Fasten für die Guerilla?

Die ökumenische Fastenkampagne der drei kirchlichen Hilfswerke Partner sein, Fastenopfer (FO) und Brot für alle (BFA) unter dem Motto „Wir glauben. Menschenrechte fordern Einsatz“ hat bei Kolumbiens Regierung heftige Reaktionen ausgelöst. Die Kampagne war von einer Plakat-Serie begleitet, die zum Nachdenken über Verletzungen der Menschenrechte in vier Schwerpunktländern anregen wollte. Sie zeigte Bilder wie eine weggeworfene Dose (Kolumbien), eine bis zum Letzten ausgepresste Tube (Indien), eine verdorrte Zimmerpflanze (Philippinen) und ein abgebranntes Zündholz (D.R. Kongo). Gleichzeitig riefen die Plakate zum Handeln auf. Im Falle Kolumbiens hieß es: „Tun Sie mit uns etwas für die Opfer von Gewalt.“ Auch wenn sich die Lage in Kolumbien etwas beruhigt habe, spreche der UN-Menschenrechtsbericht 2005 noch immer von zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, erklärten BFA und FO. In der parallel zu den Plakaten breit gestreuten Kampagne erschienen Hintergrundberichte zur Arbeit in Kolumbien.
Kolumbiens Vizepräsident Francisco Santos, der zur Herausgeberfamilie der einflussreichen Tageszeitung El Tiempo gehört, machte aus der Plakat-Aktion im Vorfeld der Ende Mai angesetzten Präsidentenwahlen ein Medienthema: Santos sprach auf einer Pressekonferenz in Bogotá Ende April von einer Kampagne, die in der Schweiz gegen sein Land geführt werde. Santos warf BFA und FO vor, sie würden mit staatlichen Geldern die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) Guerilla unterstützen.

Sicherheitsrisiko für Hilfswerke

BFA und FO wiesen diese Vorwürfe entschieden zurück. In einer Medienmitteilung halten sie fest, dass sie Organisationen der Zivilgesellschaft unterstützen, die sich für die Überwindung der Gewalt einsetzen, und in keiner Weise mit bewaffneten Gruppierungen zusammenarbeiten. Es gefährde aber die Arbeit der Partnerorganisationen, wenn sie in die Nähe der Guerilla gerückt würden. Ziel der Fastenkampagne, die ohne staatliche Gelder geführt wurde, sei eine Sensibilisierung der Schweizer Bevölkerung.
Gleichentags wie das Dementi von BFA und FO fand in der Schweizer Botschaft in Bogotá ein Gespräch zwischen dem Schweizer Botschafter und Vizepräsident Santos statt, das die von diesem geäußerten Vorwürfe zum Thema hatte. Dabei distanzierte sich Santos von der Behauptung, dass die beiden Hilfswerke die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) unterstützten. Allerdings legte er daraufhin in einem Interview mit der westschweizer Zeitung Le Temps mit seiner Kritik nach. Schlimmer noch: Die Vorwürfe Santos’ wurden sogar auf der Webseite des paramilitärischen Dachverbandes AUC publiziert. „Dadurch sind unsere Partner einem großen Sicherheitsrisiko ausgesetzt“, ist BFA-Kampagnenverantwortlicher Beat Dietschy daher nun besorgt.
Unterstützung erhielten BFA und FO vom Beobachtungsprogramm für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern, das von der Internationalen Föderation der Menschenrechtsligen (FIDH) und der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) getragen wird. In einer Erklärung zeigten sie sich äußerst besorgt, weil Hilfsorganisationen zur Zielscheibe von paramilitärischen Angriffen gemacht werden. FIFH und OMCT rufen alle Regierungen und insbesondere die kolumbianische auf, die UN-Erklärung zum Schutz der Verteidiger der Menschenrechte von 1998 zu respektieren.

Rehabilitierung gefordert

Zudem haben mehrere Schweizer NRO in einem Brief an Vizepräsident Santos jetzt ihre Besorgnis über die Angelegenheit ausgedrückt und festgehalten, dass Staaten die Arbeit von regierungsunabhängigen Organisationen (NRO) respektieren müssten, wie in verschiedenen internationalen Verträgen festgehalten worden sei. Schließlich möchten sie wissen, was die Regierung Kolumbiens unternehmen werde, um den beschädigten Ruf der Schweizer NRO wieder herzustellen.

Viera Malach, InfoSüd
http://www.infosued.ch/

Verlorene Hoffnung, bleibende Erinnerung

Wir waschen uns im Bach neben dem Dorf, der manchmal dreckiger ist als wir selbst“, berichteten die TeilnehmerInnen einer Schweizer Solidaritätsbrigade im Herbst 1987 aus Santa Emilia, einem Dorf in der Nähe von Matagalpa, Nicaragua. „Nachts besuchen uns Ratten“, fuhren sie fort, „die möglicherweise sogar über unsere Köpfe spazieren, Hühner, Flöhe, Mücken und Fliegen, kurz gesagt, eine unbestimmte Anzahl von Vertretern des Tierreiches.“ Seit einigen Wochen schon war die kleine Gruppe aus der Schweiz mit dem Bau einer Schule für die Dorfkinder beschäftigt und trotzte dabei den Widrigkeiten nicaraguanischen Landlebens.
Als das Gebäude schließlich im Oktober fertig gestellt wurde, trug es den Namen „Escuela Max Frisch“ und erinnerte damit an den bekannten Zürcher Schriftsteller und Theaterautor. Dieser hatte kurz zuvor den Erlös eines ihm verliehenen US-Literaturpreises an die Schweizer Solidaritätsgruppen mit Nicaragua weitergeleitet, um gegen die Militärhilfe der Vereinigten Staaten an die „als contras bekannten Terroristen“ zu protestieren. Sein Engagement reihte sich ein in die vielfältigen Initiativen einer Solidaritätsbewegung, die sich aus der Begeisterung über den Sturz des Diktators Anastasio Somoza im Juli 1979 außerhalb bestehender Institutionen entwickelt hatte und bald in politischen Parteien, Gewerkschaften, kirchlichen Kreisen und Hilfswerken Unterstützung fand. Nica-Bananen wurden verkauft, Städtepartnerschaften ausgerufen und Erklärungen verabschiedet. Der deutlichste Ausdruck der Solidarität mit Nicaragua aber waren die Arbeitseinsätze von Hunderten von Freiwilligen, die sich unter ungewohnten und zum Teil dramatischen Bedingungen am Aufbau des Landes beteiligten.

