// Ausnahmezustand als neue Norm

Erst Anfang Mai hat Ecuadors Präsident Daniel Noboa als Antwort auf die herrschende Gewaltkrise im Land einen neuen Ausnahmezustand in mehreren Provinzen erklärt. Auch in Haiti, Argentinien, Honduras und Chile gelten unter Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur derzeit Notstandsregelungen, zumindest in Landesteilen. Unrühmlicher Vorreiter dieser neuen Welle von Ausnahmezuständen in Lateinamerika ist der salvadorianische Präsident Nayib Bukele.

Es begann Ende März 2022 mit dem blutigsten Wochenende, das es in El Salvador je zu Friedenszeiten gegeben hat: In nur drei Tagen ermordeten Gangmitglieder mindestens 87 Menschen. Daraufhin ersuchte Präsident Bukele den von seiner Partei Nuevas Ideas kontrollierten Kongress um die Verhängung extremer Maßnahmen, die laut Verfassung lediglich für Fälle von Krieg, Katastrophen und schweren Störungen der öffentlichen Ordnung vorgesehen sind. Der Ausnahmezustand sollte eigentlich nur für dreißig Tage gelten, ist jetzt aber bereits seit über zwei Jahren in Kraft. Bukeles Massengefängnisse sind inzwischen weltweit bekannt. Seit 2022 haben die staatlichen Sicherheitskräfte nach offiziellen Angaben über 75.000 Menschen verhaftet. Mindestens 239 Menschen sind in den überfüllten Gefängnissen gestorben, viele davon ohne jemals vor Gericht gestellt worden zu sein und mit klaren Folterspuren am Körper.

Während ein großer Teil der Bevölkerung Bukele als starken Mann und autoritären Anführer feiert, vermarktet sein Kommunikationsteam den Rückgang der Kriminalität weltweit als „Modell Bukele“. In Ecuador bereits mit Erfolg – weitere Länder könnten nachziehen. Die Folgen einer „Bukele-Welle“ wären fatal, denn Ausnahmezustände sind für punktuelle Krisenüberwindung gedacht. Wenn jedoch ein nicht enden wollender Ausnahmezustand wie in El Salvador von einer autoritären Regierung zur Sicherung und Ausweitung ihrer Macht eingesetzt wird, sind die Folgen für die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte der Bürger*innen gravierend.

An dieser Entwicklung ist der Wirtschaftsimperialismus Deutschlands und anderer Länder des globalen Nordens mitverantwortlich: Er befördert die weltweite Durchsetzung kapitalistischer, neoliberaler Strukturen durch Freihandelsabkommen und die Stabilisierung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells. Europäische, transnationale Unternehmen setzen ihre Marktmacht hier wie dort ein, um Druck auszuüben und auf Politik in ihrem Interesse hinzuwirken. So wird die in Lateinamerika ohnehin hohe Ungleichheit weiter verstärkt, die folgende Chancenlosigkeit führt zu mehr Kriminalität und entsprechenden Sicherheitsproblemen. Diese dienen dann als Rechtfertigung für den Ausnahmezustand, den autoritäre Regierungen wiederum als Vorwand nutzen, um weitere neoliberale und antidemokratische Reformen voranzutreiben – eine verhängnisvolle Abwärtsspirale.

Beim Thema Ausnahmezustand sollten auch hierzulande Alarmglocken klingeln: Auch in Deutschland wurde in den 1930er Jahren schon einmal durch einen permanenten Ausnahmezustand eine Demokratie abgeschafft. Heute werden Demokratien in ganz Europa immer fragiler, rechtspopulistische und faschistische Parteien vernetzen sich weltweit – darunter die AfD. Sie wollen demokratische Institutionen aushöhlen und autoritäre Regime errichten. Die Linke ist dem gegenüber gefragt, sich selbst stärker zu vernetzen und alternative Strategien gegen die Ursprünge der eskalierenden Gewalt anzubieten. Die wenigen Gemeinden El Salvadors, in denen Ganggewalt konsequent abgewehrt werden konnte, weisen einen besonders ausgeprägten sozialen Zusammenhalt auf. Neben dem grundlegenden Kampf gegen Ungleichheit muss also ein weiterer Fokus darauf liegen, soziale Strukturen zu stärken.

Bestandsaufnahme eines lebenden Toten

Ecuador scheint in eine Sackgasse geraten zu sein. Wir Ecuatorianer*innen haben uns daran gewöhnt, inmitten eines großen Korruptionsgebirges zu leben, das verhindert, dass die Sonnenstrahlen der Demokratie hindurchscheinen können. Die Korruption ist allgegenwärtig und erscheint uns inzwischen als „Normalität“. In den Nachrichten, die uns täglich neue Skandale präsentieren, wird das besonders deutlich: Bestechung, überhöhte Preise, Veruntreuungen von Geldern sowie die Aufteilung von Ministerien und Krankenhäusern.

In den letzten sechs Monaten ist in Ecuador sehr viel passiert: Gewaltwellen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, illegaler Bergbau, Stromausfälle, ein Referendum, die Kürzung des Gesundheits- und Bildungsbudgets sowie diplomatische Konflikte wie etwa die Stürmung der mexikanischen Botschaft in Quito. Seit mehr als zehn Jahren hat es in Ecuador keinen Fortschritt gegeben. Im Gegenteil, wir haben einen wirtschaftlichen, arbeitsrechtlichen, sozialen und politischen Rückschritt erlebt. Unsere „neue Normalität“ ist dieser Rückschritt bei unseren Rechten.

Seit dem Amtsantritt Ende November 2023 des derzeitigen Präsidenten Ecuadors, Daniel Noboa, stand Ecuador mehrfach im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Im Wesentlichen sind es jedoch drei Ereignisse, die für die soziopolitische Entwicklung des Landes von entscheidender Bedeutung sein könnten: die Welle der Gewalt, die Stürmung der mexikanischen Botschaft und das kürzlich durchgeführte Verfassungsreferendum zur Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen. Die Sicherheit ist aktuell das beherrschende Thema im Land. Ecuador hat sich zu einem der gewalttätigsten Länder der Region entwickelt. Im Jahr 2023 gab es 40 Morde pro 100.000 Einwohner*in. In der jüngsten öffentlichen Erklärung der ecuadorianischen Innenministerin Mónica Palencia heißt es dazu: „Die Sicherheitslage (im Jahr 2024, Anm. d. Übers.) hat sich so sehr verbessert, dass wir in der vergangenen Woche (vom 15. zum 21. April) nur 99 Tote zu beklagen hatten.“ Beunruhigend an dieser Aussage ist ihre Überzeugung, dass der „Plan Fénix“ des Präsidenten Wirkung zeigt.

Am 22. April wurden zwei zerstückelte Leichen in einem Auto nördlich von Quito gefunden. Die ecuadorianische Generalstaatsanwältin Diana Salazar untersucht einen Zusammenhang mit Morddrohungen gegen sich, denen sie sich immer wieder ausgesetzt sieht. In Verbindung damit könnte stehen, dass in den frühen Morgen­stunden desselben Tages bekannt wurde, dass Colón Pico, alias „Captain Pico“, festgenommen und den Behörden übergeben worden war. Der Anführer der kriminellen Lobos-Bande war am 8. Januar, ein Tag bevor Präsident Daniel Noboa den „internen bewaffneten Konflikt“ ausrief, aus dem Gefängnis von Riobamba geflohen.

Diana Salazar steht im Zentrum der Auseinandersetzung, weil sie für eine Untersuchung namens „Metastasis“ verantwortlich ist. Diese wurde nach dem Tod des mächtigen Drogenbosses Leandro Norero im Oktober 2022 eingeleitet. Dabei handelt es sich um eine umfassende Untersuchung über geheime Absprachen zwischen Drogenhändler*innen und Regierungsbeamt*innen. Diese hat, so die Generalstaatsanwältin, ein Korruptionsnetzwerk aufgedeckt, das aus Richter*innen, Politiker*innen, Polizist*innen, Militärs und Mafiabossen besteht. Der ecuadorianische Staat steckt also tief im Sumpf der Korruption.

Doch damit nicht genug: Inmitten der gewalttätigen Welle von Morden, Entführungen und Verschwindenlassen in Ecuador, die kein Ende zu nehmen scheint, kam der Präsident auf die Idee, zusätzlich noch einen internationalen Konflikt anzuzetteln.


Polizei erhält den Befehl, die mexikanische Botschaft zu stürmen

Bei einer Pressekonferenz am 4. April gab der derzeitige Präsident Mexikos, Manuel López Obrador, seinen Landsleuten ein Beispiel dafür, wie Berichterstattung eigentlich nicht gehandhabt werden sollte, indem er eine Geschichte aufbauschte und vereinfachte. Er sprach über die Ermordung des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio während des vergangenen Wahlkampfs in Ecuador. „Die Wahlen in Ecuador verliefen auf sehr seltsame Weise. Die Kandidatin der progressiven Kräfte hatte einen Vorsprung von etwa zehn Prozentpunkten. Dann wurde plötzlich ein Kandidat (Fernando Villavicencio) ermordet, der sich negativ über die führende Kandidatin geäußert hatte. Und diese (Luisa González, die Kandidatin des Correismo), fällt in den Umfragen. Und der Kandidat, der in den Umfragen an zweiter Stelle lag (Daniel Noboa), steigt auf, aber die Kandidatin, die nach diesem Mord verdächtigt wird, setzt ihren Wahlkampf unter, wie ich meine, sehr schwierigen Umständen fort.“ Der ecuadorianische Präsident reagierte prompt auf Lopez Obradors Äußerungen. Er erklärte die mexikanische Botschafterin in Ecuador, Raquel Serur, zur Persona non grata und gab ihr 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

In der Nacht des 5. April kam es dann vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zu einem in der Geschichte der Region beispiellosen Ereignis. Daniel Noboa gab der Polizei den Befehl, die mexikanische Botschaft zu stürmen, um Jorge Glas festzunehmen. Glas hatte sich seit Dezember 2023 in der mexikanischen Botschaft aufgehalten und Asyl beantragt. Ihm wird Veruntreuung von Geldern während seiner Amtszeit als Vizepräsident von 2013 bis 2017 vorgeworfen. Dafür wurde er zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Nach vier Jahren Haft war Glas im November 2022 vorzeitig gegen Auflagen freigelassen worden.

