Alte Wege verlassen

Unsere Konzepte von Entwicklung und Natur sind kulturell tief verwurzelt, wie konkrete Sachverhalte zeigen. So war 1791 in der ersten Ausgabe der Tageszeitung El Mercurio Peruano, herausgeben in Lima, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru der spanischen Kolonie, zu lesen, dass der Bergbau die größte, wenn nicht gar die einzige Quelle des Reichtums von Peru sei. Mehr als zwei Jahrhunderte später scheint die Haltung im Grunde dieselbe zu sein, wenn der peruanische Präsident Ollanta Humala entgegen seinen Wahlversprechen den Bergbau erneut vorantreibt. Er tut dies im Bruch mit einem Großteil seiner Wählerbasis sowie entgegen der Empfehlungen von Fachleuten und Forderungen von Aktivist_innen aus der Linken, und verbündet sich stattdessen mit konservativen und wirtschaftsnahen Kreisen.
Peru ist dabei kein Einzelfall. Das günstige Klima für Bergbau, Erdöl- und Erdgasförderung, Monokulturen in der Landwirtschaft sowie andere Formen von Extraktivismus hat sich auf alle Länder Lateinamerikas ausgedehnt, ob nun unter den konservativen Regierungen Kolumbiens oder Chiles, oder unter progressiven wie in Argentinien, Brasilien oder Venezuela. Sie sind auf Exporte ausgerichtet, ziehen schwerwiegende soziale und ökologische Konsequenzen mit sich und folgen den hohen Rohstoffpreisen wie auch der Nachfrage Chinas und anderer asiatischer Staaten. Der größte Bergbaubetreiber ist, entgegen mancher Erwartung, Brasilien. Von 2001 bis 2011, unter der Mitte-Links-Regierung von Luiz Inácio „Lula“ da Silva, wurde der Bergbau massiv ausgebaut. Das Abbauvolumen der wichtigsten Mineralien beläuft sich auf 410 Millionen Tonnen, mehr als das aller Andenstaaten zusammen.
Die globale Gesamtsituation macht die exportorientierte Bergbau- und Agrarindustrie zu einem einträglichen Geschäft. Die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise in der EU und den USA erklärt, warum das Kapital sich vielerorts dem Primärsektor zuwendet. Selbst Staaten, die bisher nie Großbergbaubetriebe hatten, wollen heute davon profitieren, so etwa Ecuador, wo die Regierung Rafael Correas kürzlich Verträge zur Kupferförderung im großen Stil unterzeichnet hat (Lagerstätte Mirador). Oder Uruguay, wo unter Präsident José Mujica die massenhafte Extraktion von Eisenerz vorangetrieben wird (Aratirí-Projekt). In beiden Fällen sind linke Regierungen an der Macht. Das Gleiche geschieht in Kolumbien, wo der konservative Präsident Juan Manuel Santos das Bild von der „Lokomotive“ Bergbau geprägt hat, die die Wirtschaft des Landes anschieben soll.
So lässt sich eine neue Phase der Ausdehnung des Extraktivismus in ganz Lateinamerika feststellen. Der Begriff Extraktivismus beschreibt die Förderung riesiger Mengen von Bodenschätzen, die hauptsächlich für den Export gedacht sind. Die Bergbau- und Erdölstaaten streben eine Erhöhung der Fördermengen durch intensivere Ausbeutung bereits bestehender Projekte, Eröffnung neuer Förderstätten und die Förderung bisher ungenutzter Rohstoffarten an. Dazu gehören zum Beispiel Lithium in Bolivien oder Schiefergas in Argentinien. Bodenerkundungen finden in immer entlegeneren und schwerer zugänglichen Gebieten sowie unter stetig steigenden Risiken statt, etwa im Amazonas-Regenwald oder auf dem Atlantik-Schelf. Auch die Produktion von Agrarrohstoffen gewinnt einen extraktivistischen Charakter: Monokulturen werden auf riesige Flächen ausgeweitet und weitgehend unverarbeitet exportiert. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Sojaanbau in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay.
Lateinamerika übernimmt die Rolle des Rohstofflieferanten der Globalisierung. Seit der Kolonialzeit und über die Zeit der Republiken hinweg kehrt diese Funktion immer wieder in abgewandelter Form zurück. Geändert haben sich nur die Gründe, mit denen die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gerechtfertigt werden. Während sich konservative oder neoliberale Regierungen auf alte Konzepte von der Rolle des Marktes und von ökonomischem Wachstum zur „Ausschüttung“ von Gewinnen für die Gesellschaft beziehen, ist es für Linke schwieriger, den Extraktivismus zu verteidigen, hatten sie diese Form der Rohstoffausbeutung doch unlängst noch kritisiert.
Die Regierungslinke hat jedoch einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Sie hat mit dem Extraktivismus nicht gebrochen, sondern ihn reformiert, zur Erfüllung ihrer Wünsche nach Wirtschaftswachstum und Wählerbindung.
Es stimmt, dass die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien sich deutlich von vorhergehenden Regierungen unterscheiden und dass sie vielfach Erfolge verzeichnen konnten, insbesondere im Kampf gegen die Armut. Man muss aber auch erwähnen, dass diese Fortschritte durch eine Erhöhung der Rohstoffexporte finanziert wurden und den hohen Weltmarktpreisen zu verdanken sind. Der Neue Extraktivismus der progressiven Regierungen geht in einigen Fällen mit einer verstärkten staatlichen Präsenz einher, beispielsweise durch nationale Erdölgesellschaften. Teilweise werden höhere Förderlizenzen oder Steuern verlangt, etwa auf Erdöl und Erdgas in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Der Extraktivismus wird als unverzichtbar für die Finanzierung unterschiedlicher Sozialprogramme erklärt, wenngleich diese häufig nicht über monatliche Transferzahlungen hinausgehen. Zweifellos sind diese Hilfszahlungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung unabdingbar. Soziale Gerechtigkeit darf sich jedoch nicht auf derartige Zahlungen beschränken.
