ERINNERUNGSSPLITTER

Dass Bolivien ein wichtiges Einwanderungsland nach dem zweiten Weltkrieg war, ist relativ bekannt. Weniger verbreitet ist allerdings, welche Beziehungen zwischen den heterogenen Gruppen von deutschen Immigrant*innen bestanden. Dieser Frage widmet sich das Buch „Transnationale Spurensuche in den Anden“ von Juliana Ströbele-Gregor.
Die Autorin, die als Kultur- und Sozialanthropologin unter anderem am Lateinamerika-Institut der FU Berlin forschte, ist Wissenschaftlerin, doch zugleich auch Zeitzeugin: Mit 9 Jahren kam sie 1952 als Tochter des ersten deutschen Botschafters nach dem zweiten Weltkrieg nach Bolivien. Ströbele-Gregors „Erinnerungssplitter“, die die dokumentarische Spurensuche leiten, sind subjektive Anknüpfungspunkte für eine detaillierte Darstellung des sozio-politischen Gefüges im Bolivien der 50er und 60er Jahre. Anhand von Einzelschicksalen, darunter ihr eigenes, beschreibt die Autorin die Erfahrungen der Emigrant*innen aus Nazi- und Nachkriegsdeutschland. Zitate aus den vielen Interviews, die sie mit Kindheitsfreund*innen in den 2000er Jahren führte, verschmelzen mit Archivquellen, diplomatischen Berichten und zeitgenössischen Artikeln zu einer „multiperspekt­ivischen Geschichtserzählung“.
Dabei fokussiert sich Ströbele-Gregor auf die Perspektiven der drei völlig verschiedenen deutschen Einwanderungswellen: Da war zunächst die alteingesessene deutsche Kolonie, die schon seit Ende des 19. Jahrhunderts in Bolivien existierte und deren Bewohner*innen oftmals antisemitisch eingestellt waren. Während des zweiten Weltkrieges, als Bolivien zunächst noch eine sehr großzügige, wenn auch interessengeleitete Migrations- politik verfolgte, kamen zudem geschätzte 10.000 Jüd*innen ins Land. Sie suchten Zuflucht vor den Nazis, von denen einige nach Kriegsende ebenfalls nach Bolivien flüchteten, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Die Clubs und Schulen, in denen die Deutschen ihr sozio-kulturelles Leben organisierten, bestehen zum Teil bis heute. Die Lebensräume der Juden und Jüdinnen waren davon stark abgegrenzt. Die Autorin kritisiert, dass die nationalsozialistischen Tendenzen der deutschen Kolonie in der (Nach-)Kriegszeit bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet wurden.
Nicht zuletzt durch den Beruf ihres Vaters kam Ströbele-Gregor mit den sehr unterschiedlichen Kreisen in Kontakt. Dabei hörte sie viele Fluchtgeschichten, die für sie diffus blieben; erst später kam das Verstehen und damit „die Scham, Deutsche zu sein“. So stellte sich 1972 etwa heraus, dass der Vater einer Schulfreundin Klaus Barbie war, der „Schlächter von Lyon“. Die Autorin widmet ihm und Monika Ertl, einer weiteren Schulfreundin und der angeblichen Mörderin von Che Guevara, jeweils ein ganzes Kapitel. Zwei der drei Kapitel sind also personenbezogen und relativ kurz. Eine Gliederung anhand der drei Gruppen von Migrant*innen wäre eventuell schlüssiger gewesen. Nichtsdestotrotz besticht das Buch durch seine Detailliertheit, die nur selten trocken wirkt. Die „Erinnerungssplitter“ bleiben aufgrund der kindlichen Perspektive eher schwammig; dennoch sind sie eine interessante Ergänzung, die die Fülle an Fakten auflockert. So gelingt es Ströbele-Gregor, die Forschungslücken hinsichtlich der Beziehungen von geflüchteten Jüd*innen und alteingesessenen Deutschen in Bolivien mit einem persönlichen Werk über ihre „emotionale Heimat“ zu verkleinern.