Bei der Festnahme von Glas handelt es sich um einen klaren Verstoß gegen das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen, das Ecuador unterzeichnet hat. Die Regierungschefs mehrerer Länder verurteilten den Sturm auf die Botschaft. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) veröffentlichte ein Statement. Zahlreiche internationale politische Organisationen und Persönlichkeiten fordern Sanktionen gegen Ecuador. Ein Präzedenzfall soll vermieden werden, denn er könnte schwerwiegende Folgen auf regionaler Ebene haben. Nicht einmal die schlimmsten lateinamerikanischen Diktaturen haben mit dieser diplomatischen Konvention gebrochen.

Warum hat sich Daniel Noboa zu diesem willkürlichen Schritt entschlossen? Die Antwort darauf ist nicht einfach, aber es gibt sie. Am 21. April 2024 wurde in Ecuador ein Referendum zur Verschärfung der Maßnahmen für öffentliche Sicherheit durchgeführt, auf das er seit Beginn seiner Amtszeit drängt. Wäre Jorge Glas nach Mexiko geflohen, hätte Noboa an Popularität einbüßen und das berühmte Referendum verlieren können. Die Regierung konzentrierte sich bei der Befragung am 21. April auf zwei Themen im Bereich Sicherheit und Wirtschaft: Arbeitszeit und internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Nach Ansicht verschiedener Analyst*innen sollte das genau denen dienen, die im Mittelpunkt der Interessen des Präsidenten und der Machtgruppen stehen, mit denen er regiert: Geschäftsleute und Oligarch*innen.

Die zu diesem Komplex gehörige Frage E lautete: „Sind Sie damit einverstanden, die Verfassung der Republik zu ändern und das Arbeitsgesetzbuch zu reformieren, um befristete und Zeitarbeitsverträge zu ermöglichen, wenn sie zum ersten Mal zwischen demselben Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgeschlossen werden, ohne die erworbenen Rechte der Arbeitnehmer gemäß Anhang 4 zu beeinträchtigen?“ Dies wurde zu einem Hauptpunkt in einer von Regierungsgegner*innen angestoßenen Debatte, dass Noboa einen geplanten Rückschritt bei den Arbeitsrechten plane.

Die Ironie der Situation besteht darin, dass Daniel Noboa mitten im Präsidentschaftswahlkampf im Juli 2023 in einem Video noch mit Überzeugung verkündet hatte: „Wir können nichts an den Arbeitsrechten ändern, denn das wäre ein Rückschritt.“ Es war absehbar, dass die Opposition diese Vorlage aufgreifen würde. Noboa hatte sich mit seiner Demagogie selbst ein Bein gestellt.


Im Referendum wurden wichtige Fragen mit „Nein“ beantwortet

Die für Noboa ebenfalls bedeutsame Referendumsfrage D lautete: „Stimmen Sie zu, dass der ecuadorianische Staat die internationale Schiedsgerichtsbarkeit als Methode zur Beilegung von Investitions-, Vertrags- oder Handelsstreitigkeiten anerkennen sollte?“ Diese Frage war nach Ansicht von Expert*innen für Noboa und seine Machtgruppen von Interesse, da im Falle eines „Ja” zu dieser Frage nur seine Familienmitglieder und seine multinationalen Unternehmen davon profitieren würden. Denn allgemein bekannt ist, dass die Noboa-Gruppe die Álvaro Noboa, dem Vater von Daniel Noboa gehört, nach Angaben des damaligen Direktors der ecuadorianischen Steuerbehörde SRI, Francisco Briones, dem Staat rund 88 Millionen Dollar an Steuern schuldet.

Diese beiden Fragen des Referendums, die für die Regierung Noboa von zentraler Wichtigkeit waren, wurden allerdings mit einem klaren „Nein“ beantwortet – die restlichen neun Fragen dagegen mit „ja“. Damit sind die eigentlichen Absichten des Präsidenten gescheitert. Gleichzeitig zwingt ihn das Referendum, seine Versprechen zur Verbesserung der Sicherheit in einem von Gewalt geprägten Land einzulösen. Andernfalls wird er den Unmut der Bevölkerung auf sich ziehen.

Angesichts der Unsicherheit, die Ecuador plagt, war es zu erwarten, dass bei den neun Fragen zur Sicherheit das „Ja“ überwiegen würde. Die Menschen leben in Angst. Ohne zu zögern haben sie dafür gestimmt, dass die Streitkräfte, die schon vor dem Referendum auf den Straßen patrouillierten, dies auch weiterhin tun sollen, nun aber unter dem Schutz des Gesetzes.

Diese Verfassungsänderung bekämpft nicht nur die Unsicherheit im Land. Die Streitkräfte erhalten auch die Legitimation, die Nationalpolizei bei „inneren Unruhen“, also bei Volksaufständen, zu unterstützen. Dies bedeutet, dass jeder Versuch einer Demonstration oder eines Protestes, der aus Unzufriedenheit mit der Politik der gegenwärtigen Regierung resultiert, als Bedrohung angesehen werden kann.

Die Serie unglücklicher Ereignisse ist noch nicht lange her und entwickelt sich weiter. Die Bevölkerung wartet immer noch auf die internationalen Sanktionen nach der Stürmung der Botschaft. Und wir müssen noch lange warten, bis die neuen Gesetze in Kraft treten und wir sehen, ob sie wirklich so funktionieren, wie der Präsident es sich vorstellt oder uns glauben machen will. Wir haben also noch einen sehr langen Weg vor uns, was die Sicherheitsfrage betrifft, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung nachts wachhält.
Wobei die Nacht auch noch eine weitere Herausforderung bereithält: Ich habe diesen Text bei Kerzenlicht geschrieben, denn die Stromausfälle lassen uns keine Ruhe.

Unschuldig hinter Gittern

 Ungewisses Warten Familien von inhaftierten Personen bringen Essenspakete ins Gefängnis (Foto: Antonia Rodriguez Sanchez)

Seit mehr als zwei Jahren gilt in El Salvador der Ausnahmezustand. Mit der Begründung, die Bandengewalt bekämpfen zu wollen, hat der populistische Präsident Bukele essenzielle Bürgerrechte außer Kraft setzen lassen (siehe LN 586). Seither sind über 75.000 Personen, viele ohne Anklage und Prozess, in die sowieso schon überfüllten Gefängnisse gesperrt worden. Die Menschenrechtsorganisation Cristosal geht davon aus, dass sich darunter etwa 20.000 unschuldig Verhaftete befinden. Ein Beispiel ist der hier geschilderte Fall von Juan.

Juan kommt aus einer der ärmsten Gegenden El Salvadors an der Südküste des Landes. Seine Familie ließ sich hier nach den Friedensverträgen 1992 nieder. Ihre Herkunftsgemeinde im Südosten des Landes war Opfer von durch das Militär und Todesschwadronen verübten Massakern geworden, bei denen auch Juans Großeltern ums Leben kamen. Die Familie lebt an ihrem neuen Wohnort vom Fischfang und der Landwirtschaft. Ein Einkommen von weniger als fünf Dollar am Tag ist hier der Standard. Die Jugend versucht, in die USA zu migrieren, denn die Zukunftsaussichten sind düster. In vielen Orten ist eine Migrationsrate von über 40 Prozent üblich, so auch in der Gemeinde, in der Juan lebt. Das liegt nicht allein daran, dass es kaum Arbeit gibt, sondern auch an der Bandenkriminalität.

Juan ist 13 Jahre alt und gerade mit Freunden mit dem Fahrrad auf dem Rückweg von der Geburtstagsfeier eines Schulkameraden im Nachbardorf, als die Gruppe in eine Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Banden gerät. Im Feuergefecht wird genau einer der Jugendlichen getroffen: Juan. Die Kugel dringt durch den Rücken in seine linke Brust, nahe dem Herzen. Monatelang liegt er auf der Intensivstation, vergeblich versuchen Ärzt*innen, die Kugel zu entfernen und lassen sie schließlich im Körper, um kein weiteres Risiko einzugehen. 2016 erschießen Bandenmitglieder vor Juans Augen seine Tante, als diese ihnen kein Essen geben will. Wie Jahre zuvor bei Juan, werden auch in diesem Fall die verantwortlichen Täter nie ermittelt.

Flucht vor Gewalt und Vorverurteilung

Die Polizei versucht nur halbherzig, dem Bandenproblem in der Gegend Herr zu werden und nimmt dabei vor allem junge Menschen wie Juan ins Visier. Die Narbe, die sein Körper seit seinem 13. Lebensjahr trägt, wird ihm dabei immer wieder zum Verhängnis. Oft kommt er voller blauer Flecken nachhause und erzählt, die Polizei habe ihn wegen der Narbe für ein Bandenmitglied gehalten und ihn dafür bestrafen wollen.

Dabei versucht Juan, das Beste aus dem Leben zu machen. Sein Vater, ein ehemaliger Guerillakämpfer, fährt neben der Fischerei ehrenamtlich einen Krankentransport. Juan und seine Schwester Maria* begleiten ihn oft während seiner 24-stündigen Bereitschaftsdienste und helfen bei den Einsätzen. Gemeinsam bringen sie kranke oder verletzte Personen ins Krankenhaus oder helfen Flutopfern. Regelmäßig bergen sie auch ermordete Bandenopfer aus dem nahegelegenen Fluss.

Irgendwann, da ist Juan 19, beschließt er, in die USA auszuwandern. Er hat jetzt einen kleinen Sohn, dem er eine bessere Zukunft bieten möchte. Außerdem hat er die Schikanen der Polizei satt. Als Zeichen seiner Verbundenheit zur Familie lässt er sich auf der Fluchtroute von einem Freund mehrere Tattoos stechen: Am Hals trägt er fortan den Namen seines Sohnes und einen Anker als Zeichen für seine Identifikation als Fischer. Auf der Brust prangt, eingerahmt von einem Herzen, der Name seiner Mutter und am Handgelenk trägt er die Namen der Töchter seiner Schwester Maria. Doch Juan kommt auf seinem Weg nach Norden nicht weit. Im Süden Mexikos greift ihn die Migrationsbehörde auf, sperrt ihn mehrere Wochen ins Gefängnis und schiebt ihn zurück nach El Salvador ab.