Soziale Auswirkungen, wie die Umsiedlung von Gemeinden oder die Zerstörung regionaler Ökonomien, sowie ökologische Folgen, wie Entwaldung und Umweltverschmutzung, werden regelmäßig klein geredet oder abgestritten. Diese Situation macht den Ausbruch von sozialen Protesten gegen den Extraktivismus verständlich. Die Konfliktlagen bestehen in allen Teilen des Kontinents, von Patagonien bis zur Karibikküste von Guyana und Surinam und unter jedweder Regierung. Die Kontinuität der Ausbeutung von Natur und des ökonomischen Wachstums ist dermaßen deutlich, dass selbst linke Präsident_innen sich über soziale und ökologische Forderungen lustig machen, Anführer_innen der Proteste kritisieren, sie mit Prozessen verfolgen oder ihre Organisationen attackieren. Man solle den Reichtum der Natur des Kontinents nicht nur wie bisher ausbeuten, sagen sie, sondern diesen Trend sogar verstärken.
Der uralte Mythos von Eldorado wird wiederbelebt, einem Kontinent voll natürlicher Reichtümer, die praktisch unendlich seien und die Nachfrage nicht nur der eigenen Bevölkerung, sondern des gesamten Planeten befriedigen könnten. Ökologische Grenzen der Rohstoffausbeutung und des Tempos, mit dem sie durchgeführt wird, werden nicht respektiert. Selbst wenn Probleme eingestanden werden, wird behauptet, diese könnten technisch gelöst werden, beziehungsweise die wirtschaftlichen Gewinne würden die sozialen und ökologischen Schäden wettmachen. Die massenweise Förderung von Rohstoffen dient einem auf materiellem Wachstum basierenden Entwicklungsmodell, das wirtschaftlichen Wohlstand und steigenden Konsum in den urbanen Zentren Lateinamerikas generiert. In den Städten gibt es riesige Einkaufszentren und marginalisierte Bevölkerungsschichten konsumieren heute in vorher ungekanntem Ausmaß.
Vor diesem Hintergrund kommen in einigen Ländern Debatten über den Ausstieg aus der Abhängigkeit vom extraktivistischen Modell auf. Miteinbezogen wird darin der veränderte politische Kontext. In den Debatten kommt die Forderung auf, dass in der Suche nach Alternativen sowohl eine tiefgreifende Diskussion über Entwicklungskonzepte enthalten sein, als auch der politische Diskurs der progressiven Regierungen eine neue Richtung einschlagen muss, der bisher Extraktivismus als notwendig für die Armutsbekämpfung darstellt. In einem Transitionsprozess werden post-extraktivistische Strategien als Alternativen zum bisherigen Entwicklungsmodell angestrebt. Dringende Maßnahmen müssen umgesetzt werden, um die schwerwiegendsten Auswirkungen von Bergbau- und Erdölprojekten zu verhindern. Dazu gehören beispielsweise die Schließung besonders umweltschädlicher Förderstätten oder die Reform der Besteuerungsgrundlagen, um die Notwendigkeit neuer extraktivistischer Investitionen auszuschließen. Weiterhin ist eine ausgewogene territoriale Nutzung notwendig, sowie die Sichtbarmachung der ökonomischen Kosten von sozialen und ökologischen Schäden. Ökologische und ökonomische, soziale und politische Maßnahmen werden miteinander verknüpft, um die Fokussierung auf den Extraktivismus zu entschärfen und tiefgreifende Veränderungen zu ermöglichen. Akute Maßnahmen müssen dabei mit langfristigen Projekten verbunden werden, um den Ausstieg aus dem gegenwärtigen Fortschrittsmodell zu erreichen.

Die Pacha Mama melken

„TIPNIS ist das schwarze Loch der Regierung“, urteilt Raúl Prada in einem Beitrag für die Internetseite bolpress.com. Der ehemalige Vizeminister für strategische Planung gehört seit Mitte 2010 zu den linken Kritiker_innen des bolivianischen Präsidenten Evo Morales. Mit dem „schwarzen Loch“ meint er, dass der Konflikt um das indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isiboro-Securé (TIPNIS) droht, jedes Prestige der Regierung und ihren Anspruch, die indigene Bevölkerungsmehrheit des Landes zu repräsentieren, zu schlucken: „Der Konflikt um TIPNIS hat der Regierung alles abverlangt.“
Die Regierung wollte im vergangenen Jahr bereits eine Überlandstraße durch das per Gesetz „unantastbare“ Schutzgebiet bauen lassen, was aber enorme Proteste provozierte (siehe zum Beispiel LN 449, 450 und 456). Die Demonstrationen gingen von Gruppen aus, die einst zu den wichtigsten Verbündeten der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) zählten und erzwangen einen vorläufigen Baustopp. Derzeit läuft eine Volksbefragung zum Straßenbauprojekt, die bis zum 10. September abgeschlossen sein soll. „Der Kampf um den Erhalt des TIPNIS ist ein Kampf um die Fortsetzung des Prozesses“, schreibt Prada weiter. Er meint den Prozess des Wandels in Bolivien, für den die Regierung Morales einst stand.