Brigaden für Nicaragua

Als die USA im Oktober 1983 auf der Karibikinsel Grenada militärisch eingriffen, schreckten sie damit nicht nur die Weltöffentlichkeit auf, sondern sendeten auch eine deutliche Warnung an Kuba und Nicaragua. In Managua wurde diese verstanden. Um eine Invasion abzuwenden, die unmittelbar bevorzustehen schien, wandten sich damals die Sandinistische Befreiungsfront FSLN und die Massenorganisationen an die internationale Solidarität. Die Anwesenheit von AusländerInnen sollte den politischen Preis einer US-amerikanischen Intervention erhöhen. In der Schweiz stieß der Aufruf auf ein großes Echo. Innerhalb weniger Wochen meldeten sich circa 200 Personen für einen Arbeitseinsatz in Nicaragua. Im Januar 1984 beteiligten sich Schweizer Freiwillige am Aufbau einer landwirtschaftlichen Kooperative in der Nähe des Rio San Juan und fällten hohe Bäume im Urwald. „Wir wollten den Einmarsch der US-amerikanischen Armee und auch die Aktivitäten der contras von Eden Pastora erschweren, die von Costa Rica aus operierten“, erinnert sich ein Teilnehmer. In den Jahren 1984 bis 1986 lösten sich die Solidaritätsbrigaden im Zweimonatsrythmus ab. In Matagalpa entstand ein Schulhaus, in La Rondalla ein Dorf mit zwanzig Häusern für die LandwirtschaftsarbeiterInnen. Anderswo wurden Bananen gepflückt und Kaffeebohnen geerntet, zehn Stunden täglich, trotz Regen und Kälte in den nicaraguanischen Bergen. 1984 trafen auch die ersten Gesundheitsbrigadistinnen ein und waren während drei Monaten, später während einem Jahr unter schwierigen Bedingungen in der ländlichen Gesundheitsversorgung tätig. „Ich habe dann dort reiten gelernt“, erzählt eine Krankenschwester, „denn ohne Pferd war man verloren. Zum Teil ritt ich ganz allein ein bis zwei Stunden für einen Hausbesuch.“ Im gleichen Jahr stellte die christliche Solidarität eine Friedensbrigade für Nicaragua auf die Beine. Innerhalb weniger Monate waren die Nicaraguabrigaden zu einer Massenerscheinung geworden.

Widersprüchliche Solidarität

Dabei blieben vor allem die Kurzzeiteinsätze nicht ohne Widersprüche und wurden zum Teil auch innerhalb der Solidaritätsbewegung selbst in Frage gestellt. „Die Nicaraguabrigaden verwandeln sich in eine Art Ferienkolonie im Pfadfinderstil“, kritisierte eine Teilnehmerin Ende 1984 und zweifelte am Sinn des immer größer werdenden Stroms von AusländerInnen, der sich über Nicaragua ergoss. Andere verwiesen auf die mangelnde Qualifikation der BrigadistInnen für Bauarbeiten und schlugen vor, das Geld für das Flugticket doch besser in ein Entwicklungsprojekt zu investieren.
Letztlich aber waren andere Argumente entscheidend. Der Zweck der Solidaritätsbrigaden lag nicht nur im Einsatz vor Ort. Der Aufenthalt sollte die Informationsarbeit in der Schweiz verstärken und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Ereignisse in Mittelamerika lenken. Aus diesem Grund organisierten die BrigadistInnen nach ihrer Rückkehr Pressekonferenzen, Vorträge und Solidaritätsabende und berichteten über ihre persönlichen Erfahrungen in Artikeln, Leserbriefen und Broschüren. Meist fehlte es ihrer Stimme aber an Gewicht, um die öffentliche Wahrnehmung entscheidend beeinflussen zu können. „Die Berichterstattung der Medien über Nicaragua folgte fast immer der einfältigen Propaganda der US-Regierung“, erinnert sich ein Teilnehmer.
Tatsächlich gaben Nicaragua und seine Revolution in der Schweiz den Anstoß zu ideologischen Auseinandersetzungen, die den Antikommunismus des Kalten Krieges ein letztes Mal zu Höchstform auflaufen ließen. Im April 1986 besuchte eine Gruppe rechtsgerichteter Parlamentsabgeordneter das kleine mittelamerikanische Land, in dem sich, wie sie nach ihrer Rückkehr öffentlichkeitswirksam berichteten, eine totalitäre Diktatur nach sowjetischem und kubanischem Muster eingerichtet hätte.

„Links engagierte Leute“

Als im gleichen Jahr die beiden Schweizer Entwicklungshelfer Maurice Demierre und Yvan Leyvraz von der contra ermordet wurden, drückte das Außenministerium zwar sein Bedauern aus, verzichtete aber auf einen Protest bei der US-Regierung. Zudem erklärte ein Staatssekretär, er habe den US-AmerikanerInnen zugestehen müssen, dass es sich bei den erschossenen Schweizern schon um links engagierte Leute gehandelt habe.
Als Reaktion auf den Tod der beiden Hilfswerksmitarbeiter beschloss die Regierung schließlich, in gewissen Gebieten Nicaraguas aus Sicherheitsgründen sämtliche staatlich finanzierten Entwicklungsprojekte zu verbieten. Damit setzte sie sich dem Vorwurf aus, die Ziele der US-Nicaraguapolitik direkt zu unterstützen. Von der Entscheidung war auch eine Schweizer Solidaritätsbrigade betroffen, die ihr Bauprojekt kurzfristig verlassen musste. „Das war die schlimmste politische Erpressung der offiziellen Schweiz, die ich erlebt habe“, berichtet ein Teilnehmer. „Das schlimmste für mich war, dass wir die Menschen dort zurückließen. Sie konnten vor dem Krieg nicht fliehen, und wir wurden dazu gezwungen.“

Alternative Entwicklungszusammenarbeit

Die Wahlniederlage der SandinistInnen im Februar 1990 bedeutete für die Solidaritätsbewegung einen Schock, von dem sie sich nie wieder erholte. Gewisse Ermüdungserscheinungen machten sich aber schon früher bemerkbar: die Nicaraguasolidarität litt an inneren Gegensätzen, und ihre Erneuerung gelang nur beschränkt. Nicht zu übersehen ist, dass sich im Verlauf der 80er Jahre auch Sinn und Zweck der Brigaden veränderten. Der erwartete Einmarsch der US-Armee, der 1983 in einer Notfallübung Tausende von InternationalistInnen nach Nicaragua hatte strömen lassen, trat schließlich doch nicht ein, weil die contra mit ihrem low intensity warfare (Krieg niederer Intensität) die gleiche Aufgabe wesentlich effizienter erfüllte. Die Solidaritätsbrigaden glichen damit immer mehr einer Art alternativen Entwicklungszusammenarbeit. Sie verbesserten punktuell die Lebensbedingungen der nicaraguanischen Bevölkerung und brachten moralische Unterstützung, erwiesen sich aber als völlig bedeutungslos für den Erfolg oder das Scheitern der sandinistischen Revolution.
Trotzdem wäre es falsch, das Abenteuer der Nicaraguasolidarität als Misserfolg zu bezeichnen. Sie hat es Hunderten von SchweizerInnen ermöglicht, während einer beschränkten Zeitdauer in einem Entwicklungsland zu arbeiten und die schwierigen Lebensverhältnisse der Bevölkerung mit all ihren Problemen, Ängsten und Hoffnungen zu teilen. Auf der Grundlage von persönlichen Erfahrungen konnte so in breiten Kreisen ein neues Verständnis für die Nord-Süd-Problematik geschaffen werden. Darin liegt das wohl größte Verdienst der Nicaraguabrigaden. „Nach ihrer Rückkehr erlebten die meisten Teilnehmer einen Kulturschock“, erzählt Andrés Rando, der ehemalige Koordinator der Schweizer Solidarität in Managua. „Dank der Beschäftigung mit der Situation vor Ort konnten sie eine differenzierte Haltung einnehmen, zum Beispiel bezüglich des Unterschieds zwischen Armut und Elend.“

Zwanzig Jahre danach

Und Nicaragua ist in der Schweiz auch zwanzig Jahre nach der Revolution nicht in Vergessenheit geraten. Um an die Ermordung von Maurice Demierre zu erinnern, besuchte im Januar 2006 eine vierzigköpfige Delegation das mittelamerikanische Land. An der Reise nahmen auch Parlamentsabgeordnete, Medienschaffende und Künstler teil. Im Norden Nicaraguas, an der Stelle, wo Maurice Demierre zusammen mit vier Bäuerinnen von der contra erschossen wurde, führten sie in Begleitung von Hunderten von NicaraguanerInnen einen Erinnerungsmarsch durch. „Quiero ser humus que fertilice esta tierra“, war auf dem Transparent zu lesen. Begrabt mich in Nicaragua, hatte Maurice Demierre einmal gesagt, ich möchte Humus sein, der diese Erde fruchtbar macht.