Am 14. Dezember 2021 hat Juan einen schweren Motorradunfall. Wochenlang kämpfen Ärzt*innen um sein Überleben. Er liegt im Koma und hat schwere Hirnschäden. Jeden Tag bei ihm: seine Schwester Maria. Sie ist es auch, die die Ärzte, als sie die lebenserhaltenden Geräte abstellen wollen, anfleht, noch drei Tage zu warten. Am dritten Tag erwacht Juan aus dem Koma. Er kann nicht laufen und erinnert sich an nichts. Maria kümmert sich nun täglich um ihn. Sie bringt ihm wieder das Laufen bei, wäscht ihn, füttert ihn mit flüssigem Maisbrei, dem einzigen, was er zu sich nehmen kann, und versucht, seine Erinnerungen zurückzuholen. Er erhält starke Medikamente und macht langsam Fortschritte.

Von der Intensivstation ins Gefängnis

Am 9. April 2022, da ist es gerade zwei Wochen her, dass der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, stehen plötzlich mehrere Soldaten vor dem Haus. Sie durchsuchen das Haus und finden Juan, der immer noch bettlägerig ist und sich nur unter großen Schwierigkeiten bewegen kann.
Die Soldaten zerren Juan ins Freie, nehmen ihm sein gesamtes Erspartes, 85 Dollar, weg und zerstören sein Handy, das ihm sein Vater kurz zuvor geschenkt hatte. Er hatte Kindervideos und Familienfotos darauf geladen, „um die Erinnerungen seines Sohnes zurückzuholen”, so der Vater.

Die Soldaten zertreten auch seine Medikamente und bewerfen ihn mit Essen. Dann nehmen sie ihn mit. Der Vater rennt mit den zertretenen Medikamenten hinterher, aber der Soldat sagt nur: „Dort, wo wir ihn hinbringen, gibt es keine Medikamente.” Dann lässt er auch den Vater verhaften. Als dieser seiner Frau Bescheid geben will, sagt der Soldat: „Wir haben keine Zeit, bis 0 Uhr brauchen wir sechs Verhaftungen, mit euch haben wir bisher nur drei.” Auf dem Weg werden drei Jugendliche aufgesammelt, die gerade Kies aus einem LKW laden. Die Soldaten fragen weder nach ihren Namen, noch erläutern sie ihnen den Grund der Verhaftung

27 Tage sitzen Vater und Sohn in einem lokalen Gefängnis fest. Die Haftbedingungen verstoßen hier wie in vielen Gefängnissen El Salvadors gegen die Menschenrechte: Tagelang harren die Inhaftierten ohne Wasser und Essen aus. Über 200 Personen sitzen in Zellen, die für 70 Personen ausgelegt sind. Es steht nur eine Toilette zu Verfügung und die Personen schlafen auf dem kalten Betonboden, sofern sie nicht wegen Platzmangels stehen müssen. Die Kontrolle haben hier Bandenmitglieder und Gefängniswärter. Die Zellen sind mit imaginären Grenzen durchzogen, die die verfeindeten Banden voneinander trennen. In der Mitte ist die unschuldige Zivilgesellschaft untergebracht, die sich den Kommandos der Bandenanführer und der Gefängniswärter fügen müssen. Das Übertreten der Grenzen, zu langsames Laufen, jeglicher Fehler wird mit Schlägen bestraft. Alte oder körperlich beeinträchtigten Menschen werden besonders häufig Opfer von Gewalt. Teilweise müssen sie nach Aussagen ehemaliger Gefängnisinsassen stundenlang ohne Wasser unter der prallen Mittagssonne ausharren, werden geprügelt und beschimpft. „Wir haben jeden Tag Tote gesehen“, schildert Juans Vater die Zeit im Gefängnis. Er stellte sich, wann immer es ging, schützend vor seinen Sohn.

Juan ist inmitten dieser Hölle völlig orientierungslos, fleht seinen Vater um Wasser an und versteht nicht, wo er gelandet ist. „Das ist ein Militärcamp”, erklärt ihm sein Vater, „wenn wir den Test bestehen, werden wir als besonders tapfere Soldaten ausgezeichnet.” Juan und sein Vater bestehen den Test nur knapp. Als sie nach fast einem Monat die Freiheit wieder erlangen, sind sie abgemagert, haben alle möglichen Parasiten, offene Wunden und Foltermerkmale. Juan hat außerdem eine Gesichtslähmung davongetragen. Beide leiden seitdem unter starken Schlafstörungen, verlassen mitten in der Nacht schlaftrunken das Haus, um sich im Hof aufzustellen, wie sie es im Gefängnis mussten. Juan lebt nun bei seiner Schwester und macht gute Genesungsfortschritte. Aber er spricht sehr langsam, kann nichts riechen, verliert immer wieder das Gleichgewicht, humpelt und hat Schwierigkeiten, sich Dinge zu merken. Auch die Gesichtslähmung macht ihm zu schaffen und macht ihm das Essen schwer.

Verschollen hinter Gittern

Es ist der 31. Januar 2023. Juan hilft seinem Onkel, der am Haus einen Weg pflastert, da nähert sich eine Gruppe von Soldaten. Sie kommen aus Richtung einer nahegelegenen Kneipe und scheinen angetrunken zu sein. Sie fordern die Männer auf sich auszuziehen. Sie befinden sich gegenüber einer Schule, trotzdem müssen sie sich komplett nackt ausziehen. Als sie die Tattoos sehen, beginnen sie Juan als marero (Bandenmitglied) zu beschimpfen, stellen ihm Fragen. Weil er nicht sofort antwortet, packen sie seinen Kopf und schlagen ihn mehrmals gegen einen Baum.

Maria, die gerade im Haus duscht, hört den Lärm und rennt nur mit einem Tuch bekleidet raus. In der Hand hält sie den Freiheitsschein, den ihr Bruder bei Entlassung aus dem Gefängnis erhalten hat. „27 Tage sind zu wenig, der soll seine zwei Jahre absitzen”, entgegnet einer der Soldaten. Ein anderer droht ihr: „Geh wieder rein, oder wir nehmen dich auch mit.” Sie nehmen Juan fest. Eine Woche lang sitzt er in der Kellerzelle einer Polizeistation. Jeden Tag bringt Maria Essen für ihn, fleht die Polizisten um Hilfe an. Die sagen nur: „Da können wir nichts machen. Das Militär steht über uns.”

Sie weist darauf hin, dass Personen von Rechts wegen nicht zweimal mit der gleichen Anschuldigung verhaftet werden können, woraufhin der Grund von „Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung” in „Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung” geändert wird. Eines Tages gibt ihr ein Polizist zu verstehen, dass Juan gerade in einen Transportwagen gebracht werde, um ihn in ein Gefängnis zu bringen. Sofort rennt Maria zum Transporter, der im Innenhof steht, ruft seinen Namen und blickt durch einen Spalt plötzlich in Juans Augen. Sie halten sich an den Händen. Juan weint und fleht „Bitte hilf mir! Dort werden sie mich töten.” „Das war der schlimmste Moment”, erinnert sich Maria. „Das ist der Moment, der sich immer wieder vor meinem inneren Auge abspielt, denn er wusste, was ihn erwarten würde und ich konnte ihm nicht helfen.”

Ein Jahr und vier Monate sind inzwischen vergangen. Gesehen oder gehört hat die Familie seit diesem Tag nichts mehr von Juan. Jeden Monat fährt Maria mit ihrer Schwester ins mehrere Stunden entfernte Haftzentrum, wo Juan angeblich inhaftiert ist, und bringt ein Essenspaket dorthin. Die Familie muss dafür jeweils über 120 Dollar aufbringen. Ein Lebenszeichen bekommt sie nicht.

Unter Juans Abwesenheit leidet besonders stark sein mittlerweile sechsjähriger Sohn. Auch sein Vater findet keine Ruhe, muss ständig an die Bedingungen während der 27 Tage in Haft denken. Er versucht seine Hilflosigkeit zu bekämpfen, indem er anderen Gemeindemitgliedern hilft, die unschuldig inhaftiert waren und mittlerweile freigekommen sind. Er begleitet sie zu Arztterminen und bietet ihnen für einige Tage Obhut, wenn die Familie in der Zwischenzeit weg, das Haus unbewohnbar oder der mentale Zustand zu kritisch ist, um allein zu sein.

Als Maria Anfang 2023 kurz nach Juans zweiter Verhaftung im lokalen Menschenrechtsbüro um Informationen zu seinem Gesundheitszustand bat, sagte man ihr, sie solle in einem Jahr zurückkommen. Dreizehn Monate später, es ist Februar 2024, fragt sie wieder nach. „Kommen Sie wieder, wenn die Prozesse beginnen, also in zwei bis drei Jahren”, lautet die Antwort.

Juans Leben und das seiner Familie scheint in besonderer Weise vom Unglück verfolgt – und gleichzeitig ist es doch typisch für das Schicksal einer vergessenen und stigmatisierten Jugend aus vormals von den Banden kontrollierten Zonen in El Salvador. Häufig reicht für eine Festnahme ein Tattoo oder die Herkunft aus einer ehemals durch die Banden dominierten Zone aus. Insbesondere die verarmte Jugend läuft Gefahr, willkürlich verhaftet zu werden. Immer mehr Jugendliche wandern deshalb in die USA aus.

In den Gefängnissen kommt es nachweislich zu massiven Menschenrechtsverletzungen, sowie Folter und außergerichtlichen Tötungen. Mithilfe eines Anwalts, der sich Juans Fall unentgeltlich angenommen hat, hat die Familie Ende März 2024 ein Habeas Corpus-Gesuch eingereicht. Ein Habeas Corpus-Antrag ist ein Rechtsmittel, das verlangt, Auskunft über den Verbleib und das Wohlergehen einer inhaftierten Person zu erhalten und dass diese unverzüglich einem Haftrichter vorgeführt wird. Aber auch hier wartet die Familie seit Wochen vergeblich auf Antwort.

Heute ist Juan 25 Jahre alt. Die Hoffnung, dass er, trotz seines kritischen Gesundheitszustands noch am Leben ist, hat seine Familie nie aufgeben.

Ein Jahr im Ausnahmezustand

“Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend will ich ihn zurück” Demonstration von Angehörigen von iM Ausnahmezustand Inhaftierten (Foto: Kellys Portillo für Alharaca)

Heute ist der 24. März, es ist erst achtzehn Uhr, aber Camila weiß schon, dass sie fast die ganze Nacht vor „El Penalito“ warten wird. Sie hat schon viel gewartet. Geduldig hat sie die dreistündige Autofahrt von Jiquilisco, einer Küstengemeinde im äußersten Osten des Landes, in die salvadorianische Hauptstadt San Salvador überstanden. Ebenso jede Busfahrt zuvor, als sie die paquetes für ihre Familienangehörigen ins La Esperanza-Gefängnis, bekannt als „Mariona“, gebracht hat. Aber besonders geduldig war Camila in den vergangenen zehn Monaten ohne ihren Ehemann, ihren Bruder und ihre Söhne, die alle im Mai 2022 im Rahmen des Ausnahmezustands festgenommen wurden. Seit fast einem Jahr hat sie keinen Kontakt zu ihnen.

