Die Erneuerinnen des argentinischen Rock eignen sich mit spielender Leichtigkeit dessen tausendfach reproduzierten und männlich konnotierten Gesten an. Wie Marilina Bertoldi, Paula Maffía und die Band Eruca Sativa stellt Recanati somit die alte Riege machistischer Musiker und Produzenten bloß, die über vermeintlich mangelndes Talent von Musikerinnen und das Ende letzten Jahres verabschiedete Mercedes-Sosa-Gesetz, welches eine Quote für weibliche Acts auf den Bühnen großer Musikveranstaltungen festschreibt (siehe LN 545), jammern.

Auf Goza Records erscheint nun auch Barbi Recanatis erstes eigenes Album, Ubicación en Tiempo Real. Trotz des modernen Titels der Platte schöpft sie musikalisch aus der Vergangenheit. War ihre vorher veröffentlichte EP Teoria Espacial („Raumtheorie“) noch von nach vorne preschendem, wütendem Rock dominiert, sind die sieben Songs auf Ubicación en Tiempo Real schleppender und eindrücklicher.

Inspiriert vom New Wave und Alternative Rock der 80er Jahre dominieren verzerrte Gitarren und hallende Synthesizer über dem Fundament einer präzise arbeitenden Rhythmussektion. Die Lieder und ihre Texte mögen zunächst einfach wirken. Doch die behutsamen und ausgefeilten Arrangements ziehen bei mehrmaligem Hören immer hypnotisierender in ihren Bann.

Hipsterfressende Hexen im Musikvideo

Die prägnanten Titel der sieben Lieder passen genauso zur schnörkellosen Musik wie die direkten, persönlichen Texte: „En la Frente“ („Auf die Stirn“). „Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich, ich hasse dich wirklich“, singt Recanati in „¿Qué Le Ves?“ („Was siehst du in ihm?“) über eine Person, die andere schlecht behandelt und sich damit herausredet, eigentlich ganz anders zu sein. „Los Demás“ kritisiert das ständige Reden über „die Anderen“ statt über sich selbst. „Para Darte“ („Um dir zu geben“) baut auf einer wuchtig, treibenden Basslinie auf und die schleppend schönen Ballade „Los Días Que No Estás” („Die Tage, an denen du nicht da bist“) wird vom einzigen Gast des Albums gesungen, Paula Trama der Popgruppe Los Besos. „Ich habe geglaubt, es würde uns so gut gehen“, singt Recanati in „Que No“ („Nein!“). Im dazugehörigen Video, von den Regisseurinnen Malena Pichot und Lucia Valdemoros inszeniert, tanzen Hexen durch ihr Haus, am Ende überlässt ihnen Barbi einen Hipster, der zu Besuch vorbeikommt, zum Fraß.

Eigentlich sollte Ubicación en Tiempo Real auch als Schallplatte erschienen, was die knapp gehaltene Songauswahl erklärt. Vorerst ist dieser Quarantäne-Musiktipp jedoch nur online, beispielsweise auf Spotify oder Youtube, zu hören.


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“FREI WIE EIN TIER”

Doctor Krápula rockt´s jetzt: Rechts der Keyboarder Sergio Acosta (Foto: Doctor Krápula)

In euer Musik transportiert ihr oft politische Botschaften. Nun ist „Animal“ (Tier) schon das achte Album von Dr. Krápula. Was steckt hinter dem Titel?
Wir wollten das Album so nennen, weil wir das erste Mal frei waren von vielen Dingen, frei von Managern und einem Label, frei das zu sagen was wir schon immer sagen wollten. „Animal“ gab uns die Freiheit, Wut, Freude, Liebe auszudrücken. Obwohl wir früher schon über Politik gesprochen haben, wollten wir uns von alten Bindungen lösen und machen jetzt die Musik, die uns am besten gefällt.
Es ist ein Album mit lateinamerikanischen Einflüssen, aber auch das bisher rockigste von Dr. Krápula. Wir fühlen uns komplett frei, den Rock zu machen, den wir schon immer machen wollten. Das erste Lied handelt davon, die Krallen auszufahren und beschwört Eigenarten verschiedener Tiere. Es motiviert weiterzumachen, weiter zu arbeiten und zu kämpfen – letztlich, frei wie ein Tier zu sein.

Wie lange habt ihr an dem Album gearbeitet?
In zwei Wochen haben wir das Album komponiert, in einer Woche produziert und in vier Tagen aufgenommen. In weiteren zwei, drei Wochen haben wir es gemixt und gemastert. Alles lief sehr schnell. Trotzdem war es sehr interessant, weil wir direkt die ganze Band aufgenommen haben. Es gab nur drei Aufnahmen und was dabei rauskam, blieb. Obwohl wir mit unserem Album „Viva el Planeta“ schon etwas Ähnliches ausprobiert haben, ging mit „Animal“ alles noch schneller. Wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Unser Toningenieur ist ein sehr experimentierfreudiger Mensch. In dem Prozess wurde er zum sechsten Mitglied der Band, der Effekte während der Aufnahmen dazu mischte.