Informationen zur Reise nach Nicaragua vom Januar 2006 unter www.e-changer.ch
Koordinationsstelle der Solidarität ist das Zentralamerika-Sekretariat ZAS in Zürich. Mail: zas11@access.ch,
Fon: 0041-44/2715730

Was würde Romero dazu sagen?

Herr Bernet, Ihr Haus trägt den Namen eines Erzbischofs, der vor über 25 Jahren in El Salvador ermordet wurde. Spricht der Name Óscar Romero heute noch die Menschen an, die Sie erreichen wollen?

Das RomeroHaus wurde von den Patern der Missionsgesellschaft Immensee eingerichtet, die stark von der Befreiungstheologie in Lateinamerika beeinflusst waren. Es sollte teils zur Ausbildung des eigenen Nachwuchses dienen, für Leute, die in einen Auslandseinsatz gehen und sich hier in Grundlagenkursen vorbereiten können, und es war immer auch gedacht für die Sensibilisierungsarbeit in der gesamten deutschen Schweiz. Das war in den achtziger Jahren, kurz nach Romeros Ermordung 1980.
Erzbischof Óscar Romero war durch sein mutiges Auftreten in El Salvador auch in Europa bekannt geworden; seine Ermordung hat die Bekanntheit noch gesteigert. Heute ist die Befreiungstheologie zwar medial nicht mehr so präsent wie damals, aber wir sind überzeugt, dass das Programm von Romero heute für uns genauso aktuell ist wie zu der Zeit, als man dieses Haus gegründet hat.

Worin besteht denn die Aktualität von Romero für Schweizerinnen und Schweizer?

Jedes Jahr um den 24. März herum gedenken wir der Ermordung Romeros. Im Jahre 2005, zum 25. Jahrestag, zeigten wir in einer Tagung auf, was alles im Fall Romero noch nicht aufgearbeitet ist: Es gab ja bisher keinen offiziellen Gerichtsprozess, in den USA zwar einmal eine Zivilklage, aber sonst sind die Mörder von Romero entweder bereits gestorben, oder sie leben noch und sind in Freiheit. Der Vatikan betreibt derzeit die Heiligsprechung Romeros und möchte aus ihm einen frommen Mann machen, der schon immer für die Armen da war. Aber das Politische möchte man dabei möglichst ausblenden. Am Schluss dieser Tagung zum Romero-Tag haben wir einige prominente Leute gefragt, wo sie heute die Aktualität von Romero für uns in der Schweiz sehen. Bezeichnenderweise haben alle Statements ähnlich gelautet: Romero würde heute wohl den Finger auf unsere Asylpolitik legen. Die Schweiz ist heute ein klassisches Immigrationsland. Romero würde kritisieren, wie wir mit den Menschen, die zu uns kommen, umgehen. Die Menschenrechte gelten für alle, ob mit oder ohne Schweizer Pass.

Gut, und wie haben Sie reagiert?

In diesem Jahr haben wir am RomeroTag eine Tagung zum Thema Asylpolitik veranstaltet. Da kamen engagierte Leute, die im Anschluss an die Gespräche ein Komitee gegründet haben und sich in die im September anstehende Abstimmung gegen das neue verschärfte Asylgesetz einbringen wollen.

Sprechen Sie mit solchen Aktivitäten in der Schweiz mehr Menschen an als die, die sich ohnehin mit Romeros Idealen identifizieren?

Das RomeroHaus gilt in linkskatholischen Kreisen, aber auch
konfessionsübergreifend, als ein Haus, das für Nord-Süd-Fragen einsteht. Ich glaube, der Wert unserer Bildungsarbeit ist nicht nur der, dass wir hier Kurse, Veranstaltungen, Treffs von Solidaritätsgruppen haben. Ebenso wichtig ist, dass wir nach wie vor befreiungstheologische Ansätze verteidigen. Und auch das gehört zu unserer Wirkung: nicht umsonst haben wir den Lebensraumpreis des Kantons Luzern erhalten, mit der Begründung, das RomeroHaus würde hartnäckig und mit großem Engagement Fragen ansprechen, die für unsere Gesellschaft überlebenswichtig sind, aber häufig wenig beachtet werden.

Wie setzen Sie Ihre Anliegen konkret um?

Durch Kurse und Veranstaltungen. Mit „fairplay: weltweit!” bieten wir einen Kurs an, der jüngeren Leuten eine Einführung in entwicklungspolitische Themen wie Ökonomie, Globalisierung, Migration gibt. Der Kurs „AikA“ ist eine „Ausbildung für Interkulturelle Animation”, eine Art Projektmanagement, um Integrationsarbeit auf niedrigem Level in der Schweiz anzuregen. Das sind längere Kurse, die zum Teil über ein Jahr lang dauern, zum Teil drei, vier Monate. Daneben gibt es ein ausgearbeitetes Veranstaltungsprogramm, es gibt Kunstausstellungen und Fotoreportagen im Haus. Alle zwei Jahre verleihen wir den Nord-Süd-Preis. Er geht an Projekte, die Süden und Norden miteinander verbinden und an Menschen deren Engagement mehr Aufmerksamkeit gebührt.

Der Preis deutet es bereits an, Sie arbeiten nicht nur an der Sensibilisierung der Schweizer Bevölkerung, sondern auch ganz konkret in Lateinamerika. Welchen Grundsätzen folgen Sie dabei?

Die Bethlehem Mission Immensee (BMI), die Trägerin des RomeroHauses ist, vermittelt Fachpersonen für die personelle Entwicklungszusammenarbeit. Sie arbeitet dabei immer zusammen mit einer lokalen Partnerorganisation. Wir machen keine eigenen Projekte, sondern schließen uns Engagements an, die von Partnerorganisationen zusammen mit Benachteiligten in Lateinamerika, Afrika oder Asien selbst geplant werden. Erst wenn ein Bedürfnis nach einer Schweizerischen Fachperson da ist, werden die Verträge gemacht. So gibt es BMI-Einsätze in befreiungstheologisch ausgerichteten Pfarreien oder in Nichtregierungsorganisationen, die beispielsweise eine Journalistin brauchen oder Solartechnik einführen wollen. Wir schicken hiesige Fachleute in einen mindestens dreijährigen Einsatz. Diese Fachleute sind dann für uns wiederum Kontaktpersonen, wenn wir hier in der Schweiz Sensibilisierungsarbeit machen. Die BMI gibt auch die Zeitschrift Wendekreis heraus und organisiert Kampagnen, zum Beispiel zur Vertreibung der Landbevölkerung in Kolumbien. Unsere Aktivitäten möchten sich daran messen lassen, welche Auswirkungen sie für die Ärmsten haben. Was ja auch aus der befreiungstheologischen Arbeit kommt: Alle Entscheidungen, kirchliche oder politische, müssen immer wieder gemessen werden an denen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind, und da korrigiert werden, wo sie Leute benachteiligen.

Der Wandel im Ost-West-Konflikt 1989/90 hat für viele, die in der Nord-Süd-Arbeit beschäftigt waren, gravierende Folgen gehabt: das politisch interessierte Publikum blieb weg, Initiativen, Projekte, Zeitschriften gingen ein. Warum hat das RomeroHaus diesen Bruch überstanden?