„El Penalito” ist der Spitzname jener Polizeikaserne in San Salvador, in der sich der Sitz der Abteilung für außerordentliche Dienste befindet. Dort werden von Montag bis Freitag jede Nacht um die zehn Gefangene freigelassen, die aus verschiedenen Gefängnissen des Landes verlegt werden. Daher treffen sich vor dem Tor, aus dem die Gefangenen entlassen werden, jeden Abend Dutzende Familien in der Hoffnung, ihre Familienangehörigen wiedersehen zu können.

Die Berichte über willkürliche Festnahmen häufen sich

Die vier Männer aus Camilas Familie gehören zu den über 66.000 Personen, die seit dem 27. März 2022 verhaftet wurden, nachdem der salvadorianische Kongress mit einer Mehrheit der Regierungsparteien den Ausnahmezustand erklärt hat. Die Maßnahme war eine Reaktion auf ein dreitägiges Massaker, bei dem 87 Menschen von der Mara Salvatrucha (MS-13), einer der größten Gangs in El Salvador, ermordet wurden. Eine Recherche des investigativen Journalist*innenteams von El Faro hat bewiesen, dass die Massaker eine Reaktion auf den Bruch eines geheimen Pakts zwischen MS-13 und der Regierung von Präsident Nayib Bukele waren.

Präsident Bukele forderte den Kongress in der Folge erfolgreich dazu auf, grundlegende Rechte – die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Verteidigung und das Fernmeldegeheimnis – für mindestens 30 Tage auszusetzen. Allein am ersten Tag wurden 1.400 mutmaßliche Gangmitglieder verhaftet. Eine Woche später verabschiedeten die Parlamentarier*innen mehrere Reformen des Strafgesetzbuchs, die den Freiheitsentzug für Bandenmitglieder auf bis zu 45 Jahre erhöht haben und unter anderem Haftstrafen von bis zu zehn Jahren für 12-Jährige und bis zu 20 Jahren für 16-Jährige vorsehen.

Gefangene leiden wegen der mangelhaften Ernährung unter niedrigem Blutdruck und Herzrasen

Es gibt zahlreiche Berichte von willkürlichen Inhaftierungen. Seit einem Jahr sitzen immer mehr Männer und Frauen in den schon vorher überfüllten Gefängnissen El Salvadors. Dort erleben sie Bedingungen, die nur als Folter beschrieben werden können. Nayib Bukele hatte bereits zu Beginn des Ausnahmezustands über Twitter erklärt, er würde den Gefangenen nur sehr wenig Essen zur Verfügung stellen lassen. Dies bestätigt eine Person, die in einem der Gefängnisse arbeitet, gegenüber LN: „Die Gefangenen des Ausnahmezustands werden schlecht ernährt, nur Nudeln oder Reis, Fleisch vielleicht einmal in der Woche. Vorher haben sie nur zwei Mahlzeiten am Tag bekommen, aber das mussten sie ändern“, erklärt sie. „Da die Gefangenen nur wenig Wasser trinken durften, mussten sie häufig in die Gefängnisklinik, etwa mit extrem niedrigem Blutdruck und Herzrasen. Erst als mehrere Gefangene mit sehr niedrigem Blutdruck in Folge von Dehydrierung starben, hat man ihnen Zugang zu einem Wasserhahn verschafft“, berichtet sie.

Am 23. März hatte die Bewegung der Opfer des Regimes (MOVIR) in den sozialen Netzwerken den Tod von Orlando Claros, ebenfalls aus Jiquilisco, öffentlich gemacht. Laut Informationen von MOVIR ist er wenige Stunden nach seiner Entlassung nach elfmonatiger Haft an schwerer Anämie gestorben. Zwar konnten seine Kinder ihn ein letztes Mal sehen. Seine Frau, die ebenfalls in Haft ist, weiß jedoch vermutlich nichts von seinem Tod. Es gibt viele solche Fälle: Laut Menschenrechtsorganisationen sind in einem Jahr Ausnahmezustand mindestens 111 Personen in Haft gestorben.

„Wer sorgt für Gerechtigkeit für diejenigen, die im Gefängnis sterben?“

Antonio, ein weiterer Bruder von Camila, der neben ihr am Bürgersteig vor „El Penalito“ auf einem Plastikstuhl wartet, beschreibt, was der Ausnahmezustand für seine Familie bedeutet: „Der Präsident hat den Befehl gegeben (den Ausnahmezustand zu erklären, Anm. d. Red.), das verstehe ich. Aber er merkt nicht, wie er Unschuldige und arme Familien verletzt.“ Später fügt er wütend hinzu: „Er behauptet, er sorge für Gerechtigkeit, aber wer sorgt für Gerechtigkeit für diejenigen, die im Gefängnis sterben; für die Mütter, die an Verzweiflung sterben, weil sie auf ihre Kinder warten müssen?“

Trotz konstanten Drucks der Familienangehörigen von unschuldig verhafteten Personen und der starken Kritik aus der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft wird der Ausnahmezustand jeden Monat verlängert. Die Prozesse der verhafteten Personen werden immer wieder verschoben und rechtswidrig in die Länge gezogen. Familien wie die von Camila, die jede Nacht vor dem „Penalito“ warten, wurden von ihren Anwält*innen darüber informiert, dass ihre Angehörigen bereits „Entlassungsbriefe“, also Gerichtsbeschlüsse für ihre sofortige Freilassung, bekommen haben. Allerdings kann es bis zur tatsächlichen Freilassung lange dauern. „Manche werden erst ein bis zwei Monate nach dem Erhalt des Briefes willkürlich freigelassen“, erklärt Ramón, ein Rechtsanwalt aus dem ehrenamtlichen Kollektiv Socorro Jurídico Humanitario (SJH), der fast jede Nacht mit den Familien dort wartet. Der Ehemann und der Bruder von Camila haben Anfang März ihre Briefe zur sofortigen Entlassung bekommen. Zwei Wochen später wurde nur Camilas Bruder freigelassen.

Jede Nacht Hoffnung auf die Freilassung Gefangene kommen mit dem Bus an und können ihre Familien in den Arm nehmen (Foto: Kellys Portillo für Alharaca)

Jeden Tag entsteht im „Penalito“ eine Liste mit den Namen der Personen, die in der Nacht freigelassen werden. Diese Liste ist nicht offiziell: Personen in der Kaserne lassen sie durchsickern, die Bewegung MOVIR veröffentlicht sie in den sozialen Netzwerken. Die Familienangehörigen von verhafteten Personen müssen also jeden Tag auf die Liste warten, um dann Zeit und Mittel zu organisieren, um aus allen Ecken des Landes zum „Penalito“ zu fahren und bis Mitternacht zu warten.

Die staatlichen Sicherheitskräfte scheinen sich unantastbar zu fühlen

Der Name des Ehemanns von Camila stand noch nicht auf der Liste. Trotzdem wartet sie jede Nacht dort. In der Woche zuvor wurde ihr Bruder freigelassen, obwohl er nicht auf der Liste war. Das hat sie überrascht und darf nicht nochmal passieren: Denn wenn eine Person freigelassen wird, aber keine Familienangehörigen oder Bekannte dort sind, um sie aufzunehmen und sich als Verantwortliche mit Ausweis und Unterschrift anzumelden, dann werden sie zurück in die Haft geholt. Dies verstößt eindeutig gegen den Gerichtsentscheid, ist aber gängige Praxis geworden.

Die Willkür der staatlichen Sicherheitskräfte, die sich unantastbar zu fühlen scheinen, ist spürbar. In derselben Nacht verweigert ein Polizist in der Nähe des „Penalito“ drei Jugendlichen in Schuluniformen den Durchgang und nimmt ihnen ein Plakat weg, das sie für den Unterricht gemacht hatten. Später steigen zwei Polizisten in einen Bus, der vor der Polizeikaserne vorbeifährt, ziehen einen Mann auf die Straße, schlagen ihn und schleifen ihn über den Boden, während er noch liegt – alles vor den Augen dutzender Menschen. Bislang zählen eine Allianz von sieben Organisationen der Zivilgesellschaft 4.723 Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand.

Der kleine Bus mit den Gefangenen kommt um 20.30 Uhr an. Acht Männer in Handschellen steigen aus, drei weniger als Namen auf der Liste. Alle Familienangehörigen versuchen von der anderen Straßenseite aus zu sehen, ob die Person, auf die sie warten, dabei ist. Das ist nicht einfach, denn alle acht Häftlinge sehen gleich aus: dünn, glattrasiert, mit weißer Uniform und einem Mund-Nasen-Schutz. Der Mann von Camila ist leider auch heute nicht dabei.

Die Familien und Ehrenamtliche vor Ort haben mit der Zeit eine Art informelles Netzwerk organisiert. Mithilfe der Geschäfte vor dem „Penalito“ machen sie schnell Kopien von Dokumenten, die sie für die Freilassung brauchen und koordinieren Transport und Unterkunft für diejenigen, die keine verantwortliche Person vor Ort haben. „Keiner wird zurückgelassen“, sagt Marina, eine Verkäuferin, die vor der Kaserne arbeitet und die Familien unterstützt. „Wenn sie wirklich niemanden haben, der sie abholt, besorgen wir irgendwie eine Unterkunft hier in der Nähe“, erzählt sie. Die Familien und Ehrenamtlichen selbst spenden immer ein paar Münzen für diese Menschen.