Auf der Internetseite bolpress.com häufen sich derartige kritische Aussagen über die Regierung. Auf diesem Forum publizieren einflussreiche Aktivist_innen, Sozialwissenschaftler_innen und Politiker_innen Analysen und Meinungsartikel zur aktuellen politischen Situation in Bolivien. Zahlreiche wichtige Diskussionen gingen von diesem Medium aus. Früher galt die Seite als ausgesprochen MAS-nah, doch dieses Verhältnis hat sich nun gewandelt.
Sehr viele Vertreter_innen von indigenen und anderen sozialen Bewegungen beklagen, dass die MAS den historischen Prozess des Wandels in Bolivien verraten hätte. Deutliche Worte findet der Aymara-Aktivist und Soziologe Pablo Mamani Ramírez. Unter Evo Morales habe sich der „Präsidentenpalast in eine Festung der indigenen Aufstandsbekämpfung verwandelt. […] Die Träume hunderter Männer und Frauen auf einen besseren Tag wurden verraten“, schrieb er in einem Beitrag für das Internet-Portal.
Der bessere Tag, auf den so viele indigene Bewegungen gehofft hatten, sollte zu einem „erfüllten Leben“ führen. Das Konzept des „erfüllten“ oder „guten Lebens“ (buen vivir) ist die zentrale Forderung der indigenen Bewegungen – und der Regierung. Es soll eine Alternative zu klassischen Entwicklungsmodellen bieten. Was das buen vivir genau bedeutet, ist nicht klar. Einfacher lässt sich sagen, was es nicht sein soll: Die Unterordnung von Politik und Wirtschaft unter Profitstreben und den Maßgaben kapitalistischer Wertschöpfung. Konkret sollte sich diese neue Wirtschaftsweise nicht zuletzt in der Abkehr vom Extraktivismus äußern. Seit der Kolonialzeit ist Boliviens Wirtschaft auf die Ausbeutung von Bodenschätzen ausgerichtet, alle negativen Folgen für Menschen und Umwelt wurden dem Bergbau untergeordnet. In den Diskussionen zum buen vivir wird dagegen der Respekt vor Pacha Mama, der Mutter Erde, betont und gefordert.
Doch genau diese Ideen, so sagen linken Kritiker_innen, verfolge die Regierung nicht mehr. Ihre Aussagen zum buen vivir und zum Respekt vor Pacha Mama seien nurmehr Lippenbekenntnisse. Die meisten großen Regierungsprojekte seien zu sehr im alten Entwicklungsdenken verhaftet. Diese Kritik ist leicht nachvollziehbar. Ob es der geplante Abbau von Lithium ist, aus dem Batterien für Elektorautos gebaut werden sollen, oder diverse Staudammprojekte im Amazonasgebiet oder die weitere Erschließung von Erdöl- und Gasquellen: Die großen Wirtschaftspläne der Regierung setzen vor allem auf den Abbau von Ressourcen, den Ausbau von Infrastruktur und Industrialisierung.
Großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik Boliviens hat das Komitee zur Verteidigung des Nationalen Erbes (CODEPANAL), das dem staatlichen Erdölkonzern YPFB nahe steht. Es setzt überwiegend auf konventionelles Wirtschaftswachstum. Doch dieses soll vom Staat ausgehen. Die „progressive Ausweisung transnationaler Erdöl-, Erdgas- und Bergbauunternehmen“ und ihre Ersetzung durch „eigene staatliche Unternehmen“ steht an erster Stelle in der Liste der Ziele von CODEPANAL. Diese antiimperialistisch orientierte Verstaatlichungspolitik soll erreichen, dass die Gewinne aus dem Geschäft im Land bleiben und der Bevölkerung zu Gute kommen.
In der Tat hat die Regierung die Einnahmen aus dem verhältnismäßig guten Wirtschaftswachstum der letzten Jahre in zahlreiche Sozialprogramme investiert, die nach brasilianischen Vorbild eingeführt wurden. Ein Beipiel dafür sind Beihilfen für arme Familien mit Kindern (etwa der Bono Juancinto Pinto). Zahlreiche arme indigene Gemeinden auf dem Land haben dank staatlicher Investitionen erstmals Zugang zu sauberen Trinkwasser erhalten. Derartige Hilfsprogramme erklären die nach wie vor hohe Popularität der Regierung Morales in vielen indigenen Landgemeinden.
Einige, wie der Soziologe Mamani, kritisieren aber gerade diese Hilfsprogramme: Hilfen kämen vor allem den Gemeinden zugute, die sich gut mit der Regierung stellen. So werde die indigene Bewegung Boliviens gespalten. Er sieht den Grund für den sich abzeichnenden Erfolg der Regierung bei der Volksabstimmung über das TIPNIS weniger in der Zustimmung der dortigen Bevölkerung für das Straßenprojekt. Vielmehr seien es die Geschenke seitens der Regierung, die die Bevölkerung auf Regierungslinie bringen.