Du hast gesagt, „Animal“ sei das bisher rockigste Album. Was hat euch dazu motiviert, eure bisherige musikalische Prägung zu überdenken?
Durch die Musik, die Touren – gerade beeinflusst uns am meisten die Rockmusik. Auch mit elektronischen Klängen haben wir experimentiert. Unser letztes Album, „Amazonas“, thematisierte den Umweltschutz. Dadurch wollten wir die indigenen Gemeinden des Amazonas sichtbar machen. Als wir damit begannen, haben wir mit elektronischer Musik, stark verzerrten Gitarren und Pop experimentiert. Wir wollten nicht wie eine Band von Hippies klingen – auch wenn wir das im Herzen wahrscheinlich sind. Gleichzeitig wollten wir aber auch den Bergbau in Kolumbien thematisieren, die Häfen und Straßen, die einen großen Teil des Regenwaldes zerstören. Für uns war es sehr wichtig, dass diese Botschaft ankommt und dass die Leute uns dennoch nicht als eine Gruppe stigmatisieren, die linke pseudo-intellektuelle Diskurse hält, aber nichts bewegt.  Die Aufmerksamkeit liegt auf den Texten, deshalb haben wir uns entschieden, Balladen zu machen, und elektronische Musik, Musik, die jeden erreicht.

Die Songs hat das Pantera Kollektiv geschrieben. Wer ist alles Teil davon?
Das Pantera Kollektiv besteht aus jungen Musikern. Wir wollten, dass sie ihre Sicht mitteilen und haben sie in die Komposition der Songs eingebunden. Im Kollektiv entstanden Ideen, die wir dann als Band gemeinsam weiterentwickelt und schließlich zu Musik gemacht haben.

Im Video zu dem Lied „Democracy“ erscheint neben anderen auch der deutsche Rechtspopulist Björn Höcke. Beschäftigt euch die Entwicklung rechter Gruppen in Deutschland und Europa?
Die politische Situation weltweit erscheint uns total absurd. Wir wollten die Zunahme populistischer Strömungen parodieren. Gleichzeitig erscheint uns auch absurd, dass die Menschen die Aussagen der Politiker kaum zu hinterfragen scheinen. Das passiert in vielen Ländern, neben dem deutschen rechten Politiker erscheinen in dem Video daher unter anderem auch Álvaro Uribe (ehemaliger Präsident Kolumbiens, Anm. d. Redaktion), Putin und Donald Trump. Letzterer ist wahrscheinlich der verrückteste Mensch, der die USA je regiert hat. Es gibt viele Menschen, die nicht merken, dass die Versprechen dieser Populisten auf Lügen basieren. Leider glauben viele nur an die vermeintlichen Wahrheiten, die sie im Fernsehen oder in den Sozialen Medien wahrnehmen. In dem Song heißt es daher: „Die Demokratie ist ein Fest, aber nicht für alle“.

In 19 Jahren hat Dr. Krápula acht Alben veröffentlicht, in denen ihr mit verschiedenen lateinamerikanischen Stilen experimentiert habt. Wie hat sich die Band und die Musik über die Zeit verändert?
Es war sehr schwierig, wir brauchten viel Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit. Es gibt Kolumbianer, die 500 Euro für ein Konzerticket für Bands wie die Rolling Stones oder Guns N’ Roses ausgeben. Gleichzeitig hören aber nur wenige kolumbianischen Rock. Wir sind immer gegen den Strom geschwommen. In Kolumbien sind wir mittlerweile sehr bekannt, weil wir durchhalten, eine Botschaft haben und einen Traum verfolgen. Wir haben Ska, Reggae, Dance Hall, Rock und Balladen gespielt, aber sind immer zum Rhythmus des Ska zurückgekehrt. Von dieser Basis ausgehend haben wir experimentiert. Die Musik ändert sich so schnell und wir wollen offen für alles sein. Die Transformation der Musik von Dr. Krápula war ein natürlicher Prozess.