Die sogenannte Ausnahme ist zur Regel geworden

Um 21.10 Uhr kommt der erste Mann raus. Er findet sofort eine Frau in Türkis und umarmt sie so doll, dass beide lachend fast umkippen. Dann der nächste, der eine ältere Dame für eine Minute umarmt und nicht mehr loslässt. Der Dritte sieht eine Frau seiner Familie auf der anderen Straßenseite, die fast überfahren wird, als sie zu ihm rennt. Der vierte Mann kreuzt selbst die Straße, um eine junge Frau und ein Kleinkind zu drücken und zu küssen. Seine Mutter ist auch da und will auch eine Umarmung. Sie ruft weinend: „Komm her, papito lindo, komm bitte her!“

Die Umarmungen lösen Applaus in der kleinen Menschenmenge aus. Viele, fast alle Beobachter*innen weinen. Es ist ein überwältigender Moment: Diese Familien sehen sich zum ersten Mal seit zehn, elf Monaten. Doch was hier außergewöhnlich erscheint, wiederholt sich seit einem Jahr an jedem Wochentag – seitdem die sogenannte Ausnahme zur Regel und Routine geworden ist.

Eine halbe Stunde später sind alle Menschen nach Hause gegangen. Die Straße vor dem „Penalito“ ist einsam. Am darauffolgenden Montag wird alles wieder von vorne beginnen. Neue und einige der gleichen Familien, wie die von Camila, werden eine weitere Nacht dort warten. Etwa ein Dutzend Männer und vielleicht auch Frauen werden durch diese Tür kommen und hoffentlich ihre Familie in die Arme nehmen. Aber ihr Albtraum ist noch nicht vorbei, denn die Gefahr, wieder willkürlich verhaftet zu werden, wird weiterhin bestehen: Solange, bis der Ausnahmezustand nicht mehr verlängert wird.

DER AUSNAHMEZUSTAND WIRD ZUR NORM

Der neue Normalzustand Soldaten bei der Kontrolle von Passagieren eines Buses (Foto: Victor Peña (@victorpena84) für El Faro, April 2022)

El Salvador befindet sich seit dem 27. März im Ausnahmezustand. Nach einer brutalen Mordserie mit 87 Todesopfern innerhalb von drei Tagen, die im Wesentlichen auf das Konto der berüchtigten Gang Mara Salvatrucha 13 (MS-13) gehen soll, hatte Präsident Nayib Bukele das Parlament angewiesen, für 30 Tage den Ausnahmezustand zu verhängen. Inzwischen wurde die Maßnahme um einen weiteren Monat bis zum 27. Mai verlängert. Die Ausweitung der Ausnahmebefugnisse wurde vom Minister für Justiz und Innere Sicherheit, Gustavo Villatoro, damit begründet, dass bis zum 24. April zwar bereits 16.500 Bandenmitglieder verhaftet worden seien, aber etwa 70.000 Kriminelle nach wie vor auf freiem Fuß seien.

Außerdem hat das salvadorianische Parlament zusätzliche Mittel für Polizei und Militär in Höhe von 80 Millionen US-Dollar genehmigt. Nach Angaben des zentralamerikanischen Instituts für Steuerstudien ICEFI machte das Sicherheitsbudget des hoch verschuldeten Landes bereits vor der Erhöhung 11 Prozent der Regierungsausgaben aus. Im Jahr 2021 summierten sich die Ausgaben auf 846 Millionen US-Dollar.

Der Ausnahmezustand berechtigt die Regierung vier zentrale Grundrechte einzuschränken: das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; das Briefgeheimnis und das Recht der Unverletzlichkeit privater Kommunikation ohne vorherige richterliche Genehmigung; das Recht, innerhalb von 72 Stunden nach Verhaftung einem Gericht vorgeführt zu werden und das Recht, über die Gründe der Verhaftung informiert zu werden sowie einen Rechtsbeistand und einen fairen Prozess zu erhalten. Gleichzeitig mit der Einführung des Ausnahmezustands im März wurden acht Reformen – ohne jegliche parlamentarische Mitsprache – durch den von Bukeles Partei Nuevas Ideas kontrollierten Kongress gepeitscht. Darin werden die bestehenden strafrechtlichen Mittel gegen Gangs, die bereits seit 2010 verboten sind, wesentlich verschärft. So kann die Mitgliedschaft in Gangs zukünftig mit 20 bis 30 Jahren Haft bestraft werden, Anführern und Financiers drohen gar Haftstrafen von 40 bis 45 Jahren.

Häftlinge ohne Rechtsschutz

Neu ist, dass nun auch Jugendliche ab zwölf Jahren zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt werden können, Jugendliche ab 16 Jahren bis zu zwanzig Jahren. Eine Person, die der Bandenmitgliedschaft beschuldig wird, hat kein Anrecht darauf, nach zwei Jahren Untersuchungshaft entlassen zu werden, selbst wenn keine Beweise für eine Straftat oder einen Freispruch vorliegen, sondern bleibt in Haft, bis alle Instanzen durchlaufen sind. Prozesse können auch in Abwesenheit der Beschuldigten durchgeführt werden, aus Sicherheitsgründen sollen Richter*innen außerdem das Recht auf Anonymität erhalten.

Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Rechtsexpert*innen wiesen darauf hin, dass die im Eilverfahren verabschiedeten Reformen, vor allem im Falle minderjähriger Angeklagter, im Konflikt mit internationalen wie auch nationalen Normen stehen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie die Regierung Bukele bittet, die erlassenen Strafrechtsreformen für Minderjährige zu revidieren, da diese nicht im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention stünden. Bezweifelt wurde ferner die Notwendigkeit der Anwendung des Ausnahmezustands, da auch die bereits bestehenden strafrechtlichen Instrumente dem Staat hinreichende Kompetenzen zur Verfolgung krimineller Banden erteilen.

Im Laufe des Ausnahmezustands sind derweil weitere Verhaftungswellen im Gange: Bis zum 2. Mai wurden laut Angaben der salvadorianischen Polizei, 22.754 Menschen festgenommen. Inzwischen häufen sich die Hinweise, dass es nicht nur zu einer Reihe von irrtümlichen Verhaftungen junger Männer kam, sondern zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Bei den Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Cristosal gingen bis Ende April Informationen von über 160 willkürlichen Verhaftungen ein, sowie über brutale Gewalt gegen Inhaftierte. Nach Angaben der oppositionellen Kongressabgeordneten Claudia Ortiz sollen mindestens fünf Personen unter ungeklärten Umständen in Untersuchungshaft verstorben sein. Bereits vor der jüngsten Verhaftungswelle waren die salvadorianischen Gefängnisse hoffnungslos überfüllt: 39.147 Häftlinge gab es nach Angaben der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte im Land. Die Rate von 549 Häftlingen auf 100.000 Einwohner*innen wird in den Amerikas lediglich von den USA übertroffen. Bereits Anfang 2020 hatten die Bilder von zusammengepferchten, inhaftierten Bandenmitgliedern für weltweite Empörung gesorgt. In den vergangenen Wochen hat die Regierung erneut Bilder halbnackter tätowierter Männer veröffentlicht – mit dem Hinweis, dass der „Abschaum“ keine Menschenrechte besitze und den Häftlingen die Nahrung verweigert würde, wenn die Mordserie nicht abreiße. Regionale und internationale Menschenrechtsorganisationen, die ihre Sorge über die prekären Haftbedingungen zum Ausdruck bringen, werden pauschal als Sympathisierende der Gangs diffamiert. So twitterte Präsident Bukele am 28. März: „Diese windigen Typen von den internationalen NGOs geben vor, die Menschenrechte zu verteidigen, interessieren sich aber nicht für die Opfer, sondern verteidigen nur die Mörder, als ob sie die Blutbäder genießen würden“. Ein Großteil der Bevölkerung steht dem Populismus des Präsidenten jedoch positiv gegenüber. Laut einer Umfrage von Cid-Gallup vom April 2022 befürworten 91 Prozent der Befragten die gegen die Bandenmitglieder ergriffenen Maßnahmen.

Scharfe Kritik über die Landesgrenzen hinaus rief auch eine Reform hervor, die sowohl die Ausarbeitung und Verbreitung von Texten, Grafiken oder Graffiti unter Strafe stellt, die „Botschaften reproduzieren oder übertragen, die von Gangs oder angeblich von Gangs stammen und zu Angst oder Panik in der Bevölkerung führen können“. Präsident Bukele verglich die Maßnahme in einem weiteren Tweet mit dem Verbot von Nazi-Symbolen im deutschen Strafrecht, übersah hierbei jedoch, dass das salvadorianische Gesetz – anders als das deutsche – so vage und ambivalent formuliert ist, dass es grundsätzlich jegliche Form der Berichterstattung über Maras unter Strafe stellt. Bis zu 15 Jahren Gefängnis drohen damit Journalist*innen, die über Maras informieren.

Nach Ansicht der salvadorianischen Journalist*innenvereinigung APES handelt es sich dabei nicht um einen Formfehler, sondern um bewusste Zensur und einen Maulkorberlass. Die Reform soll die Berichtserstattung der unabhängigen Presse über Geheimverhandlungen der Regierung mit den Gangs unter Strafe stellen und verhindern, dass Informationen über die Freilassung von hochrangigen Bandenmitgliedern, deren Auslieferung US-amerikanische Gerichte fordern, publik werden.
Ähnlich kritisch wird auch die Aussetzung des Briefgeheimnisses und die Autorisierung von Abhörungen ohne Gerichtsbeschluss beurteilt. Bereits Anfang des Jahres war die Regierung Bukele in die Schlagzeilen geraten, nachdem bekannt geworden war, dass mehrere Dutzend Journalist*innen, insbesondere des Nachrichtenpools El Faro, monatelang mit dem Spionageprogramms Pegasus abgehört wurden. Die Regierung reagierte rasch und verabschiedete ein Gesetz über „digitale Undercover-Agenten“, das die rechtswidrige Spionage im Nachhinein legalisierte.

Schon seit Langem war der Regierung Bukele die Berichterstattung des unabhängigen Journalist*innenteams von El Faro ein Dorn im Auge. Während die Regierung mit dem expliziten Versprechen angetreten war, das organisierte Verbrechen und die brutalen Gangs mittels einer Politik der harten Hand unter Kontrolle zu bekommen, hatte El Faro aufgedeckt, dass Bukeles Regierung– wie auch bereits die Vorgängerregierungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung – mit den Anführern der Gangs Geheimverhandlungen führte.