 

HASTA SIEMPRE, CHE

Ob Zu- oder Abneigung, zu den Superlativen, die Ernesto Che Guevara von Anhänger*innen und Gegner*innen zugeschrieben wurde, passt das wohl historisch gesehen berühmteste Foto einer Person, das 1960 der Fotograf Alberto Korda schoss: Che, der Attraktive, Che, der aussah, wie man sich Jesus vorstellt. Verstärkt wurde der Jesus-Vergleich noch durch die Fotos, die vom toten Che Guevara angefertigt worden waren, nachdem er am 9. Oktober 1967 in La Higuera von Militärs erschossen worden war. Geboren am 14. Juni 1928 in Rosario wurde Ernesto Che Guevara nur 39 Jahre alt.

Um ihm gerecht zu werden, müssen wir uns in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückversetzen. Es war eine Zeit des internationalen Auf- und Umbruchs, was sich in Lateinamerika in Revolutionen, US-Interventionen und Militärputschs äußerte. Die kubanische Revolution und später Vietnam zeigten, dass man dem Großen Bruder USA die Stirn bieten konnte. Verstaatlichung ausländischer Konzerne und Agrarreformen standen selbst im Parteiprogramm der Christ­demokraten Chiles. Paulo Freire machte sich mit seiner „Pädagogik der Befreiung“ einen Namen. Die sogenannten Abhängigkeitsansätze („Dependencia“), entworfen von lateinamerikanischen Soziolog*innen, wurden international rezipiert und den sogenannten Rückständigkeits- und Modernisierungstheorien entgegengestellt. Selbst in der Katholischen Kirche kam die neue Zeit an.

Vor diesem Hintergrund schwebte Che Guevara die Schaffung eines „neuen Menschen“ vor, der nicht angetrieben durch materielle Anreize, sondern orientiert an Idealen solidarisch, mit starker Willenskraft die gerechte Gesellschaft aufbaut, sich den USA entgegenstemmt. Guevara stellte sich in die Tradition eines José Martí und Simón Bolivar. Das vereinte unabhängige freie sozialistische Lateinamerika als Ziel. Auf eine Vielzahl lateinamerikanischer Guerillabewegungen übte Che große Strahlkraft aus.

Che Guevara steht aber auch für ein personifiziertes Scheitern, sieht man einmal von seiner erfolgreichen Mitwirkung bei der kubanischen Revolution ab: Gescheitert bei der Schaffung des neuen Menschen, überfordert angesichts der US-Blockade als Industrieminister und Nationalbankchef, glücklos als Guerilla-Führer im Kongo. Und schließlich in Bolivien das klägliche Aus.

Che war von seiner Fokus-Theorie überzeugt. Motiviert und angeführt durch eine Handvoll Freiheitskämpfer würde die verarmte Landbevölkerung zu den Waffen greifen, um ihr jahrhundertealtes Joch abzuwerfen, meinte er. Die Quechuas an den Osthängen der Anden bei Vallegrande aber blieben distanziert gegenüber diesem gringo aus Argentinien und seinen compañeros, darunter die Deutsch-Argentinierin Tamara Bunke. Auch von der KP Boliviens wurde Che nicht unterstützt. Schließlich stand seine zweigeteilte Gruppe einer militärischen Übermacht gegenüber, beraten durch US-green berets mit Vietnamerfahrung. Während die kubanische Bevölkerung mit Fidel und seinen Getreuen sympathisiert hatte und deren Einzug in Havanna 1959 jubelnd begrüßte, blieb die Unterstützung in Bolivien durch die campesinos aus.

Im sozialistischen Lager wurde Che mit zunehmendem Argwohn ob seines Voluntarismus betrachtet. Vom Kampfgenossen Fidel, der angesichts der Bedrohung durch die USA zum Realo wurde und die Unterstützung der Sowjetunion suchte, setzte sich der Fundi-Radikale Che ab. Ihm ging alles zu langsam, er hielt nichts von friedlicher Ko-Existenz, wollte die Revolution der Peripherie („Dörfer“) gegen die Metropolen („Städte“) jetzt!
Che liebäugelte mit Peking und fiel mit seiner Kritik an Moskau in Ungnade, was ihn schließlich von Fidel trennte und auf den Weg in den Kongo und später nach Bolivien brachte. Aus der Sicht der UdSSR und der DDR war klar, weshalb er scheitern musste: Er hatte nicht auf die Einschätzung der kommunistischen Partei Boliviens gehört. Tatsächlich hatte er seine Erfolgschancen bei weitem überschätzt.