Ob die Hilfsprogramme wirklich eine Art Bestechung der indigenen Gemeinden darstellen, mag umstritten sein. Sie bieten der Regierung jedoch ohne Zweifel die Möglichkeit, für mehr Akzeptanz für die Entwicklungsprojekte zu werben. Exemplarisch zeigt dies eine Rede von Evo Morales, vom August 2011: „Wenn wir Straßen bauen wollen, sind einige Brüder dagegen. Wenn wir als Regierung mehr Erdgas oder Erdöl fördern wollen, dass die Pacha Mama uns gibt, wollen das auch einige Brüder nicht. Wenn wir Wasserkraftwerke bauen wollen, sind einige Brüder dagegen. Wovon soll Bolivien denn leben?“
So verweist die Regierung auch im Konflikt um die Straße durch das TIPNIS auf den vermeintlichen Nutzen für die Bevölkerung. Über die Straße bekämen die indigenen Gemeinden in dem Gebiet besseren Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen. Kritiker_innen sehen dagegen den Bau der Straße als ersten Schritt zu Erschließung weiterer Erdgasquellen im Naturschutzgebiet. Sie befürchten, dass auf der Straße weniger Schulbusse und Krankenwagen fahren werden als Lastwagen, die Tropenhölzer und Kokablätter von illegal gerodeten Flächen aus dem fragilen Regenwaldgebiet abtransportieren. Die Kritiker_innen der Regierung hinterfragen grundsätzlich, ob Erdölförderung und Industrialisierung überhaupt mit den Interessen der Bevölkerung und der Natur in Einklang zu bringen ist.
Doch Industrialisierung ist das erklärte Ziel der regierungsnahen CODEPANAL. Im vergangenen Oktober publizierte die Organisation einen Entwicklungsplan für die Zeit von 2011 bis 2021. Ziel ist, die Energieproduktion Boliviens zu vervielfachen. Dafür sollen Wasserkraftwerke gebaut werden, was im Regenwaldgebiet Madidi im Nordosten des Landes geplant ist. Dies sei eine „Mindestanforderung, um aus der Dritten Welt in die industrialisierte Zweite Welt aufzusteigen“, wie es im Text von CODEPANAL heißt. Das buen vivir fordert eigentlich die Abkehr von derartigen Hierarchisierungen in „Dritte“ und „Zweite“ Welt, die eine „nachholende Entwicklung“ implizieren. In den Debatten um das buen vivir geht es eigentlich darum, ob angesichts der Klimaerwärmung Pacha Mama nicht besser gedient wäre, wenn man ihr Gas und Öl da lässt, wo es ist, und ihre Flüsse nicht anstaut.
Diese Ignoranz bemängeln immer mehr soziale Aktivist_innen an der Regierung. Zudem stellt sich die Frage, wie neu der Neo-Extraktivismus eigentlich ist. Das Dekret zur Nationalisierung des Erdöls von 2006 trägt den Namen „Helden des Chaco“. Schon der Name erinnert an den Einzug der Erdölkonzessionen des US-Unternehens Standard Oil im Jahr 1937, eine direkte Folge des Chaco-Kriegs (1932-1935). Bereits die damaligen Regierungen des sogenannten „militärischen Sozialismus“ versuchten, die Einnahmen aus der Erdölförderung der armen Bevölkerungsmehrheit zugute kommen zu lassen. Ein ähnliches Muster verfolgte die Verstaatlichung der Zinnminen im Jahr 1952. Doch eine staatliche Kontrolle des Extraktivismus bedeutet nicht, dass weniger Umweltschäden entstehen.
So schreibt Rebecca Hollender von der Sozial- und Umweltorganisation Klimawandel und Gerechtigkeit (ccjusticia) auf bolpress.com, dass die aktuelle Ressourcenpolitik Boliviens ein direktes Hindernis auf dem Weg zum buen vivir darstelle: „Das neo-extraktivistische Modell ist nur ein geringer Fortschritt gegenüber dem, was vorher herrschte: Das klassische extraktivistische Modell, das seit 500 Jahren eine Schneise der Zerstörung durch Umwelt und Gesellschaften in Lateinamerika gezogen und die Länder ökonomisch vom Export von Rohstoffen abhängig gemacht hat.“
Doch solcher Kritik am Neo-Extraktivismus sprechen Regierungsvertreter_innen jegliche Legitimation ab. Der Soziologe Eduardo Paz Rada unterstellt seinerseits Kritiker_innen der Entwicklungspolitik, den revolutionären Wandel im Land zu verraten. In einem Artikel mit dem Titel „Ein falsches Dilemma: Neo-Extraktivismus gegen Umweltschutz“, der auch auf bolpress.com erschien, schreibt er, dass sich multinationale Unternehmen und Umweltorganisationen miteinander verschworen hätten: „Beide Pole sind Teil der imperialistischen Strategie, die wichtigsten Ressourcen des Planeten zu kontrollieren.“
So scheinen sich soziale Bewegungen und Regierung in Bolivien deutlich entzweit zu haben. Doch trotz dieser Konflikte, schreibt Pablo Mamani Ramirez in seinem Artikel, sei der Prozess des Wandels in Bolivien noch nicht tot: „Wenn man meinen Artikel liest, könnte man das glauben.“ Der Prozess müsse nur wieder von den sozialen und indigenen Organisationen ausgehen, und er glaubt, dass dies auch geschehe: „Die Bevölkerung hat sich erhoben und ist nicht bereit, sich wieder niederzuknien.“ Auch nicht vor einer sich indigen gebenden Regierung.

Widersprüchliche Bilanz

René Ramirez, früherer Planungsminister, schrieb im Jahr 2010 im Hinblick auf Ecuadors Entwicklungsstrategie, dass „das größte Alleinstellungsmerkmal Ecuadors seine Biodiversität ist, und sein größter Wettbewerbsvorteil darin liegt, sie durch ihren Erhalt und den Aufbau von Bio- und Nanotechnologie zu nutzen.” Der derzeit gültige Entwicklungsplan 2009-2013 sieht als Hauptziele eine umverteilende Politik und den Umbau der Wirtschaft zu einem neuen Modell vor.