Journalist*innen werden als „Informationsterroristen“ gebrandmarkt

Reportagen von El Faro vom September 2020 und August 2021 belegen mit offiziellen Dokumenten und Fotografien, dass die amtierende Regierung praktisch seit Amtsantritt mit inhaftierten Anführern der Maras verhandelt hat. Eine Reportage, die von BBC Mundo Ende April 2022 veröffentlicht wurde, bestätigte diese Geheimverhandlungen anhand von Aussagen der Mara Barrio 18-Sureños. Nach den Recherchen sollen gegen die Zusicherung der ranflas (der nationalen Führungsriegen der Gangs), die Mordraten zu senken sowie bei den Wahlen Anfang 2021 die Regierungspartei zu unterstützen, Hafterleichterungen und ökonomische Anreize zugesagt worden sein. Dies hatte dazu geführt, dass das US-Außenministerium Sanktionen gegen die beiden Verhandlungsführer der Regierung verhängte: den Gefängnisdirektor und Vizeminister für Sicherheit und Justiz, Osiris Luna, sowie den Direktor des Sozialprogramms Tejido Social, Carlos Marroquin.

Auch die Staatsanwaltschaft in El Salvador hatte unter der Führung des damaligen Generalstaatsanwaltes Raúl Melara begonnen, die Geheimverhandlungen der Regierung mit den kriminellen Banden zu untersuchen. Die Untersuchungen fanden jedoch Anfang Mai 2021 ein abruptes Ende, nachdem die Regierung in einer verfassungswidrigen nächtlichen Hauruck-Aktion – abgesegnet durch das Parlament – Melara durch einen regierungstreuen Staatsanwalt austauschen ließ, gemeinsam mit allen Richter*innen des Verfassungsgerichts. Die Verantwortung für den sogenannten Fall Catedral blieb in den Händen von Rodolfo Delgado, der die Anti-Mafia-Sonderkommission GEA auflöste und inzwischen sogar ein Strafverfahren gegen die sieben Staatsanwälte eingereicht hat, die die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung Bukele untersucht hatten. Trotz des umfangreichen Beweismaterials und der belastenden Aussagen des geschassten Sonderermittlers Germán Arriaza gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bestreitet die Regierung hartnäckig, dass die Verhandlungen mit den kriminellen Banden stattgefunden haben, und droht den Journalist*innen von El Faro, die als „Informationsterroristen“ gebrandmarkt werden, mit Strafrechtsprozessen.

So auch den Brüdern Oscar und Juan José Martínez, die in ihrem Buch El niño de Hollywood: una historia personal de la mara salvatrucha, anhand einer einzelnen Biografie eine bedrückende Aufnahme der politischen Ökonomie der Gewaltstrukturen der Maras liefern. Die Verlängerung des Ausnahmezustands im April wurde von einer Reform begleitet, die es der Regierung erneut ermöglicht, sich über die gesetzlichen Regelungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen hinwegzusetzen. Dies erinnert an die Situation 2020, als die Regierung zu Beginn der Pandemie alle Kontrollen für öffentliche Anschaffungen abschaffte und damit der Korruption Vorschub leistete (siehe LN 551). Nach Angaben der – inzwischen abgesetzten – Staatsanwälte wiesen bis Ende 2020 zwei Drittel aller staatlichen Einkäufe Unregelmäßigkeiten auf. Eine Reportage von El Faro hatte aufgedeckt, dass der Unterhändler des Paktes mit den Maras, Gefängnisdirektor Osiris Luna, die Notstandsbefugnisse während der Pandemie genutzt hatte, um 1,6 Millionen US-Dollar, die eigentlich für Lebensmittelhilfe vorgesehen waren, zu veruntreuen.

Keine Kontrollen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge mehr

Bereits zuvor waren die Befugnisse des Nationalen Instituts für den Zugang zu Öffentlicher Information (IAIP) stark beschnitten worden. Die Transparenzbeauftragte Liduvina Escobar sah sich nach Drohungen gezwungen, gemeinsam mit ihrer Familie ins Exil zu gehen (siehe Seite 36-40).

Leider deutet daher alles darauf hin, dass sich der rapide Abbau rechtsstaatlicher Strukturen und Kontrollen in El Salvador unter der Regierung Bukele noch weiter beschleunigt – und der Ausnahmezustand zur Norm wird. Nach der Gleichschaltung von Justiz und Staatsanwaltschaft am 1. Mai 2021 (siehe LN 564) werden nun der unabhängige Journalismus und zivilgesellschaftliche Organisationen, die nicht auf Regierungslinie liegen, zunehmend Opfer von Einschüchterungskampagnen. Zwar konnte ein Agent*innengesetz, das auf die Stummschaltung von Presse und Zivilgesellschaft ausgerichtet war, nach massivem internationalen Protest zunächst gestoppt werden. Die Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen nimmt jedoch zu. Ende April forderte Arbeitsminister Rolando Castro die Gewerkschaften auf, die traditionellen Demonstrationen zum Internationalen Tag der Arbeit abzusagen. Wer trotzdem marschiere, sei ein Sympathisant der Banden. Der Einschüchterungsversuch war nur teilweise erfolgreich. Der Minister konnte die Demonstrationen zwar nicht verhindern, die Beteiligung war jedoch deutlich schwächer als im Vorjahr.

AUSNAHMEZUSTAND DER PERVERSION

Para leer en español, haga clic aquí.

Ausnahmezustand in Villa Nueva Das weckt traurige Erinnerungen (Foto: Carlos Sebastian)

Am 14. Januar dieses Jahres trat Alejandro Giammattei seine Amtszeit als Guatemalas neuer Präsident an. Der rechte Kandidat der Partei Vamos hatte im August 2019 die Präsidentschaftswahlen gewonnen – allerdings nur mit knapp einem Viertel der Stimmen aller Wahlberechtigten (siehe LN 543/544). Bereits zwei Tage nach seinem Amtsantritt, am 16. Januar, erklärte er in zwölf Gemeinden des Landes den präventiven Ausnahmezustand bis zum 11. Februar. Bemerkenswert ist, dass nur vier davon zu den Gemeinden mit dem höchsten Unsicherheitsfaktor gehören, laut dem 2019 vorgelegten Index über Kommunale Prioritäten. In einem offiziellen Video kündigte Giammattei diese Maßnahmen als Teil seines Kampfes gegen die Unsicherheit an, die sich im ganzen Land ausbreite. Ihm zufolge bestehe das Ziel „darin, Verbrechen zu verhindern, aber vor allem die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten.” Im gleichen Video fordert der Präsident die guatemaltekische Bevölkerung auf, Kriminelle und Delinquenten anzuzeigen. Damit will er das Vertrauen und die Unterstützung der Bevölkerung durch populistische Maßnahmen gewinnen, die an einen sensiblen Aspekt der guatemaltekischen Realität rühren, nämlich die Unsicherheit auf den Straßen.

In der Geschichte Guatemalas hat der Gebrauch des Ausnahmezustands Tradition. Der guatemaltekische Jurist und Politologe Miguel Ángel Reyes Illescas stellt fest: „Die kommunalen Ausnahmezustände erinnern an Präsident General Arana in den frühen siebziger Jahren, der während seiner ganzen Amtszeit mit dem Ausnahmezustand in der gesamten Republik regierte und die Politik der Aufstandsbekämpfung einleitete, der Präzedenzfall für Aktionen der verbrannten Erde und Völkermord.”

Ausnahmezustände sind zum bevorzugten Instrument des Staates geworden

Ausnahmezustände müssen nicht vom Kongress genehmigt werden und erlauben es der Exekutive, Maßnahmen zur Militarisierung öffentlicher Dienstleistungen zu ergreifen, Streiks zu verhindern und das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung für 15 Tage einzuschränken. Wie es scheint, sind sie zum bevorzugten Instrument des Staates geworden, um bei Sicherheitsfragen, aber auch bei Konflikten zwischen nationalen und transnationalen Unternehmen und Gemeinschaften mit der Zivilgesellschaft zu intervenieren. Dies geschieht zum Beispiel in San Juan Sacatepéquez, wo seit 2005 ein ungelöster Konflikt zwischen der Kaqchikel-Gemeinde und dem Unternehmen Cementos Progreso herrscht. Obwohl sich 99 Prozent der Einwohner*innen bei einer Befragung der dortigen Gemeinde 2007 gegen den Bergbau ausgesprochen haben, fördert Cementos Progreso weiterhin natürliche Ressourcen – mit Unterstützung der Regierung. Mehr als zwanzig Menschen sind in diesem Zusammenhang getötet worden. In diesen Fällen offenbaren die militärischen Interventionen Absichten anderer Art: Anstatt der Bevölkerung Sicherheit zu garantieren, werden sie zur Einschüchterung eingesetzt. Laut dem guatemaltekischen Kollektiv Festivales Solidarios sind diese „Morde wie der an Schwester Berta Cáceres, Betty Cariño, Macarena Valdez und vielen Verteidigern des Lebens ein Beweis dafür, wie sich Regierungen, Militär und Paramilitärs an der Macht gehalten haben.”

Schon Jimmy Morales, Giammatteis Vorgänger, hatte die Remilitarisierung des Landes vorangetrieben, indem er die Armee in zivile Funktionen wie Katastrophenhilfe und innere Sicherheit einbezog. Ein Beispiel dafür ist der von ihm 2016 im ganzen Land verhängte Ausnahmezustand wegen der Auswirkungen der Regenzeit, die allerdings gar keine Katastrophe von nationaler Tragweite verursacht hatte. Dieses Vorgehen löste in der Bevölkerung viel Kritik aus, denn das Fehlen einer logischen Erklärung zeigte den Machtmissbrauch des Präsidenten und seiner Minister. Bei einer anderen Gelegenheit umgab Morales sich mit Militärs, um anzukündigen, dass er den Vertrag mit der Internationalen Kommission gegen Korruption und Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) nicht verlängern werde.

„Das Militär hat nie aufgehört, direkten Einfluss auf Staat, insbesondere auf Exekutive zu nehmen.“

Der derzeitige Präsident Giammattei setzt die Berufung von Militärs in die wichtigsten öffentlichen Ämter und Sicherheitsorgane fort. So ernannte er beispielsweise den pensionierten General Edgar Leonel Godoy Samayoa zum Innenminister. Godoy Samayoa gehörte dem illegalen Sicherheitsapparat La Cofradía an, der in den 1980er Jahren begann, Zoll und Schmuggel, Steuerbetrug sowie den Transfer von Drogen, Waffen und Migrant*innen zu kontrollieren. In diesem Zusammenhang bekräftigt der Politologe Reyes Illescas, dass „das Militär nie aufgehört hat, direkten Einfluss auf den Staat und insbesondere auf die Exekutive zu nehmen. Teilweise, weil die Gesetze es so regeln, einschließlich der Verfassung der Republik”. Der von der aktuellen Regierung vorgelegte Nationale Plan für Innovation und Entwicklung (PLANID) für 2020 bis 2024 bezieht sich auf Artikel 244 der Verfassung, um die Erweiterung der Ressourcen und Handlungsspielräume der Armee zu rechtfertigen. In diesem Artikel heißt es, dass „die guatemaltekische Armee eine Institution zur Wahrung der Unabhängigkeit ist, der Souveränität und Ehre Guatemalas, der Integrität des Territoriums sowie des inneren und äußeren Friedens und der Sicherheit”. Präsident Giammattei nutzt diese Rechtslage jedoch nicht nur, um die Präsenz der Armee im öffentlichen Raum zu rechtfertigen und zu verewigen, sondern geht noch darüber hinaus.