„Jesus Christus mit der Knarre – so führt dein Bild uns zur Attacke“

Genau seine Unbotmäßigkeit half wohl mit, warum Che Guevara zum Idol der aufmüpfigen 68er-Generation wurde und auch in der DDR so manche regimekritische Anhänger*in fand. Che war eben nicht der Apparatschik oder Bonze, sondern der Unbequeme, der selbst unter linken Christ*innen seine Fans fand. „Jesus Christus mit der Knarre – so führt dein Bild uns zur Attacke“, sang Wolf Biermann. Che, eine attraktive Kombination besonders für Revolu­tions­romantisierende. Ches Slogan „Schafft zwei-drei-viele Vietnams!“ fand Eingang in die Rhetorik der deutschen Student*innenbewegung – und endete dann in letzter Konsequenz im RAF-Desaster.

Nach seiner Ermordung fehlte der Ruf „Hoch die internationale Solidarität“, kombiniert mit seinem Konterfei, bei keiner studentischen Demo in Westberlin und Westdeutschland. Durch die nicaraguanische Revolution (1979) und deutschen Städtepartnerschaften gewann die Person Che mit seinem Spruch „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“ eine besondere Nuance und Bekanntheit.

Die Militärputsche in Lateinamerika waren die Antwort der traditionell herrschenden Klassen im Verein mit der Imperialmacht USA. Sie brachten in den 1960er/70er Jahren mit ihrem Staatsterrorismus ein brutales Erwachen. Auch wenn heute etwa in Brasilien wieder Stimmung für ein Eingreifen der Militärs gemacht wird: So unzeitgemäß derzeit militärische Machtergreifungen erscheinen, so sehr auch der bewaffnete Kampf, siehe FARC und ELN. Zum Glück.

Darf man sich kritisch mit einer Revolutionsikone auseinandersetzen? Man darf. Nicht verschwiegen werden soll Che Guevaras Verant-wortung für die Hinrichtung sogenannter Kriegsverbrecher gleich 1959, was nicht so richtig zum Bild vom Vorkämpfer für Menschenrechte passt. Che hatte verschiedene Seiten, war widersprüchlich, was bis heute die Identifikation unterschiedlichster Strömungen mit ihm erlaubt: Er war risikobereit und konsequent in seinem Verhalten, er trug messianische, aufopferungsvolle, preußisch-disziplinierte, aber auch gewaltverherrlichende Züge. Zum Mythos wurde Che weniger wegen seiner Taten, siehe sein Scheitern, als für das, was er wollte: eine bessere Welt. Und so lohnt es noch immer, sich mit Che und seinem Anliegen zu befassen: die Überwindung von Abhängigkeit und Unterdrückung, Ausbeutung und Armut, und der in Lateinamerika herrschenden riesigen Einkommensunterschiede.

Che vive, Che lebt. Manche meinen, Che habe mit Evo Morales‘ Wahlsieg 2005 dann doch noch gewonnen. Für linke Regierungen Lateinamerikas von Bolivien bis Nicaragua einschließlich Zapatistas in Süd-Mexiko ist Che bis heute unverzichtbare Referenz. Ob zurecht, steht auf einem anderen Blatt. Kuba und Bolivien richteten im Oktober 2017 zur Erinnerung an die Ermordung große Staatsfeiern mit internationalen Gästen aus.
Eine Fernsehdoku übertitelte ein Portrait zu ihm mit den Worten „Der Tod war sein größter Sieg.“ Mag sein, richtig ist auf alle Fälle, dass Ernesto Che Guevara auch heute noch vielerorts fasziniert und verehrt wird, dass er in Kunst, Kultur und Kommerz seinen Platz hat und im 50. Jahr seiner Ermordung auch und noch immer in den Medien.

„Hasta siempre, comandante“? Besser „hasta siempre, Che“, der gute Mensch von Rosario.