Weil die Probleme weiterhin bestehen. Ich meine nicht, dass es wirklich weniger Interessierte gibt. Sicherlich hatten auch wir nach 1990 einen Besucherrückgang zu verzeichnen. Aber wenn ich mir jetzt unsere Veranstaltungen anschaue, bin ich überrascht von der regen Beteiligung. Vielleicht hat sich der Weg verändert, wie man zum politischen Engagement kommt. Heute unternehmen viele Menschen erst einmal eine touristische Reise nach Lateinamerika, oder ihr Interesse entsteht durch kulturelle Erlebnisse, Tanz, Musik. Aber schließlich landen sie doch bei der Politik. Sehen Sie sich doch die großen Sozialforen in Porto Alegre an, die ihr Echo hier in der Schweiz mit den Gegenveranstaltungen zu den Wirtschaftsgipfeln des World Economic Forum in Davos finden. Da findet eine ganz beachtliche Politisierung statt. Heute ist das Interesse nicht mehr so stark auf eine konkrete Region konzentriert, zum Beispiel auf Lateinamerika oder ein spezielles Land. Heute besteht eher das Bedürfnis, Hintergrundinformationen zu erhalten, wenn irgendwo ein aktueller Konflikt auftaucht. Wir laden regelmäßig Journalisten ein, die gerade aus Konfliktgebieten zurückkehren. Da kommen dann viele Besucher und wollen mehr wissen als das, was sie aus Fernseh- oder Rundfunksendungen erfahren. Und dann denke ich gern von der Wirkung her, die eine Veranstaltung bei uns hat. Bei den angesprochenen Diskussionsrunden zur Asylproblematik etwa, da waren es nicht 200, sondern rund 60 Personen. Aber die Wirkung war die Gründung eines Komitees, das zu den Abstimmungen im September aktiv wird. So etwas ist wichtiger, als dass das Haus prall gefüllt ist.

Inwiefern sind Sie institutionell in der Lage, Dinge zu bewegen – einmal abgesehen von den Aktivitäten, die hier im Haus laufen? Kooperieren Sie mit den Hilfswerken, mit dem Außenministerium?

Die Bethlehem Mission arbeitete beispielsweise bei der letzten Kampagne zur Aidsproblematik im südlichen Afrika mit dem Hilfswerk der evangelischen Kirchen in der Schweiz (Heks) zusammen, damit wir auch ökumenisch auftreten können: Das ist in der Schweiz heute eine politische Voraussetzung, um ernstgenommen zu werden. Wir agieren auch sonst in einem größeren Umfeld, haben enge Verbindungen zum Fastenopfer, zur Caritas, zur Erklärung von Bern. Wir fragen immer wieder, was können wir hier in der Schweiz tun, und welche Themen sollen wir aufgreifen. Nur wenn man sich zusammentut, kann man etwas bewirken.

KASTEN:
12.-14. Mai – Veranstaltungswochenende zum Jubiläum

Freitag, 12. Mai: Lateinamerika:
*Gespräche u.a mit Franz Hinkelammert Ökonom/Costa Rica; den BefreiungstheologInnen Christiane E. Blank und Renold J. Blank, Schweiz/Brasilien; Irene Rodríguez, Argentinien/Schweiz und der grünen Sozialstadträtin Monika Stocker * Lesung mit Eveline Hasler, „Paradies im Kopf – Destination Ibicaba” * Musik von Nelson Rojas/Bulenga, Venezuela und Chico César, Brasilien
Information: www.romerohaus.ch
Ort: RomeroHaus, Kreuzbuchstrasse 44, 6006 Luzern, Fon: 0041-41/3757272 * Tageskarte 40 Fr., Dreitageskarte 120 Fr., unter 16 Jahre gratis

Angst vor den Roten

Frau Zehnder, wie haben Sie den Putsch vom 11. September 1973 in Chile erlebt?

Ich wohnte damals in Santiago. Meine Tochter war gerade sechs Wochen alt und ich war im Mutterschutz. Da ich eigentlich als Buchhalterin arbeitete, verdiente ich einigermaßen und hatte mir ein kleines Haus mieten können. Dort bot ich immer ein paar Leuten ein Quartier an, die als politische Flüchtlinge aus anderen Ländern kamen, vor allem Bolivianern und Argentiniern.
In den Tagen vor dem Putsch gab es in Santiago viele Attentate, mit denen die Militärs die Stimmung aufheizten. Sie schoben die Morde zwar den Kommunisten in die Schuhe, aber eigentlich waren sie selbst die Urheber. Jeden Tag, jede Nacht hörten wir Explosionen. Aber am 10. September war es ganz still. Da sagten die Bolivianer: Morgen früh gibt es einen Militärputsch. Sie kannten sich aus, sie hatten das schon ein paar Mal erlebt.

Wurden Sie in den Tagen danach verfolgt?

Alle Flüchtlinge aus meinem Haus, das waren ungefähr zehn, wurden abgeholt und ins Nationalstadion gebracht. Die Angst war groß, was mit ihnen passieren würde. Es wurden so viele umgebracht in den ersten Tagen, und die Lastwagen, die aus dem Nationalstadion kamen, waren voller Leichen. Aber die Leute aus meinem Haus haben alle überlebt.

Was ist Ihnen selbst passiert?

Ich konnte mich zunächst noch einigermaßen frei bewegen und habe mich auf die Suche nach den Verhafteten gemacht. Im Laufe der Zeit wurde es aber auch für mich eng. Ich wurde einmal verhört, musste untertauchen und kam schließlich in einem Flüchtlingslager des UNHCR [Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, Anm.d.R.] unter. Dort begann für mich eine Zeit, in der ich mich völlig leer fühlte, nur meine Tochter beschäftigte mich. Einmal kamen vier Frauen, die wollten etwas von mir wissen. Aber ich wollte überhaupt nichts erzählen, nur schlafen, mich um meine Tochter kümmern, nichts weiter. Ich lebte dort, aber es war, als ob ich gar nicht richtig lebte. Das dauerte rund 20 Tage, bis Anfang November. Als wir hier ankamen, schneite es schon.

Im November 1973 kamen Sie in die Schweiz?

Ja, aber das hatte ich nie gewollt. Nicht in die Schweiz! Das waren ja die Kapitalisten. Ich hatte gehofft, ich käme entweder nach Holland oder nach Schweden, diese beiden Länder waren besonders aktiv in ihrem Einsatz für Verfolgte. Aber mich haben die Schweizer mitgenommen. Alle Länder, die aufnahmebereit waren, schickten ihre Beamten in das Flüchtlingslager. Dort brachten sie uns in einen Raum, wir stellten uns in einer Reihe auf und dann wählten sie aus. Sie schauten, ob wir jung oder alt waren, ob wir bei guter Gesundheit waren, fragten, ob wir ausgebildet waren oder nicht, ob wir studiert hatten.

Und was wurde aus denen, die nicht gesund und jung und gebildet waren?

Die blieben dort! Wir erfuhren überhaupt nicht, um welche Länder es ging. Man sagte uns, morgen früh kommt ein Bus der UNO. Dann wurden wir zum Flughafen gebracht und waren gespannt, wer uns dort in Empfang nehmen würde. Wir sahen, dass es ein Schweizer Flugzeug war, und erfuhren so, wohin es ging. In diesen Stunden habe ich mich etwas gefühlt wie ein Tier auf dem Markt, so wie sie uns von der einen Seite und von der anderen beschaut haben. Aber gut, es ging um unser Leben! Wir haben uns nicht beschwert, dass man uns so behandelte. Wir hatten immer noch Angst, auch dort in dem Flüchtlingslager. Ich glaube, das war eine der wenigen Situationen in meinem Leben, in denen ich mich nicht gewehrt habe. Obwohl es viel Grund dazu gegeben hätte.