Das Militär ist wieder stark Schon der vorherige Präsident, Jimmy Morales, umgab sich mit der Armee (Foto: Carlos Sebastian)

Außerdem stellte Giammattei Ende Januar drei Gesetzesinitiativen zur Reform von Sicherheitsbereichen vor, die wegen ihrer Doppeldeutigkeit und des politischen Drucks darauf, ihre Verabschiedung zu beschleunigen, Anlass zur Sorge geben. Die Gesetzesvorlage 5694 sieht die Auflösung des Sekretariats für Sicherheitsangelegenheiten (SAAS) vor, das nach dem Friedensabkommen als Ersatz für den präsidialen Generalstab geschaffen wurde. Die SAAS ist eine zivile Einrichtung, die für die Sicherheit des Präsidenten zuständig ist, im Gegensatz zum Generalstab, der eine militärische Einrichtung war. Giammattei verstößt gegen das Friedensabkommen, indem er die Schaffung einer präsidialen Leibwache vorschlägt, die wieder der Armee unterstehen soll.

Ein weiterer Gesetzentwurf mit der Kennziffer 5693 zielt auf Artikel 24 des Strafgesetzbuches ab und versucht, die Definition „legitime Verteidigung” zu erweitern. Sicherheitselemente und Bürger*innen, die Waffen zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung einer anderen Person benutzen, könnten so von der strafrechtlichen Verantwortung ausgenommen werden. Nach Angaben der Generaldirektion für Waffen und Munition (Digecam) wurden im Jahr 2019 durchschnittlich 116 Waffen pro Tag registriert. Angesichts dieses Panoramas könnte der Entwurf Straffreiheit für diejenigen begünstigen, die Verbrechen mit Schusswaffen begehen, anstatt die Sicherheitsgarantien zu verbessern.

Die Gesetzesinitiative 5692 schließlich zielt auf eine Reform des Dekrets 17-73 und des Artikels 391 des Strafgesetzbuches ab, wodurch Terrorismus als die Absicht der Störung der sozialen und öffentlichen Ordnung definiert wird. Die offizielle Rhetorik versichert, dass die Änderung auf die Bekämpfung von Banden ausgerichtet ist. Die Initiative jedoch erwähnt diese gar nicht, sondern typisiert jede „Gruppe oder Person, die den sozialen Frieden oder die öffentliche Ordnung verletzt” als Terrorist*innen. Daraus ergibt sich die Sorge, dass sie gegen Menschenrechts-, Gemeinde- und Gebietsrechtsverteidiger*innen eingesetzt werden könnte. Allgemein nimmt die Feindseligkeit ihnen gegenüber sichtbar zu.

Während der Corona-Epidemie kommt es zu Entscheidungen hinter verschlossenen Türen

Die Taktik der Regierung, der Armee und der wirtschaftlichen Eliten lässt die Wunden der Vergangenheit wieder aufbrechen. Für Raúl Molina, Mitbegründer und Vizepräsident des Netzwerks für Frieden und Entwicklung in Guatemala steht fest: „Die Streitkräfte, die sich nicht wesentlich verändert haben, befinden sich weiterhin im Krieg gegen die Teile der guatemaltekischen Gesellschaft, die Menschenrechte, Wahrheit, historisches Gedächtnis und Gerechtigkeit fordern, die sie als Kommunisten oder Linke bezeichnen. Die Unterdrückung ist nicht mehr so massiv, aber die Gewalttaten gehen weiter, vor allem in den ländlichen Gebieten. Es ist klar, dass das Ziel darin besteht, das politische, soziale und wirtschaftliche Leben durch Angst zu beherrschen. Machtmissbrauch und Gewalttaten, wie sie während der von Jimmy Morales erklärten Ausnahmezustände im Nordosten des Landes begangen wurden und das militärische Spektakel, als Giammattei die präventiven Ausnahmezustände erklärte, versuchen in der bäuerlichen und Arbeiterbevölkerung Angst zu schüren. Sie erinnern an die Politik des Völkermords und der verbrannten Erde, die die Streitkräfte während des internen bewaffneten Konflikts angewendet haben”.

Für aktive Teile der Gesellschaft endet die Bedrohung damit nicht, denn vor kurzem wurde der als NRO-Gesetz bekannte Gesetzentwurf mittels eines Tricks verabschiedet. In einer seiner Bestimmungen ist festgelegt: „Es dürfen keine Spenden oder externe Mittel für Aktivitäten verwendet werden, welche die öffentliche Ordnung auf nationalem Territorium stören.” Andernfalls „wird sie sofort aufgelöst und deren Führung zur Verantwortung gezogen”. Der Begriff „öffentliches Ärgernis” ist wieder einmal mehrdeutig, es ist das gleiche Muster zu beobachten wie bei anderen aktuellen Gesetzesinitiativen.

Die zweideutigen Gesetzestexte öffnen autoritären Regierungen und dem Eindringen des Militärs in die Innenpolitik Tür und Tor, da sie die freie Auslegung der Behörden erlauben. „Wenn wir zum Beispiel demonstrieren, um Verbesserungen in den Heimen mit staatlicher Kinderbetreuung zu fordern, könnte der Präsident in Erwägung ziehen, dass wir die öffentliche Ordnung stören und das würde bedeuten, dass wir aufgelöst werden”, erklärt Paula Barrios, Koordinatorin der Organisation Frauen verändern die Welt, gegenüber der Online-Zeitung Nómada. Das Gesetz wurde dank des vom Verfassungsgericht gewährten vorläufigen Schutzes ausgesetzt. Giammattei versuchte, wie Jimmy Morales im Fall der CICIG, sich dem Urteil des Gerichtshofs zu widersetzen, musste sich aber dem Druck nationaler und internationaler Organisationen beugen. Widerstrebend kündigte er an, dass sein Regierungsteam eine neue Initiative mit einigen Änderungen vorlegen werde.

Paradoxerweise scheint die Regierung die Zivilgesellschaft für feindlich erklärt zu haben. Interessant ist, dass der Plan der Regierung die Absichten der derzeitigen Administration nicht verbirgt. Er ist voller Hinweise bezüglich der Verteidigung von Unternehmen und Privateigentum und definiert als „Quelle der Kriminalität” ausdrücklich „soziale Konflikte in Spannungsfeldern wie Bergbau, Wasserkraft und landwirtschaftliche Gebiete.” Im Gegensatz zum Wesen einer demokratischen Regierung verbirgt die von Alejandro Giammattei nicht, dass sie sich hauptsächlich um die Interessen der Eliten kümmert. Nur so erklären sich die ständigen Angriffe auf die demokratischen Institutionen in den letzten Jahren.

Hinzu kommt aktuell, dass der zur Bekämpfung der Epidemie von COVID-19 ausgerufene Katastrophenfall nun dazu genutzt wird, wichtige Entscheidungen hinter verschlossenen Türen zu treffen. So geschehen im Fall der Wahl der amtierenden und stellvertretenden Richter des Obersten Wahlgerichtshofes (TSE), die eine entscheidende Rolle bei der Regelung und Überwachung des Verhaltens der politischen Parteien, ihrer Finanzierung und ihrer Aktivitäten spielen. Wie die Zeitung Nómada hervorhebt, „ist das Erreichen eines gefälligen TSE eines der Hauptinteressen undurchsichtiger Parteien.” Anstatt einen Zustand der Prävention anzustreben, scheint sich die neue Regierung Guatemalas in einem anhaltenden Zustand der Perversion zu begeben.

DIE HÜGEL ORGANISIEREN SICH WIEDER

Laut und riesig Demonstrationszug vom benachbarten Viña del Mar nach Valparaíso (Foto: Vania Berríos)

„Ich fühle mich wie am Tag nach dem NO, glücklich“, bemerkt ein Nachbar in einem kleinen Laden im Viertel Cerro Bellavista. Der Tag nach der bislang größten Demonstration Chiles mit über sechs Millionen Teilnehmenden im ganzen Land fühlt sich für ihn und viele andere befreiend an. Nach der Aufhebung der Ausgangssperre ist die Stimmung zum ersten Mal lockerer, der Wind weht Musikfetzen durch die Straßen, es herrscht Wochenendtreiben in den Hügeln. Inzwischen macht sich das Gefühl breit, dass die erste Seite eines neuen Kapitels aufgeschlagen wurde. Wie damals vor 31 Jahren, als die Mehrheit der Bevölkerung gegen ein Verbleiben an der Macht des Diktators Augusto Pinochet für weitere acht Jahre stimmte.
Die letzten Wochen waren voller vielseitiger Gefühle. Das Bewusstsein, einen historischen Moment mitzuerleben, ihn mit zu gestalten. Die Mühe, zu verstehen, was gerade geschieht. Die Ungläubigkeit über die Ausmaße der Proteste. Die riesige Hoffnung, wirklich etwas ändern zu können. Aber auch die Wut und der Schrecken angesichts der Toten, der Verschwundenen, der Gefolterten, der sexualisierten Gewalt… es wiederholt sich. Viele Bewohner*innen von Valparaíso sehen Parallelen zu den siebziger Jahren. Auch jetzt singt die Bevölkerung wieder El pueblo, unido, jamás será vencido („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“) , die Polizei und das Militär reagieren mit Gewalt und agieren, als gäbe es keine Menschenrechte zu wahren, als ob es 30 Jahre Demokratie nie gegeben hätte.