Wie weit ist dieser Umbau heute, im sechsten Jahr der Regierung von Präsident Rafael Correa, gediehen? Die Förderung und der Export von Öl haben heute wirtschaftlich dasselbe Gewicht wie in der Ära des Erdölbooms der 1970er Jahre. Der Staatshaushalt ist in hohem Maße von diesem Wirtschaftszweig abhängig. 2010 machten Rohstoffe mit etwa 77 Prozent immer noch über drei Viertel des Exportvolumens aus, gegenüber lediglich 23 Prozent exportierter Produkte aus der verarbeitenden Industrie. Tourismus, Dienstleistungen und Landwirtschaft befinden sich, anstatt zu expandieren, eher in einer leichten Rezession. Die Agrarpolitik setzt auf industrielle Produktion für den Export oder für Supermarktketten, und benachteiligt die Kleinbauern und -bäuerinnen.
Anstatt ein neues Wirtschaftsmodell zu entwickeln, weitet die Regierung das alte Akkumulationsmodell aus. Obwohl Ecuador kein Land ist, in dem Bergbau traditionell eine relevante Rolle gespielt hätte, setzt die Regierung Correa nun auf industriellen Tagebau als weitere Einkommensquelle für den Staat. So unterschrieb er Anfang März 2012 den ersten großen Vertrag mit einem kanadisch-chinesischen Konzern. Regierungsmedien wie El Telegrafo feierten den Beginn der Ära des „verantwortlichen Tagebaus”, in dem der Staat eine größere Kontrolle über die Branche ausübe.
Bergbauexperten wie William Sacher oder Alberto Acosta bezweifeln jedoch, dass es einen verantwortlichen Tagebau geben kann. Die Erfahrungen aus ähnlichen Projekten in Lateinamerika sprechen jedenfalls dagegen. Es erscheint fraglich, ob die Regierung eines kleinen Staates wie Ecuador die konkrete Praxis transnationaler Bergbau-Konzerne in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards effektiv kontrollieren kann. Diese wechseln nämlich innerhalb eines hochdynamischen und -spekulativen Markts extrem häufig ihren Sitz und damit ihre Rechtsform, und sind deshalb juristisch kaum haftbar zu machen. So bleibt die Verantwortung für die entstandenen Schäden an der Umwelt und der lokalen Bevölkerung, die nach 25 bis 30 Jahren Tagebau ihre Subsistenzgrundlage verloren haben wird, bei der ecuadorianischen Regierung. Dies macht die Rentabilität des Tagebaus auf lange Sicht zweifelhaft.
Vierzehn weitere Tagebau-Großprojekte stehen auf der Prioritätenliste von Ressourcenminister Wilson Pastor, vier davon sind bereits fortgeschritten. Ebenso vorgesehen ist die Ausweitung der Ölförderung auf den Südosten des ecuadorianischen Amazonasgebiets, der einzigen relativ intakten Regenwaldfläche des Landes außerhalb des Yasuní Nationalparks. Wird dies umgesetzt, würde das statt der Umwandlung des extraktiven Akkumulationsmodells seine Intensivierung und flächenmäßige Ausweitung bedeuten, mit dem entsprechenden Verlust an Biodiversität und an Möglichkeiten für einen nachhaltigen Tourismus als alternative Einnahmequelle. Die Überwindung des Extraktivismus wird innerhalb der politisch recht heterogenen Regierung heute tatsächlich nur noch von einer Minderheitenströmung politisch gewollt. Präsident Correa, die einzige Figur, die diese von links bis rechts reichenden Strömungen zusammenhalten kann, sagte in einer Bilanz der ersten fünf Jahre „Bürgerrevolution“: „Im Grunde machen wir innerhalb desselben Akkumulationsmodells die Dinge einfach nur besser, denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu schaden; aber wir haben die Absicht, eine gerechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft zu schaffen.” Immer wieder betont der Staatschef, dass es unverantwortlich wäre, „wie Bettler auf einem Sack Gold zu sitzen”, indem man Ölfelder oder Kupfervorkommen nicht ausbeute, und bezeichnet die Gegner des Extraktivismus als „infantil”, „fundamentalistisch” oder gar als „Steinzeitmenschen”.
Die in der Verfassung verankerten Rechte der Natur, ebenfalls Teil der visionären Konzepte, mit denen Ecuador seit Rafael Correa international bekannt geworden war, erfahren eine recht dürftige und höchst widersprüchliche Umsetzung. Zwar sind, wie in allen anderen Bereichen des Staates auch, die Mittel für den Umweltschutz aufgestockt worden, doch funktioniert das größte Waldschutzprogramm Socio Bosque in sehr konventionellen Bahnen. Es bietet Waldbesitzer_innen Kompensationszahlungen gegen vermiedene Entwaldung, ganz in der Logik des grünen Kapitalismus und der Merkantisilierung der Natur, gegen die Correa sich erst kürzlich im Rahmen von Río +20 ausgesprochen hatte. Auch der Erhalt des Yasuní-Nationalparks ist inzwischen weitgehend ein REDD+-Projekt (siehe Kasten).
Deutlichere Erfolge als in der Überwindung des Extraktivismus wurden bezüglich der umverteilenden Rolle des Staates erzielt. Die durch neue Konditionen in der Ölförderung, aber auch durch die hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt erzielten Einnahmen werden in einer Kombination neoliberaler und sozialdemokratischer Instrumente unter die Leute gebracht: Zum einen handelt es sich um an die Ärmsten gerichtete, konditionierte Transferleistungen (der bono de desarrollo humano beträgt beispielsweise 36 US-Dollar pro Monat), die eine Fortsetzung neoliberaler Abfederungsmaßnahmen bedeuten, allerdings in größerem Maßstab. Zum anderen werden aber auch klassisch sozialdemokratische Politiken umgesetzt, wie die Einführung progressiver Steuern und die Erhöhung der Sozialausgaben mit dem universalistischen Anspruch, kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung für alle verfügbar zu machen.