Wie sind Sie in der Schweiz empfangen worden?

Uns war kalt, und wir sind alle erst einmal krank geworden (sie lacht). Untergebracht wurden wir in einem Hotel in Pully bei Lausanne, wo wir anderthalb Monate blieben. In den ersten Wochen durften wir das Haus nicht verlassen. Ich erinnere mich, dass da alte Spanier kamen, die den Bürgerkrieg mitgemacht hatten und in der Schweiz lebten. Sie interessierten sich nun für uns und unsere Geschichte. Die Polizei ließ sie in den ersten Wochen nicht zu uns, wir wurden isoliert. Die Angst vor uns Roten war einfach riesig.
Über Weihnachten 1973 waren wir bei einem Kinderarzt in Genf. Es hatte nämlich eine Kampagne gegeben, dass Familien über Weihnachten Flüchtlinge aufnehmen sollten. Das war wunderbar. Er konnte Spanisch, und er hat meine Tochter, die eine Mittelohrentzündung bekam, gleich versorgt.

Wie erhielten Sie Ihr Asyl?

Das ging ganz einfach. Ich war unter den 200 Flüchtlingen, die mit dem Kontingent des Schweizer Bundesrates aufgenommen wurden. Wir waren unter den ersten, die aus Chile kamen.

Wenig später kam dann die so genannte Freiplatzaktion [siehe Kasten, Anm.d.R.] zustande. Erinnern Sie sich daran?

Ja, die war sehr wichtig. Dabei machte die Polizei den Flüchtlingen viele Probleme, denn die waren ja quasi illegal ins Land gekommen und baten dann hier um Asyl. Die meisten kamen über italienische Flughäfen und reisten über die Tessiner Grenze ein. Dort wurde streng kontrolliert. Eine schwierige Zeit.

Wie gestaltete sich Ihr Kontakt zu Kollegen, zu Nachbarn?

Zunächst lief das sehr schlecht, ich konnte mich ja überhaupt noch nicht verständlich machen. Französisch lernte ich erst später, dann war es kein Problem mehr. Viele Leute verhielten sich sehr ablehnend. Und wir wurden genau kontrolliert! Unsere Nachbarn wurden aufgefordert, zu melden, was ihnen auffiel – zum Beispiel, ob wir Besuch erhielten. Einmal kam ein Ehepaar zu Besuch, chilenische Flüchtlinge, die in Schweden Asyl erhalten hatten. Nachdem sie zwei Wochen da waren, kam die Polizei und teilte ihnen mit, dass sie am nächsten Tag abreisen müssten.
Auf der anderen Seite gab es auch Menschen, die uns halfen. Das Protestantische Sozialzentrum in Moutier hat uns sehr unterstützt. Sie besorgten uns Flüchtlingen im Ort eine bessere Wohnung, und ich begann dann auch, Kurse zu besuchen. Sie überzeugten mich endlich, dass es gut wäre, etwas für meine Bildung zu tun, die Sprache zu lernen, mich mit meiner neuen Umgebung zu beschäftigen. Das hat lange gedauert.

Warum? Wenn Sie sich bis dahin nicht integrieren wollten – hatten Sie dann den Wunsch, so bald wie möglich nach Chile zurückzukehren?

Nein. Wenn ich zurückgekehrt wäre, wäre ich mit Sicherheit verhaftet worden. Das war keine Perspektive. Ich sah überhaupt keine Perspektive, das war ja das Problem. Denn auch der Aufenthalt in der Schweiz öffnete mir keine Fenster. Zunächst habe ich mich nur in meinen vier Wänden wohl gefühlt, ich wollte sonst vom Land nichts wissen. Ich suchte nichts! Ich hatte Frieden, hatte Ruhe. Es gab dann eine Gruppe von Jugendlichen, die sich um uns kümmerten. Es waren nur ein paar wenige, aber sie kamen immer wieder, setzten sich zu mir an den Tisch, unterhalten konnten wir uns nicht, aber sie kamen wieder. Ich machte ihnen Tee oder Kaffee.

Haben denn die Behörden Versuche unternommen, Sie zu integrieren?

Uns Flüchtlingen wurde nicht klar gemacht, was wir von der Schweiz erwarten konnten und was nicht. Die Lebensumstände hier waren uns überhaupt nicht vertraut. Da gab es so skurrile Szenen wie bei einer Freundin, bei der irgendwann der Mann von den Rundfunkgebühren vor der Tür stand und eine Nachzahlung für die letzten zwei Jahre verlangte. In Chile zahlte man damals überhaupt keine Rundfunkgebühren, jeder hatte so viele Geräte wie er wollte. Sie hat sich furchtbar aufgeregt und ihr Radio zum Fenster hinausgeworfen.
Aber das gilt auch für wichtige Themen. Zum Beispiel hätte man uns klar machen können, dass wir besser leben könnten, wenn wir einen Job haben. Die Abhängigkeiten, sei es von einem Mann, der das Geld verdient, oder von einer Behörde, die einen versorgt, die waren sehr unangenehm in diesem fremden Land. Auch dem Protestantischen Sozialzentrum gegenüber fühlte ich mich etwas unwohl, weil ich von ihnen etwas erhielt, was ich nicht selbst verdient hatte. Erst als ich dann selbst gearbeitet habe, hat sich das langsam geändert.

Haben Sie dann nach Ihren Kursen Arbeit gefunden?

Ich fand hier etwas, in unserem Dorf. Sie fragten zum Glück nicht, woher ich kam. Sie brauchten jemanden, ich brauchte Arbeit, also fing ich an. Bei der ersten Lohnauszahlung wollten sie meine Papiere sehen, und ich zeigte ihnen meinen Flüchtlingspass. Das war eine echte Katastrophe. Ich bin sicher, sie hätten mich nicht dabehalten, wenn sie mich nicht unbedingt gebraucht hätten. Sie hatten vor uns Flüchtlingen aus dem kommunistischen Chile eine riesige Angst – dass wir Gewerkschaften gründen könnten, dass wir die Beschäftigten kommunistisch beeinflussen würden und so weiter. Dass wir unsere Revolution nun hier machen würden, wo sie in Chile gescheitert war.

Dieses Interview ist Teil einer fortlaufenden Reihe, die sich mit der lateinamerikanischen Realität in der Schweiz beschäftigt – sowohl historisch als auch aktuell. Ziel ist es, ein breites Spektrum lateinamerikanisch-schweizerischer Themen zu betrachten und darüber kritisch zu berichten.

KASTEN:
Die Freiplatzaktion

Beim Ungarn-Aufstand 1956 und dem sowjetischen Einmarsch in Prag 1968 war die Schweizer
Exekutive, der Bundesrat, noch umstandslos bereit gewesen, Tausende von Flüchtlingen aufzunehmen. Anders 1973: Die Menschen aus Chile flohen schließlich nicht vor einem kommunistischen Regime, sondern waren selbst Linke. Erst unter massivem Druck sagte der Bundesrat ein Kontingent von 200 Flüchtlingen aus Chile zu, angesichts der Tausenden Verfolgten in Chile ein Hohn. Im Dezember 1973 riefen engagierte Schweizerinnen und Schweizer deshalb alle politischen und kirchlichen Gemeinden auf, je fünf Plätze für politische Flüchtlinge aus Chile zur Verfügung zu stellen. Binnen kürzester Zeit wurden „Freiplätze” für 3000 Flüchtlinge zugesagt, obwohl sich viele Gemeinden verschlossen und sich die großen kirchlichen Hilfswerke querstellten. Die Swissair verweigerte anfangs Flüchtlingen die Beförderung, und der Bundesrat erließ, nachdem die ersten fünf Menschen tatsächlich eingetroffen waren, eine Visumspflicht für Chileninnen und Chilenen. Bis in die achtziger Jahre konnten dennoch rund 2000 Flüchtlinge in die Schweiz gerettet werden – oft unter hohem Einsatz der „Freiplätzler”, die manche Flüchtlinge persönlich aus Chile herausholten.