Che Guevara im Kongo

Am Anfang stand die Dawa

Es ist fünf oder sechs Uhr morgens, als sie im Kongo an Land gehen, in der Nähe eines kleinen Dorfes namens Kibamba. Es gibt keine Anlegestelle, das Boot läuft auf Grund. Dreke erzählt: „Wir ließen nicht zu, dass Che als Erster ausstieg. Wir sprangen ins Wasser und schwammen ein paar Meter, bis wir festen Grund erreichten. Es nieselte. Wir mussten abwarten, was passierte. Es herrschten Unsicherheit und Spannung, wir hatten über die mögliche Gefahr eines Verrats gesprochen: Leute, die uns nicht kannten, eine Sprache, die wir nicht beherrschten, Angst vor einer versehentlichen Schießerei. Einer von ihnen rief von der Küste her nach uns. Chamaleso sagte: ‘Das Lager ist dort oben. ‘Timbea mindi mindi (es ist weit).’“
Die Kubaner beginnen den Bergrücken hinaufzusteigen, der sich 500 Meter vom Strand entfernt erhebt. Sie hören Kommandos. Endlich, im Halbdunkel des nahenden Morgengrauens, erscheint eine Gruppe von Kongolesen in gelben, von den Chinesen geliehenen Uniformen, und empfängt sie mit Parolen und Gesängen. Es wird das einzige Mal bleiben, dass die Kubaner in der kongolesischen Volksbefreiungsarmee (Armée Populaire de Libération) eine gewisse kriegerische Haltung vorfinden. Che notiert: Seltsame Soldaten mit einer guten Infanterieausrüstung, die sehr feierlich eine kleine Ehrengarde für uns abhielten.
Die Guerilla stellt Wachen außerhalb des Lagers auf, das sich mitten in einem dichten Urwald befindet. Sofort brechen zwei Expeditionen auf, die einen Umkreis von drei Kilometern erforschen. Che erleidet einen kleinen Asthma-Anfall. Es ist Zeit fürs Frühstück: Die Kongolesen bringen Maniok-Mehl, das sie in Wasser gekocht haben, Fleisch und Pfeffer; die Kubaner machen Dosen auf. Es kommt zum ersten gastronomischen Austausch, auch Zigaretten werden herumgereicht.
Mit Chamaleso, der von den Kubanern „Tremendo Punto“ getauft wurde, als Übersetzer von Französisch in Suaheli werden die Leute vorgestellt: Moja (Dreke), der Chef; Tatu (Che), Arzt und Übersetzer; M’bili (Martínez Tamayo), Adjutant und Sanitäter. Die Namen lösen ein Gelächter aus, es sind schließlich auf Suaheli Zahlen. (…)
Che berichtet von einem überraschenden Gespräch mit einem der kongolesischen Offfiziere: Oberstleutnant Lambert, sympathisch, in festlicher Stimmung, erklärte mir, dass die Flugzeuge für sie keine Bedeutung hätten, weil sie die Dawa besäßen, ein Heilmittel, das gegen Kugeln unverwundbar mache. „Auf mich haben sie mehrmals geschossen und die Kugeln fielen kraftlos auf die Erde.“
Bald wurde mir klar, dass dies ernst gemeint war. Diese Dawa richtete ziemlich viel Schaden bei der militärischen Ausbildung an. Das Prinzip ist folgendes: Der Kämpfer wird mit einer Flüssigkeit, in der Kräutersäfte und andere Zauberstoffe aufgelöst wurden, übergossen. Dann werden einige kabbalistische Zeichen über ihm und fast immer eine Kohlemarkierung auf seine Stirn gemacht; nun ist er gegen jede Art feindlicher Waffen geschützt (wenn dies auch von der Macht des Medizinmanns abhängt), aber er darf keinen Gegenstand anfassen, der ihm nicht gehört, auch keine Frau, und keine Angst verspüren, weil er sonst den Schutz verliert. Die Lösung für jedes Versagen ist einfach: Ein toter Mann ist ein Mann, der Angst hatte, ein Mann, der gestohlen hatte oder ein Mann, der mit einer Frau schlief; ein verletzter Mann ist ein Mann, der Angst hatte. Da Angst die Kriegsaktionen begleitet, war es für die Kämpfer sehr einfach, die Verwundung der Angst zuzuschreiben, das heißt dem mangelden Glauben. Und die Toten können nicht reden; man kann sie aller drei Vergehen beschuldigen.
Der Glaube ist so stark, dass niemand in den Kampf geht, ohne sich der Dawa zu unterziehen. Ich habe immer befürchtet, dass sich dieser Aberglaube gegen uns richten wird und dass sie uns die Schuld für jede verlorene Schlacht geben werden, in der es viele Tote gibt. Ich habe mehrmals mit verschiedenen Verantwortlichen das Gespräch gesucht, um zu versuchen, Überzeugungsarbeit dagegen zu leisten. Es war unmöglich; die Dawa ist eine Äußerung des Glaubens. Die politisch am weitesten Entwickelten sagen, dass dies eine natürliche, materielle Kraft sei und dass sie als dialektische Materialisten die Kraft der Dawa anerkennen, deren Geheimnisse die Medizinmänner des Urwalds beherrschen. (…)