Ihr habt euch bei eurem letzten Album „Amazonas“ auch sozial engagiert – was genau habt ihr unternommen?
„Amazonas“ war ein Projekt, an dem viele Künstler beteiligt waren: Manu Chao, der Sänger von Ska-P, der Drummer von Caifanes, die Band Aterciopelados. Außerdem verschiedene Fotografen, Grafiker, Graffiti-Künstler. Das Albumcover zeigt einen Jaguar und wurde genauso wie unser Bandlogo von dem  Graffitikünstler Guache entworfen.  Das an dem Album beteiligte Kollektiv hat außerdem ein Projekt mit der Stiftung Terranova (Neue Welt) im Amazonas begründet. In Leticia haben wir ein Konzert gespielt, aber auch eine fahrende Bibliothek unterstützt – ein Boot voll mit Büchern, das von der indigenen Bevölkerung genutzt wird.

Im vergangenen Jahr wurdet ihr vom kolumbianischen Kongress mit dem Orden Simón Bolívar ausgezeichnet. Was bedeutet euch der Preis?
Das war eine Auszeichnung für unsere Bemühungen im Umweltschutz und das soziale Engagement. Wir sind keine Fans von Auszeichnungen, deshalb haben wir nicht die Band. Aber eine so wichtige Auszeichnung ist schön, es ist eine Wertschätzung für das was wir machen.

In Kolumbien wurde im letzten Jahr ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften (FARC) unterzeichnet, am 1. Juni soll die Entwaffnung der Guerilla abgeschlossen sein. Wie seht ihr die aktuelle Situation im Land?
Wir wurden von den FARC eingeladen, in der Yarí Ebene bei ihrer letzten Konferenz als Guerilla ein Konzert zu spielen. Bei der Versammlung ging es um die Integration der FARC-Kämpfer in die Zivilgesellschaft (am selben Tag, dem 27. September 2016, unterzeichneten die Delegationen der FARC und der Regierung das Friedensabkommen; Anm. d. Red.). Wir wollten Bewusstsein dafür schaffen, dass man akzeptieren muss, um zu vergeben. Vergebung und Akzeptanz, damit die FARC sich in die Gesellschaft integrieren können. Für uns war es schön, an diesem Prozess beteiligt zu sein und wir hoffen, dass sich der Frieden auf die bestmöglichste Art verwirklichen wird.

Was war euer Eindruck von der Guerilla?
Was dir das Fernsehen zeigt unterscheidet sich sehr von dem, was man erfährt, wenn man direkt mit den FARC Kämpfern spricht. Für mich war es sehr beeindruckend, dass die Guerilla eine klassische Sinfonie mit einem Chor aufführte. Die Leute dort sind sehr gut darüber informiert, was vor sich geht, und sehr an Kultur interessiert. Es ist unglaublich, dass die FARC selbst an Orten wie der Yarí Ebene einen Wert auf kulturelle Darbietungen legen – vor allem wenn man bedenkt, dass der Zugang zu solchen Veranstaltungen selbst in den Städten oft beschränkt ist.

Besitzt Dr. Krápula eine politische Agenda?
Wir wollten nie Musik machen, um eine bestimmte Politik zu vertreten. Aus der persönlichen Erfahrung heraus haben wir aufgehört, uns links zu positionieren. Es kann schon sein, dass die Ideale der Band oder das, was wir über die aktuelle Situation denken, in das linke Spektrum gehören, aber das ist nicht unser Ziel. Für uns ist es wichtig, Menschen zu sein, die Natur zu schützen. Wir wollen, dass den Menschen bewusst wird, dass sie ein Teil dieser Welt, aber nicht deren Besitzer sind – und dass wir den Planeten und die Tiere schützen müssen. Uns steht es nicht zu, irgendetwas zu zerstören und wir müssen uns als Menschen lieben und respektieren, das war immer unsere Botschaft.


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MARÉ ROCKT

Freitagabend, Vila do Pinheiro. Harte Gitarrenklänge erklingen im Favela-Komplex Maré. Eine Straße ist gesperrt. Vor einer kleinen Bar steht eine improvisierte Bühne. Auf dieser geben heute drei Bands ihre selbstkomponierten Rocksongs zum besten.

Seit mehreren Jahren finden im Favela-Komplex Maré unabhängige und kostenlose Rockkonzerte statt. Organisiert werden die Events von der Gruppe „Rock in Bewegung“, die im Jahr 2009 von Bewohner*innen der Maré gegründet wurde. Stein des Anstoßes war der große Erfolg der Veranstaltung „Rock in Maré“. Damals fanden in der Gemeinde Konzerte und politische Veranstaltungen auf zahlreichen öffentlichen Plätzen statt. Heute lässt sich der Erfolg von „Rock in Bewegung“ auch an Zahlen ablesen: mehr als 200 Bands sind in den letzten Jahren in Maré und anderen Favelas im Norden von Rio de Janeiro aufgetreten. Erst kürzlich spielten 18 Bands aus allen Teilen der Stadt bei einem Festival in Maré.