Nestlé auf die Finger klopfen

Im Februar 2002 kam es in der Nestlé-Milchpulverfabrik CICOLAC in Kolumbien zu einem heftigen Konflikt über den neuen Gesamtarbeitsvertrag. Das Unternehmen in Valledupar, in der nordöstlichen Provinz Cesar gelegen, wollte die in den Arbeitsverträgen festgelegten Rechte massiv beschneiden und den ArbeiterInnen wesentliche Errungenschaften ihrer jahrelangen Arbeitskämpfe wieder entreißen. Nestlé setzte die ArbeiterInnen unter enormen Druck und führte einseitig neue Regeln ein. Während des Konflikts kam es zudem mehrfach zu Drohungen von paramilitärischen Gruppen gegen die GewerkschafterInnen der Lebensmittelindustrie SINALTRAINAL, ohne dass sich Nestlé klar von diesen Drohungen distanziert hätte. Einen geplanten Streik musste die Gewerkschaft im April 2002 aus Sicherheitsgründen abblasen. Am 12. Juli 2002 führte SINALTRAINAL außerhalb des Fabrikgeländes eine Protestversammlung durch, die vom Arbeitsministerium nachträglich als illegale Arbeitsniederlegung beurteilt wurde. Sich darauf berufend, entließ Nestlé neun ArbeiterInnen, darunter sechs Vorstandsmitglieder der Gewerkschaft. Diese neun Personen waren jedoch willkürlich ausgewählt worden und arbeiteten nicht in demjenigen Fabrikteil, in welchem die Arbeitsniederlegung angeblich stattgefunden haben soll. Zudem missachtete das Unternehmen verschiedene Artikel des kolumbianischen Arbeitsgesetzes.
Ein loser Zusammenschluss verschiedener Organisationen, darunter Attac Bern, die Gewerkschaft Bau und Industrie Bern, die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien, der Solifonds und das SchülerInnenkollektiv CAKE, begann daraufhin, die Entwicklung dieses Konflikts bei der Nestlé-Tochterfirma zu beobachten. Das Bündnis organisierte eine Menschenrechtskampagne, um Druck auf den Schweizer Multi auszuüben, damit er seine fragwürdige Personalpolitik ändere. Verschiedene Organisationen bemühten sich, VertreterInnen von SINALTRAINAL Gespräche am Nestlé-Hauptsitz im westschweizerischen Vevey zu ermöglichen. Nestlé lehnte jedoch sämtliche Gesprächsangebote ab, woraufhin SINALTRAINAL auf dem Europäischen Sozialforum 2003 eine internationale Kampagne ankündigte. Im Rahmen dieser Kampagne sollten auch öffentliche Anhörungen über Vorfälle bei Nestlé-Niederlassungen in Kolumbien durchgeführt werden. Zu diesem Zweck gründete sich im März 2005 in der Schweiz die Organisation MultiWatch.
Der Verein MultiWatch ist ein sehr breites Bündnis, in der verschiedenste Organisationen aus unterschiedlichen Beweggründen mitarbeiten. So liegt kirchlichen Gruppen insbesondere die Wasserproblematik am Herzen, während Entwicklungsorganisationen die negative Rolle Nestlés in der globalisierten Landwirtschaft hervorheben. Für Gewerkschaften stehen Arbeitsrechte sowie die durch den kolumbianischen Staat nicht gewährleistete Versammlungs- und Organisationsfreiheit im Vordergrund. In den Statuten von MultiWatch heißt es: „Der Zweck des Vereins besteht darin, auf die Verletzung von Menschenrechten durch multinationale Konzerne aufmerksam zu machen und auf verbindliche Menschenrechtsnormen für Konzerne hinzuwirken. Dies soll erreicht werden durch gezielte Aktionen und Kampagnen zur Information der Öffentlichkeit.“
In einem Land wie Kolumbien, wo der Rechtsstaat und die zivilgesellschaftliche Kontrolle sehr schwach sind, die Menschenrechte der Bevölkerung mit Füßen getreten werden und ein komplexer bewaffneter Konflikt herrscht, ist es besonders wichtig, die Praktiken multinationaler Unternehmen genau unter die Lupe zu nehmen.

Multis als Konfliktakteur

Multinationale Konzerne sind in Kolumbien ein wesentlicher Konfliktakteur und tragen eine Mitverantwortung bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Die Schweizer Wirtschaft hat in Kolumbien trotz Bürgerkrieg und Rechtsunsicherheit massive Investitionen getätigt. Die nationale Gesetzgebung (Arbeits- und Gewerkschaftsrechte) und international geltende Sozial- und Umweltstandards werden nur ungenügend beachtet.
Um auf das Verhalten von Nestlé in Kolumbien öffentlich verstärkt aufmerksam zu machen, veranstaltete MultiWatch Ende Oktober 2005 in Bern eine öffentliche Anhörung. Verknüpft wurde die Anhörung mit einem Internationalen Forum über Nestlé. 200 Personen informierten sich an diesen beiden Tagen aus erster Hand über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten, über Wasserprivatisierungen, den negativen Einfluss von Nahrungsmittel-Multis auf die lokale Landwirtschaft sowie über die Entwicklung internationaler Menschenrechtsnormen für Unternehmen in Kolumbien.
Nicht zuletzt leistet MultiWatch einen Beitrag zu einer kohärenteren Schweizer Außenpolitik. Der Widerspruch, dass Hilfswerke und einige Schweizer Regierungsstellen in Kolumbien Programme zur Friedensförderung und zur Überwindung der sozialen Gegensätze fördern, während Schweizer Unternehmen durch ihre Geschäftstätigkeiten Konflikte und soziale Ungleichheit fördern, ist unübersehbar.

Keine argumentative Stellungnahme

Die öffentliche Anhörung zu dem Geschäftsgebaren von Nestlé war die erste ihrer Art in der Schweiz. Von der Form her entspricht dieses Instrument alternativer Rechtsprechung den so genannten Meinungstribunalen. Obwohl im Unterschied zu einem Meinungstribunal die Anklage im Fall Nestlé keine rein juristische Grundlage hatten und auch ethisch-moralische Kriterien einflossen, wurde mit dieser Anhörung in der Schweiz eine Pionierleistung erbracht.
SINALTRAINAL hatte vier Fälle aufgearbeitet – darunter der eingangs erwähnte Arbeitskonflikt bei CICOLAC –, diese umfassend mit Beweismitteln dokumentiert und Anklageschriften verfasst. Aus Kolumbien kamen vier ZeugInnen sowie der Ankläger zur Anhörung angereist. Einem Rat von fünf gesellschaftlichen Persönlichkeiten – Carlo Sommaruga, Rudolf Schaller, Carola Meier-Seethaler, Dom Tomas Balduino und Anne-Catherine Menétrey-Savary – oblag die Beurteilung der Fälle. Bei der Anhörung selbst wurden die ZeugInnen, ExpertInnen sowie der Ankläger durch den Rat befragt.
Nestlé hatte die offizielle Einladung von MultiWatch, an der Anhörung teilzunehmen, abgelehnt, um sich zu verteidigen, und reagierte sichtlich irritiert. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 20. Oktober hielt Nestlé fest, dass es sich bei diesem „symbolischen Tribunal“ um einen „selbsternannten Volksgerichtshof“ und um eine „Perversion jeglichen rechtlichen Denkens“ handele. Der Konzern bezeichnete die gegen ihn gerichteten Vorwürfe als „abstrus“ und „teilweise verleumderisch“, die zudem nicht neu seien. Es seien zum Teil „bewusste Unwahrheiten“, welche auf einer „Fehlinterpretation der gesetzlichen Grundlagen“ oder auf „unvollständigen Informationen“ beruhten.
Der Rat bedauerte das Fernbleiben von Nestlé, berücksichtigte aber die Argumente aus Nestlés Stellungnahme bei der Zeugenbefragung.