Zweifel an der Mission

Am 12. August 1965 schreibt Che eine „Botschaft an die Kämpfer“, in der er unter anderem anführt: Wir können nicht sagen, dass die Situation gut ist: Die Führer der Bewegung verbringen die meiste Zeit außerhalb des Landes (…), die Organisationsarbeit ist gleich Null, da die mittleren Kader nicht arbeiten, vielmehr gar nicht wissen, wie das geht, und alle misstrauen ihnen (…). Die Disziplinlosigkeit und die mangelnde Opferbereitschaft sind die herrschenden Merkmale dieser Guerilla. Natürlich lässt sich mit diesen Truppen kein Krieg gewinnen.
Che fragt sich, ob die Anwesenheit der kubanischen Kolonne positiv ist, was er bejaht, da die Schwierigkeiten von den großen Unterschieden herrühren. Dies muss in etwas Nützliches verwandelt werden.
Er wiederholt: Unser Auftrag ist es, den Krieg gewinnen zu helfen. Wir müssen mit unserem Beispiel die Unterschiede aufzeigen, aber ohne uns bei den Kadern verhasst zu machen (…). Revolutionäre Kameradschaft in der Basis (…). Im Allgemeinen haben wir mehr Kleidung und mehr Essen als die hiesigen Kameraden; wir müssen sie so weit wie möglich teilen, und zwar gezielt mit den Kameraden, die ihren revolutionären Charakter zeigen.
In uns muss der Wille vorherrschen, etwas zu vermitteln, aber nicht pedantisch von oben herab auf die Unwissenden, sondern mit menschlicher Wärme, die in den Unterricht einfließt. Die revolutionäre Bescheidenheit muss der Leitfaden unserer politischen Arbeit und zusammen mit der Opferbereitschaft eine unserer Hauptwaffen sein, nicht nur als Beispiel für die kongolesischen Kameraden, sondern auch für die schwächsten von uns. (…)