Doch wenn auch in der Sozialpolitik ein Wille zu mehr Gleichheit zu erkennen ist, wirft der Umgang der Regierung mit den teils heftigen Konflikten, die sowohl die Vertiefung des Extraktivismus als auch der Bau von großen Wasserkraftwerken nach sich ziehen, ernsthafte Zweifel an ihrem Willen auf, auch mehr Freiheit für die ecuadorianische Bevölkerung zuzulassen.
Ein im ersten Halbjahr 2012 von Amnesty International veröffentlichter Bericht wirft der Regierung Correa die systematische Kriminalisierung des Rechts auf Protest vor. Die Organisation kritisiert, dass Strafrechtsparagraphen zu extrem interpretierbaren Delikten wie “Terrorismus” und “Sabotage” angewendet werden, die während der Militärdiktatur der 1970er Jahre eingeführt wurden. Zehn Personen sitzen aufgrund von Verurteilungen wegen Terrorismus oder Sabotage bereits Haftstrafen von bis zu 8 Jahren ab, einige sind abgetaucht, und gegen etwa 210 weitere Menschen wird derzeit noch ermittelt. Auch wenn viele dieser Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen letztlich eingestellt werden, wirken sie doch einschüchternd und verhindern durch den damit verbundenen hohen Zeit- und Geldaufwand, dass indigene und ländliche Aktivist_innen ihr demokratisches Recht auf Protest wahrnehmen können. Darüber hinaus bemängelt Amnesty, dass Protestierende in aufwendigen Werbekampagnen von der Regierung als undemokratische Destabilisierer und Putschisten diffamiert werden, wie es anlässlich einer großen Demonstration im März 2012 geschehen war (siehe LN 455).
Amnesty International konstatiert weiter: „Der Staat hat das Recht auf Vorabbefragung [der indigenen Gruppen] systematisch missachtet und den Gemeinden wenig andere Auswege als den Protest gelassen”. Analysiert werden vor allem die Verabschiedung des umstrittenen Bergbaugesetzes 2009 und die versuchte Verabschiedung des Wassergesetzes 2010, die beide zu indigenen Aufständen und Demonstrationen, Dutzenden schwer Verletzten und einem Toten führten.
In diesem Zusammenhang hat die indigene Bewegung vor kurzem einen international bedeutsamen Erfolg errungen: Nach zehn Jahren Widerstand verurteilte am 23. Juni der interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof den ecuadorianischen Staat wegen einer Reihe von Rechtsverletzungen an der amazonischen Kichwa-Gemeinde Sarayaku. Dort hatte der argentinische Ölkonzern CGC in den 1990er Jahren Probebohrungen durchgeführt. Die entsprechende Lizenz wurde erteilt, ohne dass die Bevölkerung vorher befragt wurde. Der Konzern hatte die Bewohner_innen schikaniert und vertrieben, und schließlich bei seinem Rückzug erhebliche Mengen von Sprengstoff im Boden hinterlassen. Der ecuadorianische Staat wurde nun zu Reparationszahlungen und zur Entfernung des Sprengstoffs verurteilt.
Für die Zukunft wichtig ist, dass das Urteil die Verpflichtung zur Vorabbefragung indigener Völker betont und Ecuador auffordert, entsprechend gesetzgeberisch aktiv zu werden, was ihm eine Relevanz weit über Ecuador hinaus verleiht. Der Justiziar von Rafael Correa, Alexis Mera, verlautbarte nach dem Urteil, der ecuadorianische Staat werde die Entschädigung zwar zahlen, sich das Geld jedoch von Expräsident Lucio Gutiérrez zurückholen. Die Regelung der künftigen Durchführung von Vorab-Befragungen liegt seit vielen Monaten beim ecuadorianischen Parlament.

Kasten:

Visionäre Idee mit holpriger Umsetzung

Die Idee hat das Potential, die Logik des Extraktivismus grundlegend in Frage zu stellen: Im Nationalpark Yasuní im ecuadorianischen Amazonastiefland lagern in den drei Ölfeldern Ishpingo, Tiputini und Tambococha 846 Millionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) Erdöl – etwa 20 Prozent der gesamten Reserven des Landes. Auf Vorschlag des früheren Erdölministers Alberto Acosta will Ecuador das Erdöl im Boden lassen, sofern von internationaler Seite 3,6 Milliarden US-Dollar aufgebracht werden. Dies entspricht der Hälfte der erwarteten Einnahmen, würde Ecuador das Öl fördern. Das Geld soll nicht in die Staatskasse, sondern in einen Treuhandfonds fließen, welcher der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) unterstellt ist und aus dem unter anderem alternative Energien und Aufforstungsprojekte gefördert werden sollen. Bliebe das Öl wirklich unter der Erde, hätte das positive Auswirkungen für die in dem Gebiet lebenden Indigenen, die Erhaltung der Biodiversität der Region und das Klima. International hat die Yasuní-ITT-Initiative viel Lob erfahren, das finanzielle Engagement potentieller Geber_innen fällt jedoch bescheiden aus. Laut offiziellen Angaben hat Ecuador sein Ziel, bis Ende 2011 100 Millionen US-Dollar einzusammeln, zwar erreicht. In den UN-Treuhandfonds wurden bisher allerdings erst wenige Millionen eingezahlt. Der Rest besteht etwa aus einem Schuldenerlass über 50 Millionen US-Dollar seitens Italien sowie einem Beitrag Deutschlands von gut 45 Millionen US-Dollar (35 Millionen Euro), der aber ausdrücklich nicht für den Fonds vorgesehen ist. Denn die deutsche Bundesregierung torpediert die ursprüngliche Ausrichtung des Projektes. Während der Bundestag der Yasuní-Initiative im Jahr 2008 die Unterstützung zugesichert hat, lehnt der aktuelle Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, eine Beteiligung an dem UN-Treuhandfonds vehement ab. Er setzt stattdessen darauf, den Yasuní-Nationalpark durch klassische Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und den auf Marktmechanismen basierenden Emissionshandel REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degregation) zu schützen. Niebel will nicht für das „Unterlassen” einer Handlung bezahlen und spricht offen davon, einen „Präzedenzfall” verhindern zu wollen. Genau diesen wollen die Befürworter_innen des Projektes jedoch schaffen. Die Idee ließe sich potentiell auch auf geplante Bergbau-Projekte anwenden, die als besonders schädlich eingestuft werden.