Ziel der Veranstalter*innen ist es, die unabhängige Musikszene weiter zu demokratisieren. Zwischen den Konzerten ist das Mikrophon offen für Reden. Produzent*innen und Musiker*innen können auf der Bühne ihre Konzerte und CDs bewerben. DJs spielen in den Pausen Klassiker der Rockgeschichte.

Marcos Vinicius studiert Design und kommt seit einem Jahr zu den Konzerten. Er glaubt an die mobilisierende Kraft der Musik: „Rock in Bewegung gibt den lokalen Bands die Möglichkeit, gesehen und gehört zu werden.“ Mit seinen Freund*innen besucht Vinicius mindestens einmal im Monat die Rockkonzerte in Maré. „Brasilianische Künstler haben mehr Anerkennung verdient“, findet Vinicius. Der Favela-Komplex ist musikalisch ein diverser Ort. Auch andere Stilrichtungen, wie Rap, Forró oder Baile Funk, sind hier stark vertreten. „Ich glaube, dass jedes Musikevent dazu beiträgt, die heimische Kultur zu stärken“, meint Vinicius.

Lange Zeit stellte „Rock in Bewegung“ die Events ganz alleine auf die Beine. So wurde bei den Konzerten die eigene Ausrüstung benutzt. In den letzten Jahren hat sich die Rockszene jedoch professionalisiert. Zentraler Grund dafür ist, dass die Gruppe „Rock in Bewegung“ im Jahr 2015 einen Preis des Kultursekretariats von Rio de Janeiro gewann und so als „lokale Kultur“ anerkannt wurde. Dadurch erweiterten sich die Möglichkeiten für die Gruppe. Seitdem finden immer mehr Konzerte mit immer besserer Technik statt. Kürzlich veranstaltete „Rock in Bewegung“ Festivals in der Bundesuniversität Fluminese (UFF) und in einer Bibliothek. Auch ist es heute möglich, Ton- und Videoaufnahmen der Konzerte zu machen. Die Veranstalter*innen, die vorher komplett unentgeltlich arbeiteten, können sich mittlerweile einen kleinen Lohn auszahlen.

Auch ohne große finanzielle Unterstützung  sollen in Zukunft weiterhin Konzerte stattfinden.

Reginaldo Costa ist Musiker und Koordinator von Rock in Bewegung. Der 35-Jährige betont, dass das Projekt durch den Preis gewachsen ist: „Uns ist es gelungen, eine höhere Stabilität und bessere technische Qualität zu erreichen. Das ist sonst sehr schwierig für die unabhängige Musikszene.“ Neben den Veranstalter*innen stemmt eine Vielzahl von Freiwilligen das Projekt. Auch der lokale Handel helfe, die Veranstaltungen durchzuführen, sagt Costa. So verkaufen lokale Gewerbetreiber*innen Getränke und Lebensmittel am Rande der Konzerte und machen im Vorfeld Werbung für die Rockevents.

Neben den Konzerten versucht „Rock in Bewegung“ auch eine Bestandsaufnahme der Szene durchzuführen. So werden Probleme und Bedürfnisse der alternativen Musikszene diskutiert. Im Moment wird außerdem ein Dokumentarfilm über die Szene gedreht, der die Entwicklung des Projekts zeigen soll. Zudem organisierte die Gruppe Workshops für die Bewohner*innen von Maré, um zu zeigen, wie man mit professioneller technischer Ausrüstung umgeht. Auch ohne große finanzielle Unterstützung sollen in Zukunft weiterhin Konzerte stattfinden.

Costa stellt fest: „Unsere Konzerte sind aus zwei Gründen immer voll: Es gibt hier einfach viele Rockfans und einen Mangel an öffentlichen Räumen“. Zwar gebe es zahlreiche kulturelle Projekte in Maré, diese seien aber immer noch nicht ausreichend, um der hohen Nachfrage und dem kreativen Potenzial der Gemeinde nachzukommen. Viele Bewohner*innen können sich nicht die teuren Eintrittskarten für die Konzerte von internationalen Bands leisten, die fast ausschließlich in der reichen Südzone stattfinden. „Für mich sind die Events so wichtig, da sie von uns Bewohnern gemacht werden“, sagt Costa. „Wir kriegen keine Sichtbarkeit von außen, aber die Aufmerksamkeit in unserem Territorium macht einen großen Unterschied.“ So hat sich in Maré eine lebendige Rockszene entwickelt: Immer mehr Bewohner*innen kleiden sich in der szenetypischen schwarzen Kleidung und wo früher fast ausschließlich Baile Funks-Rhythmen den Ton angaben, dröhnen heute auch immer mehr harte Gitarrensounds durch die engen Gassen der Gemeinde.


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