Am liebsten ohne Gewerkschaften

In seiner Schlusserklärung hob der Rat die gute Vorbereitung der Anhörung sowie die Qualität der Dossiers hervor. Er hielt fest, dass die von der Anklage vorgebrachten Argumente viel überzeugender seien und die Ausführungen wesentlich weiter gingen als die summarischen Rechtfertigungen des Konzerns. Nestlé wurde vom Rat als Unternehmen bezeichnet, das Importe und Exporte ausschließlich auf Profite ausrichtet, ohne auf die Bedürfnisse des Landes Rücksicht zu nehmen. Die Konzernpolitik zeichne sich durch den klaren Willen aus, Gewerkschaftsarbeit zu verhindern. In Bezug auf die von Paramilitärs begangenen Morde an GewerkschafterInnen, die in der Regel während Arbeitskonflikten verübt wurden, hielt der Rat fest, dass Nestlé zwar nicht direkt verantwortlich gemacht werden könne, aber die angewandten Einschüchterungs- und Erpressungsmethoden eine indirekte Verantwortung mit sich brächten. Nestlé habe weder etwas unternommen, um die Schuldigen einer Verurteilung zuzuführen, noch um seine Angestellten zu beschützen. Der Rat kam zu dem Schluss, dass Nestlé sich Unterlassungen zu Schulden kommen ließ und somit indirekt verantwortlich gemacht werden könne.
In Bezug auf die gewerkschaftsfeindliche Politik und die Entlassung von neun GewerkschafterInnen im Herbst 2002 resümierte der Rat, dass Nestlé dabei weder die nationale Gesetzgebung noch die internationalen Konventionen respektiert habe. Er verurteilte das Vorgehen von Nestlé in Kolumbien als unannehmbar für ein Unternehmen, das sich seines guten Rufes und des Vertrauens seiner Kunden rühme. In der Schweiz und auf internationaler Ebene sollten Maßnahmen getroffen werden, um Nestlé dazu zu verpflichten, die in den internationalen Konventionen und in der kolumbianischen Verfassung vorgesehenen Gewerkschaftsrechte zu respektieren. Die Schweizer Regierung wurde aufgefordert, ihre Außenwirtschaftspolitik in Bezug auf die Respektierung der Menschenrechte kohärenter zu gestalten.

Der Autor vertritt die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien bei MultiWatch. Für weitere Informationen: www.multiwatch.ch

Die Schweiz und die Sklaverei

In meinem Buch „Reise in Schwarz-Weiß. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei“ habe ich versucht, die schweizerische Beteiligung am Menschheitsverbrechen Sklaverei, wie es seit der UNO-Konferenz von Durban definiert ist, für ein breites Publikum darzustellen. Dabei habe ich mich auf zahlreiche ältere historische Arbeiten und Aufsätze stützen können, welche den Fokus jeweils auf andere Aspekte gerichtet hatten: Familiengeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Auswanderungsgeschichte, Fremde Dienste. Als ich im Rahmen meiner Arbeit an einem Kabarettprogramm über den haitianischen Revolutionär und Sklavenbefreier Toussaint Louverture mehr oder weniger zufällig in einer Fußnote im Standardwerk La banque protestante en France (1959) des großen Schweizer Historikers Herbert Lüthy auf den Hinweis stieß, dass Familien aus meiner Heimatstadt St. Gallen in der holländischen Sklavenkolonie Berbice (heute Guyana) Mitte des 18. Jahrhunderts die Plantage „L’Helvétie“ besessen hatten, passte das ganz und gar nicht in mein Weltbild.
Wie viele SchweizerInnen (und wie sogar zahlreiche kritische HistorikerInnen) war ich davon ausgegangen, dass die Schweiz zwar von Geschäftsbeziehungen mit Nazideutschland und mit dem südafrikanischen Apartheidregime profitiert hatte, nicht aber von der Sklaverei. Doch da stand schwarz auf vergilbtem Papier diese Besitzänderungsurkunde und lieferte in der sachlich-kalten Aufzählung der involvierten „Güter“ gerade noch eine eindrückliche Definition dessen, was Sklaverei bedeutet:„17. November 1740, Abtretung durch Salomé Rietmann, Witwe des Daniel Hogguer […], ihres Anteils der Plantage ‘L’Helvétie’, in Berbice, ‘welche aufgeteilt war zwischen dem genannten Jean-Barthélémy Rietmann sel. […] und den Gebrüdern Sellonf von St. Gallen, mit allem Grund und Boden, Kulturpflanzen, Sklaven, beweglichen Gütern, Gerätschaften, Tieren, etc.’“
Der Berner Historiker, Seminarlehrer und Afrikakenner Daniel V. Moser wusste längst mehr: 1997 publizierte er in der Schweizerischen Lehrerinnen- und Lehrerzeitung einen Artikel, der kaum Beachtung fand, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er zu einer Zeit erschien, als die innenpolitische Debatte um die nachrichtenlosen jüdischen Konten auf Schweizer Banken und damit um die Weltkriegsvergangenheit unseres Landes ihren Höhepunkt erreicht hatte. Moser führte in seinem unscheinbaren Text nicht nur die wesentlichen Arten der Schweizer Beteiligung an der Sklaverei auf, sondern stellte sie auch in den aktuellen Kontext der internationalen Debatte um Wiedergutmachung. Fünf Jahre vor der Rassismus-Konferenz von Durban und sieben Jahre vor der Veröffentlichung des aufrüttelnden Buches der schwarzen, indigenen Kolumbianerin Rosa Amelia Plumelle-Uribe Weiße Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis (2004) formulierte der weiße, schweizerische Berner Seminarlehrer: „Die Gefangenenverliese in den Festungen an der westafrikanischen Küste erinnern in ähnlicher Weise wie die Überreste von Auschwitz an Verbrechen gegen die Menschheit; die Sklavenarbeit auf den Zuckerplantagen der ‘Neuen Welt’ ist vergleichbar mit der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge.“
Ich denke, dass der Wegfall der Denkblockaden des Kalten Krieges, der Druck der afrikanischen, amerikanischen und karibischen Nichtregierungsorganisationen im Umfeld der Konferenz von Durban sowie die Weiterentwicklung des internationalen Rechts bezüglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit (von Nürnberg über Jugoslawien bis Ruanda) und bezüglich Wiedergutmachung und Entschädigung (Schweizer Bankenvergleich, Apartheidklagen) schließlich um das Jahr 2000 dazu geführt haben, dass bei verschiedenen Schweizer HistorikerInnen die verstreuten Akten, Arbeiten und Hinweise auf eine „Swiss Slavery Connection“ gewissermaßen die kritische Masse erreichten.
Die Schweiz, soviel ist heute klar, profitierte im 18. und 19. Jahrhundert von allen möglichen Arten von Sklavereigeschäften: Schweizer Kaufleute lieferten die begehrten „Indiennes-Stoffe“, welche in Westafrika gegen Sklavinnen und Sklaven eingetauscht wurden, sie beteiligten sich finanziell an Dreieckshandelsexpeditionen, welche SklavInnen in die Neue Welt verschifften, sie besaßen in Westindien und Südamerika Plantagen samt den versklavten Arbeitskräften, und sie handelten mit den klassischen Sklavereiprodukten Baumwolle, Zucker, Kaffee, Tabak, Kakao und dem Textilfärbemittel Indigo. Dazu kam ein beträchtlicher Schweizer Beitrag zur militärischen Absicherung der Sklaverei: Schweizer Soldaten standen vom Indischen Ozean über die Kapkolonie bis in die Karibik im Dienste der großen Kolonialmächte und halfen mit, Sklavenaufstände zu bekämpfen. Noch heute lässt sich der Wohlstand, der im 18. Jahrhundert aus dem „schwarzen Atlantik“ in die Schweiz zurückfloss, an Palästen und Herrschaftshäusern im Appenzellerland, in Basel oder in Neuenburg ablesen.