// Tobias Lambert

Bohren, was das Zeug hält

„Uran bringt Krebs“ prangte auf den Transparenten des Demonstrationszuges. Ende Juli dieses Jahres protestierten die Anwohner_innengemeinden der Uran- und Phosphatmine Itataia bei Santa Quitéria im nordostbrasilianischen Bundesstaat Ceará gegen den Uran-Abbau in ihrer Nachbarschaft. Zu der Demonstration hatten unter anderem die Lokalgruppen der Caritas, der Landlosenbewegung MST und der Landpastorale CPT aufgerufen. Die Mine ist entgegen den Planungen noch immer nicht in Betrieb genommen worden, da die Bundes- und Landesbehörden sich bislang nicht darauf verständigen konnten, welche Behörde für die Erteilung der ordnungsgemäßen Betriebsgenehmigung zuständig ist.
Im Juli 2008 hatte die brasilianische Regierung den Startschuss für den Abbau des radioaktiv belasteten Erzes bei Santa Quitéria gegeben. Angesichts damals gleichzeitig explodierender Weltmarktpreise für Uran und Düngemittel erhoffte sich der Staat ein gutes Geschäft. Denn in der gemischten Uran- und Phosphatmine lohnt sich die Ausbeutung gleich doppelt: Das Privatunternehmen Galvani Mineração plant die geschätzten nahezu neun Millionen Tonnen Phosphat bei einem anfänglichen Produktionsvolumen von jährlich 120.000 Tonnen abzubauen, um den boomenden Agrarsektor Brasiliens mit einheimischen Rohstoffen für die Düngemittelproduktion zu bedienen. Zurzeit importiert Brasilien noch immer rund 75 Prozent seines jährlichen Düngemittelbedarfs aus dem Ausland. Gleichzeitig soll die staatliche Atomfirma Indústrias Nucleares do Brasil (INB) in der Mine Itataia jährlich zunächst 800 Tonnen Uranoxid abbauen. Angestrebt wird die doppelte Produktion. Das gesamte Uranvorkommen der Mine soll sich, so der Präsident der INB Alfredo Tranjan Filho, auf 142.000 Tonnen Uranoxid belaufen. Tranjan Filho erläuterte bei der Eröffnungszeremonie im Jahr 2008, dass der Uranabbau reibungslos und ohne Schäden für Mensch und Umwelt verlaufen werde.
Dies sehen die nun protestierenden Anwohner_innen anders. In den vergangenen Monaten hatten sie mehrmals zu Protesten aufgerufen, um auf die Bedrohung durch den Uranabbau aufmerksam zu machen. Der in Santa Quitéria aufkommende Widerstand hat auch mit den Medienberichten vom vergangenen Jahr über die Proteste der Anwohner_innen der bisher einzigen in Betrieb befindlichen Uranmine Lateinamerikas bei Caetité im nordostbrasilianischen Bundesstaat Bahia zu tun. Dort hatten im Mai 2011 mehr als 3.000 Anwohner_innen einen aus São Paulo kommenden Atomtransport über mehrere Tage erfolgreich blockiert. Die aufgebrachte Menge hatte damals die Zufahrtsstraße zur Uranmine Lagoa Real versperrt und so Verhandlungen seitens der Atomfirma INB und der Behörden erzwungen. Einer Untersuchung von Greenpeace aus dem Jahre 2008 zufolge verseucht die Mine das Trinkwasser von 3.000 Menschen der Region mit Uran, wobei der Grenzwert siebenfach überschritten wird.
Derartiges übersieht die Regierung in Brasília recht leicht. Denn das Land hat anderes vor, rüstet sich für den massiven Ausbau seiner Uranproduktion. So soll der Abbau der Mine Itataia möglichst bald beginnen. Eigentlich sollte der Abbau des Uranerzes bis Ende 2013 starten, wegen der noch ausstehenden Behördengenehmigung geht der Betreiber INB nun von 2015 aus. „Itataia ist fundamental“, lässt INB gebetsmühlenhaft betonen. „Fundamental“ ist die Mine für die neuen Atomkraftwerke und das künftige Atom-U-Boot. Und um diese Atomträume zu befriedigen, braucht es Uran, für dessen Beschaffung Brasilien nicht abhängig von Importen aus dem Ausland sein will. Das Land verfügt derzeit über die sechstgrößten Uranvorkommen der Welt, wobei erst ein Drittel der Landesfläche untersucht wurde – und diese Untersuchungen basieren auf Erhebungen aus den 1970er Jahren. Der Präsident der brasilianischen Nuklearvereinigung ABEN Francisco Rondinelli erklärte, das Land könnte über die zweitgrößten Uranreserven der Welt verfügen. „Wir haben bereits 310.000 Tonnen entdeckt, die für 25 weitere produktgleiche Atomkraftwerke wie Angra 2, bei einer Betriebsdauer von 60 Jahren, reichen würden“, hob er im Juni 2008 stolz hervor. So schwärmen die Geolog_innen und Ingenieur_innen im ganzen Land aus und prospektieren, wo es Uran geben könnte.