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern

Zwischen Demonstrationen, Polizeigewalt, Plünderungen und kreisenden Militärhubschraubern versuchen die Menschen, ihr tägliches (Über-)Leben zu sichern. Valparaíso hat dabei wie immer zwei Gesichter: Hektik in der Ebene, Ruhe in den Hügeln. In der Ebene, dem Stadtzentrum, gehen tagsüber die Demonstrationen weiter. „Das Volk, das Volk, das Volk, wo ist es? Es ist auf den Straßen und fordert Würde!“, rufen die Protestierenden seit drei Wochen. Genau darum geht es seit Beginn der Proteste: die Würde zurück zu erlangen, die Bedingungen für ein Leben in Würde zu erkämpfen. Vor der Regionalverwaltung und auf den zentralen Plätzen sammeln sich Menschen, halten dort die Stellung oder versuchen, bis zum Kongress zu marschieren. Dabei sind vor allem Studierende und Aktivist*innen sozialer Bewegungen, zunehmend auch Gewerkschafter*innen und Familien. Die Demonstrant*innen schlagen auf ihre Kochtöpfe, die mit anderen Instrumenten zusammen spontane Protestorchester entstehen lassen.
Viele sind demonstrationserprobt, stellen sich Wasserwerfern und Tränengas fröhlich und ohne Angst entgegen. Solidarisch wird allen, die etwas abbekommen haben, eine Lösung aus Wasser und Backpulver ins Gesicht gespritzt. Tanzende Comparsas (Karnevalsgruppen) und Clowns lockern die Stimmung auf. Die Momente, in denen die Polizei mit Gummigeschossen ausrückt, sind gefürchtet, aber die Demonstrierenden lassen nicht locker. Am Rande wird Demozubehör angeboten: Mundschutz für 100 Pesos (umgerechnet 12 Cent) und Zitronen, um den Effekt des Tränengases abzumildern. „Es erstaunt mich immer wieder, wie die Chilenen es selbst unter den widrigsten Bedingungen schaffen, Kleinstunternehmen zu errichten“, bemerkt eine Demonstrantin. Auf dem Weg nach Hause geht sie noch einen Kaffee trinken, auch wenn es schwierig ist, ein offenes Café zu finden.
Denn ein Großteil der Geschäfte ist geschlossen, viele wurden geplündert und in Brand gesteckt. In den ersten drei Tagen herrschte ein reger Verkehr zwischen Stadtzentrum und Hügeln. Menschen schleppten Taschen voller Lebensmittel und Kleidung hoch, Großbildfernseher, später Fahrräder, Zelte und ganze Vitrinen voller Brillen. Autos aller Art, von Klapperkiste bis SUV, fuhren vollgepackt bis ans Dach nach oben. Im Laufe der Protesttage tauchen immer mehr Videos in den sozialen Netzwerken auf, die zeigen, wie den Demonstrant*innen mit erheblicher Gewalt begegnet wird. Bei Plünderungen zeigten sich Polizei und Militär jedoch anfangs völlig überfordert – oder, wie sich in den folgenden Tagen herausstellt, nicht immer willig, diese überhaupt zu stoppen.
So konnte ich beobachten, wie sich die Carabineros von der Plünderung einer Apotheke zurückzogen. Erst als die Apotheke ausgeraubt und in Brand gesteckt worden war, waren sie wieder vor Ort. Videos zeigen außerdem Situationen, in denen Plündernde mit Polizei und Militär verhandeln, um Zugang zu einem Supermarkt zu bekommen. Erfolgreich, denn letztlich dürfen sie den Laden aufbrechen, die Polizei zieht sich zurück und rückt kurz darauf wieder an, um einige Leute festzunehmen.

Ist die Zerstörung der Stadt politisch gewollt?

Ausgehend von Geschehnissen wie diesen, die sich rasant über soziale Netzwerke verbreiten, besteht der Verdacht, die konservative und von der Nationalregierung ernannte Regionalverwaltung ziele darauf ab, die Wirtschaft der Stadt zu zerstören. Bislang wurden 90 Geschäfte geplündert und 15 Gebäude in Brand gesteckt – Grundlage für eine Wirtschaftskrise in der Hafenstadt. Die hiesige Polizei untersteht der Regionalverwaltung, die auf Befehl von Admiral Juan Andrés de la Maza handelt, während des Ausnahmezustands zuständiger Oberbefehlshaber der Region Valparaíso. Die Zerstörung der Stadt könnte politisch gewollt sein, denn nächstes Jahr stehen Kommunalwahlen an. Der bislang erfolgreiche und beliebte linke Bürgermeister Jorge Sharp ist dem konservativen Regionalchef Jorge Martínez schon lange ein Dorn im Auge. Der Verdacht erhärtet sich, als einige Tage später von dem rechten Politiker José Antonio Kast die Twitterkampagne #fuerasharp („Hau ab, Sharp“) angezettelt wird. Die politische Einmischung rechtskonservativer Politiker*innen, die nicht in Valparaíso leben und normalerweise wenig Interesse am lokalen Geschehen zeigen, ist auffällig.
Der Bürgermeister und die Gemeindeverwaltung halten dagegen. „Wir fordern die Bürger auf, sich nicht an den Plünderungen zu beteiligen. Die Zerstörung unserer Stadt ist kein Teil der legitimen sozialen Proteste. Ebenso appellieren wir an die Behörde, der die Sicherheitskräfte unterstehen, keine weiteren Plünderungen zuzulassen. Die Bürger dieser Stadt brauchen Sicherheit“, so das offizielle Statement. Gegen die Zerstörung der Stadt trommelt der Bürgermeister eine Allianz aus Besitzer*innen kleiner Geschäfte, Tourismusbetreibenden, Kleinfischer*innen und Vertreter*innen sozialer Organisationen zusammen. Es gibt öffentliche und live gestreamte Versammlungen, in dem kleinen Fischerhafen Caleta Membrillo und zuletzt im Gymnasium Matilde Brandau de Ross, wo alle zusammen Erfahrungen und Strategien besprechen.
Zunehmend und oft erfolgreich stellen Demonstrant*innen sich den Plünderungen von kleinen Läden entgegen. Selbst bislang unpolitische Leute halten etwa auf der zentralen Plaza Victoria eine Reihe Vermummter davon ab, Parkuhren zu zerstören. „Das zeigt, dass der gesunde Menschenverstand glücklicherweise weiterhin existiert, dass die Leute hier verstehen, worum es bei den Protesten geht“, so Alejandro, ein Demonstrant, der die Szene genau wie ich beobachtet.

Solidarität und Basisorganisation

Eine völlig andere Realität herrscht währenddessen in den Hügeln, wo die Menschen versuchen, ihr Alltagsleben aufrechtzuerhalten. Die öffentlichen Plätze allerdings sehen anders aus als sonst, wenn nur zu bestimmten Zeiten Kinder und Hunde hier toben. Dieser Tage herrscht ein emsiges Treiben. Viele, die nicht an den Demos teilnehmen können oder wollen, treffen sich, analysieren das Geschehen, teilen ihre Anspannung, Ungewissheit, Schrecken und Freude. An einigen Tagen wird gemeinsam gekocht, Musik gemacht, abends werden alle Anwesenden zusammengerufen, um das Tagesgeschehen und weitere Aktivitäten zu besprechen. Pünktlich zum abendlichen Beginn der Ausgangsperre entsteht ein spontanes Konzert, auf Plätzen und aus den Fenstern erklingen Kochtöpfe, Instrumente und in voller Lautstärke El derecho de vivir en paz von Víctor Jara. Über vierzig Jahre neoliberaler Politik haben es nicht vollbracht, die Erinnerungen an Solidarität und Basisorganisation bei den Menschen auszulöschen.
Auf der Plaza Yungay nutzen die Nachbar*innen und Aktivist*innen des Gemeinschaftsgartens den Ansturm für Workshops über Selbstversorgung, städtische Landwirtschaft und Mülltrennung. Ein erstes Beet mit Salat wird angelegt. „Unser Ziel ist es, uns langfristig mit Obst und Gemüse selbst zu versorgen“, so Paola, eine der Aktivist*innen. Die Absicht stößt auf mehr Interesse als sonst, erst einige Tage zuvor hielten die Plünderungen der Supermärkte und die mediale Panikkampagne über drohende Nahrungs­­­mittelengpässe die Bevölkerung in Atem. Dagegen standen die zuverlässigen Versorgungsstrukturen an der Basis, Selbstversorgerprojekte wie dieses, die kleinen Tante-Emma-Läden in den Stadtvierteln und natürlich die Märkte, die problemlos funktionierten. Im Gemeinschafts­garten Yungay ist auch Kompost willkommen, das freut viele, denn die Müllabfuhr kommt schon seit Anfang der Proteste nicht mehr. Die Gemeindeverwaltung schickt allerdings eigene kleine Lastwagen, um den Müllbergen in den Straßen entgegen zu treten und das Chaos ein bisschen zu ordnen. Die öffentlichen Gesundheitszentren und die von der Gemeindeverwaltung betriebenen Apotheken sind geöffnet, ebenso wie teilweise die Schulen, damit die Schüler*innen ihre Mahlzeit bekommen.
Präsident Piñera hat zwar oberflächliche Veränderungen angekündigt, die Protestierenden im ganzen Land wollen jedoch nicht ruhen, ehe er selbst zurücktritt und eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Darauf konzentriert sich jetzt auch die politische Basisarbeit in den Hügeln Valparaísos. Unterstützt durch den Aufruf der Gemeindeverwaltung, wird der Schwung der Proteste zur Stärkung der Stadtteilorganisation genutzt. Die Bevölkerung trifft sich in sogenannten cabildos (Bürger*innenversammlungen), diskutiert und erarbeitet Vorschläge für eine neue Verfassung. Denn alle wissen, dass jetzt der entscheidende Moment ist, um damit zu beginnen, diesem System der institutionellen Ungleichheit gemeinsam ein Ende zu setzen.
Einige Tage nach der Megademonstration beendet Präsident Piñera den Ausnahmezustand, Menschenrechtsbeobachter*innen von Amnesty International und den Vereinten Nationen treffen ein, die Regierung setzt auf Normalisierung.
„Aber ist es ‚normal‘, nach dem was geschehen ist und geschieht, zur Normalität zurückzukehren?“, fragt ein Plakat am streikenden Gymnasium Eduardo de la Barra – dort, wo einst Salvador Allende zur Schule ging, bevor er Arzt und später Präsident von Chile wurde. Wie damals gibt es auch heute wieder Hoffnung für tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Damit dem Neoliberalismus Grenzen gesetzt werden und ein Leben in Würde wieder möglich wird.

 

Newsletter abonnieren