Argumentationshilfe für die Sklaverei

Ein bisher wenig beachteter Schweizer Beitrag zur Sklaverei ist schließlich der ideologische. Im 19. Jahrhundert, das heißt also bereits nach der Abschaffung des Sklavenhandels durch England (1807) und nach der internationalen Ächtung des Sklavenhandels durch den Wiener Kongress (1815), traten Schweizer Wissenschaftler, Philosophen und Reiseschriftsteller als Befürworter der Sklaverei oder als Propagandisten von rassistischen Gesellschaftstheorien auf und trugen damit zur Verlängerung eines Menschheitsverbrechens bei, welches ja erst durch das Sklavereiverbot durch die USA (1865), Kuba (1886) und Brasilien (1888) aus der atlantischen Welt verschwand.
Zu nennen sind hier der Berner Gelehrte mit gesamteuropäischer Bedeutung Carl Ludwig von Haller, welcher 1818 in seiner Epoche machenden Restauration der Staatswissenschaften die Sklaverei als vernünftig und im Interesse der versklavten Menschen selbst liegend definierte. Noch mehr internationales Renommé hatte der Naturforscher Louis Agassiz, welcher in den USA nach 1846 zu einem überzeugten Verfechter der These wurde, die Schwarzen gehörten nicht der Menschheit an und seien von geringerer Intelligenz als die Weißen. In die gleiche Richtung gingen 1863 die Vorlesungen des in Genf eingebürgerten Deutschen Carl Vogt. Seine rassistischen Theorien standen seiner Karriere jedoch nicht im Wege: Er wurde erster Rektor der Universität Genf sowie Schweizer National- und Ständerat.
Der Westschweizer Historiker Bouda Etemad hat in La Suisse et l’esclavage des noirs (2005) versucht, die Schweizer Beteiligung am Menschheitsverbrechen der Sklaverei zu quantifizieren. Er kommt in seiner Schätzung auf eine Zahl von über 172 000 Sklavinnen und Sklaven, das heißt 1,5 Prozent der transatlantischen Gesamtzahl, die durch Schweizer Investitionen in die wichtigsten Kolonialgesellschaften deportiert wurden. Meine eigene Schätzung bezüglich Schweizer Plantagenbesitz geht von einer durchschnittlichen Lebensdauer der auf Plantagen Arbeitenden von 10 Jahren, einer Plantagengröße von 100 versklavten Arbeitskräften und von einer Haltedauer von 30 Jahren aus. Für grob geschätzte 50 Schweizer Plantagen in Südamerika, der Karibik, in Nordamerika und Südafrika ergäbe das rund eine halbe Million versklavte Frau- und Mannjahre. Dazu wären noch die Sklavinnen und Sklaven zu addieren, welche in Schweizer Haushalten und Fabriken arbeiteten. Ich vermute, dass dies – gemessen am Gesamtvolumen der in der Sklavereiwirtschaft der Neuen Welt geleisteten menschlichen Arbeitsjahre – wiederum einen Prozentsatz im unteren einstelligen Bereich ergäbe, was vermutlich auch für die Beteiligung an militärischen Operationen gilt.
Sind 1,5 oder 2 Prozent Schweizer Anteil viel oder wenig? Es kommt auf den Bezugsrahmen an. Gemessen an der bisherigen Annahme von Null Prozent ist es unendlich viel, gemessen an den großen Kolonialmächten und Sklavereinationen England, Frankreich oder Portugal sehr bescheiden. Rechnet man es wiederum auf einen Pro-Kopf-Anteil um, so liegt die Schweiz wahrscheinlich im europäischen Durchschnitt, und argumentiert man zum Schluss noch mit großen Humanisten wie Alexander von Humboldt oder Victor Schoelcher, so ist jeder einzelne Sklave eine Beleidigung für die ganze Menschheit und ein Skandal.
Hans Fässler

Der Autor ist Kabarettist und Mittelschullehrer im Kanton Appenzell-Ausserrhoden. Im Oktober 2005 erschien sein Buch „Reise in Schwarz-Weiß. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei“ im Rotpunktverlag Zürich.
www.louverture.ch

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Lateinamerika und die Schweiz – eine Artikelserie

Die Lateinamerika Nachrichten bringen nicht einfach nur Nachrichten aus Lateinamerika. Die Ausstrahlung Lateinamerikas ist uns schon manche Seite wert gewesen. Solidaritätsbewegung, Strafprozesse, politische Initiativen, kultureller Austausch, Wirtschaftsbeziehungen, Entwicklungspolitik – Themen wie diese haben ihren festen Platz in den LN.
Die vielfältigen Beziehungen Lateinamerikas zu politisch interessierten und engagierten Menschen im deutschen Sprachraum sind geradezu der Urknall und Anfang dieser Zeitschrift gewesen: Deutschsprachige Chile-Interessierte schufen sich im Sommer 1973 ein Informations- und Austauschmedium. Lateinamerika war und ist auch heute kein fernes Objekt, sondern Teil unserer Realität.
Und warum ist dann so selten etwas über lateinamerikanische Realität in der Schweiz zu lesen? Diese Lücke wollen wir füllen. In der Artikelserie, die wir mit dieser Ausgabe starten, wird ein breites Spektrum lateinamerikanisch-schweizerischer Themen zur Sprache kommen. Dass wir historisch beginnen, soll nicht über die Aktualität hinwegtäuschen: Zwar liegt das Schweizer Engagement im Sklavenhandel, über das Hans Fässler berichtet, einige Zeit zurück. Aber erst jetzt gerät es ins Blickfeld einer Öffentlichkeit, die bis vor wenigen Jahren noch von der puren Friedlichkeit und Humanität der Schweizer Außenpolitik überzeugt war, nun aber binnen weniger Jahre ein drittes dunkles Kapitel zur Kenntnis zu nehmen hat. Uns interessiert die Vielfalt der Themen und Aspekte. Wie sind Chile-Flüchtlinge 1973 in der Schweiz aufgenommen worden, und wie leben sie heute? Wo steht die Schweizer Entwicklungspolitik? Wer verlegt in Zürich & Co. lateinamerikanische Literatur, und wer macht all die spannenden Dokumentarfilme?
Übrigens: Ein Blick in die Untiefen der LN-Aboverwaltung förderte in Sachen Schweiz kürzlich Zahlen zutage, die – wie heißt es so schön – nach oben noch Luft lassen. Viele, die die LN vielleicht gerne abonieren würden, kennen sie noch gar nicht. Wir hoffen, mit dieser besonderen Artikelserie euer Interesse zu wecken.

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