Die Niederlage als Zwischenschritt zum nächsten Kampf

Während sie warten, trifft sich Che noch einmal mit Masengo, um die Evakuierung zu organisieren. In der Nacht nimmt eine Barkasse die ersten Kongolesen mit. Für mich war es eine entscheidene Situation; zwei Männer (…) würden wir zurücklassen müssen, wenn sie nicht innerhalb weniger Stunden auftauchten; sobald wir gegangen wären, würde sich eine Flut von Verleumdungen innerhalb und außerhalb des Kongos über uns ergießen. Meine Truppe war ein heterogenes Konglomerat, nach meinen Erkundungen konnte ich bis zu zwanzig Leute auswählen, die mir, so wie die Dinge lagen, mit mürrischem Blick folgen würden. Und was sollte ich dann tun? Alle Führer zogen sich zurück und die Bauern waren uns zunehmend feindlich gesinnt. Aber es schmerzte mich zutiefst, das Feld komplett zu räumen und wegzugehen, wie wir gekommen waren, die Bauern dort ohne Verteidigung zurückzulassen, genauso wie die zwar bewaffneten, aber aufgrund ihrer geringen Kampfkraft hilflosen Männer, die besiegt waren und sich verraten gefühlt hätten.
Für mich war es kein Opfer, im Kongo zu bleiben, nicht ein Jahr und auch nicht die fünf Jahre, mit denen wir unsere Leute in Schrecken versetzt hatten. Es war Teil einer Vorstellung vom Kampf, die völlig in meinem Kopf verwurzelt war. Ich konnte bestenfalls damit rechnen, dass mich sechs bis acht Männer ohne finstere Miene begleiteten, der Rest würde es aus Pflichtgefühl tun, einige aus persönlicher Verpflichtung mir gegenüber, andere aus moralischer Verpflichtung gegenüber der Revolution, und ich würde Leute opfern, die nicht mit voller Begeisterung kämpfen könnten.
In Wirklichkeit ging mir der Gedanke hier zu bleiben bis in die letzten Stunden dieser Nacht durch den Kopf, und vielleicht habe ich auch nie eine Entscheidung getroffen, sondern bin wie die anderen auch einfach geflohen.
Fernández Mell erinnert sich, dass Che darauf bestand dazubleiben, und wenn ihn die von der Kongolesischen Befreiungsbewegung nicht gezwungen hätten zu gehen, wäre er auch geblieben.(…)
Unser Rückzug war eine reine Flucht und, schlimmer noch, wir waren mitschuldig am Betrug, durch den die Leute am Ufer zurückblieben. Andererseits, wer war ich jetzt? Ich hatte den Eindruck, dass meine Kameraden mich nach meinem Abschiedsbrief an Fidel als einen Mann aus anderen Breiten ansahen, als jemanden, der von den konkreten Problemen Kubas weit entfernt war, und ich wagte es daher nicht, von ihnen das letzte Opfer zu fordern, hier zu bleiben. So verbrachte ich die letzten Stunden einsam und ratlos.
Gegen 2 Uhr morgens tauchen die drei Boote von Lawton auf, angekündigt durch bengalische Feuer und ein Bombardement. Als Erstes wird auf einem der Boote eine Kanone montiert. Ich legte die Abfahrtszeit auf 3 Uhr fest; um halb sechs würde es hell sein und wir hätten schon die Hälfte des Sees hinter uns gebracht. Die Evakuierung begann; zuerst gingen die Kranken an Bord, dann der gesamte Generalstab von Masengo, vierzig Leute, die er ausgesucht hatte, schließlich alle Kubaner und dann begann eine schmerzhafte, klägliche und unrühmliche Szene. Ich musste Menschen zurückweisen, die flehentlich darum baten, mitgenommen zu werden. Dieser Rückzug hatte nichts Erhabenes, nichts Rebellisches. (…)
In diesen letzten Stunden im Kongo fühlte ich mich so einsam, wie ich es nie zuvor gewesen war, weder in Kuba noch an irgendeinem anderen Ort meiner Pilgerfahrt durch die Welt.
Gegen 7 Uhr morgens, als schon die Häuser von Kigoma zu sehen sind, nähert sich ein kleines Boot. Che spricht von dort aus zu den Kubanern. Nach Darstellung Drekes sagt er: Kameraden, aus Gründen, die euch bekannt sind, ist der Augenblick der Trennung gekommen. Ich werde nicht mit euch an Land gehen. Wir müssen jede Art von Provokation vermeiden. Dieser Kampf, den wir geführt haben, war eine große Erfahrung. Ich hoffe trotz aller Schwierigkeiten, die wir überwinden mussten, dass, wenn eines Tages Fidel euch eine weitere Mission dieser Art vorschlägt, einige von euch „Hier“ sagen werden. Ich hoffe auch, dass, wenn ihr rechtzeitig zum 24. zurückkommt und das von einigen so herbeigesehnte Spanferkel essen werdet, ihr euch an dieses einfache Volk und an die Kameraden erinnern werdet, die wir im Kongo zurückgelassen haben. Man ist nur Revolutionär, wenn man bereit ist, alle Bequemlichkeiten hinter sich zu lassen, um in ein anderes Land zum Kampf zu gehen. Vielleicht sehen wir uns in Kuba oder anderswo auf der Welt.

Aus: Paco Ignacio Taibo II: Che. Die Biographie des Ernesto Guevara. Edition Nautilus, Hamburg 1997, 701 Seiten, 34,80 Euro.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus.

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