Aber sie suchen nicht nur Uran. Neue Erzminen, Gas- und Ölfelder, alles, wonach im Untergrund das Bohren lohnt, findet sich in Brasilien, dem Eldorado des Extraktivismus. In Minas Gerais starteten unlängst die ersten Bohrungen für das sogenannte „unkonventionelle“ Gas, Schiefergas genannt. Dieses liegt in den Gesteinsschichten des Schiefers und wird mittels horizontaler Bohrungen dort herausgepresst: Unter hohem Druck werden Unmengen an Wasser mit einer Unzahl an chemischen, teils hochtoxischen Stoffen in die Gesteinsschichten herein- und das Gas herausgepresst. Diese hydraulic fracturing oder kurz fracking genannte Schiefergasförderung wurde in den letzten Jahren in den USA entwickelt und hat dort zu einem Gas-Boom geführt. Dort streiten sich nun Unternehmen, Wirtschaftsministerium, Umweltbehörden und Anwohner_innen um die Folgen. Verseuchtes Trinkwasser, kranke Anwohner_innen und beeindruckende Bilder von Wasserhähnen, deren Wasserstrahl entflammbar ist, machen in den USA die Runde – in Brasilien sind diese Gefahren derzeit jedoch noch kein Thema. Die Bohrungen im geologischen Becken São Francisco stehen kurz vor der Ausführung, und die Politik lässt sich in der Presse freudig zitieren, wenn sie vom „neuen Gasfieber in Minas Gerais“ träumt. Die Gesamtvorkommen des Schiefergases in Brasiliens Gestein schätzt das US-amerikanische Energieministerium auf sieben Billionen Kubikmeter, gegenwärtig nachgewiesene Reserven des konventionellen Gases liegen bei 395 Milliarden Kubikmetern. Kein Wunder, dass Petrobras, Shell und andere Konzerne die Ausbeute vorbereiten und die Regierung von den Arbeitsplätzen, der Entwicklung und den zu generierenden Einnahmen schwärmt.
Auch Brasiliens Bergbauriese Vale hatte sich an den Probebohrungen für Schiefergas in Minas Gerais beteiligt, unlängst aber die Mehrzahl der Projekte wieder fallengelassen. Vales Vorsitzender Murilo Ferreira gab 2011 bekannt, dass sein Konzern sich wieder mehr auf den Bergbau konzentrieren wolle. Denn richtig Geld verdient Vale mit Eisenerz. Im vergangenen Geschäftsjahr erzielte der weltgrößte Eisenerzproduzent der Welt einen Nettogewinn von 30 Milliarden US-Dollar. Zwar sinkt derzeit die Nachfrage nach Erzen an den Terminbörsen, was die Weltmarktpreise in den vergangenen zwölf Monaten um rund ein Drittel nachgeben ließ, aber der Konzern mit Sitz in Rio de Janeiro will seine Produktion weiter erhöhen. Dazu plant Vale, bei der weltgrößten Erzmine Carajás im Bundesstaat Pará zwei weitere gigantische Minen zu eröffnen.
Das wird die Anwohner_innen der Erzminen nicht freuen. Denn entgegen aller schönen Umweltbeteuerungen haftet dem Konzern nicht gerade das Image eines Saubermanns an. Erst Anfang 2012 wurde Vale im schweizerischen Davos beim „Public Eye People‘s Award“ zum „übelsten Unternehmen weltweit“ gekürt. Bei der offenen Internetabstimmung hatte sich Vale unter anderem gegen die japanische Tepco durchgesetzt, die für den Atomunfall von Fukushima im März 2011 verantwortlich war.
So sehr der Bergbau derzeit noch absolutes Schwergewicht in Brasiliens Wirtschaft darstellt, so bedeutsam könnten sich in Zukunft die vor der Küste entdeckten Ölfelder erweisen. Auf einer Länge von 800 Kilometern, vom Bundesstaat Espírito Santo bis nach Santa Catarina, erstrecken sich die Ölfelder bis zu 350 Kilometer vor der Küste. In einer Wassertiefe von über 3.000 Metern und unter einer zwei bis drei Kilometer dicken Salz- und Gesteinsschicht – daher „pré-sal“, „vor dem Salz“, genannt – liegen schätzungsweise bis zu 100 Milliarden Barrel Öl (ein Barrel sind etwa 159 Liter) sowie riesige Mengen an Erdgas. Für Brasiliens vormaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva waren die Funde vor der Küste damals ein „Geschenk Gottes“, „Gott sei Brasilianer“ und der Petrobras-Chef werde „brasilianischer Scheich“. Würden diese Felder ausgebeutet, so rechnete Greenpeace im vergangenen Jahr vor, würden allein bis 2020 zusätzliche 955,82 Millionen Tonnen an Kohlendioxidäquivalenten in die Atmosphäre entlassen. Brasilien hat sich dazu verpflichtet, die Kohlendioxidemissionen bis 2020 um 38 Prozent zu senken. Wie dies vor dem Szenario des immensen pré-sal gelingen soll, bleibt Brasílias Geheimnis. Das Risiko der Tiefseebohrungen, meint Petrobras, sei komplett beherrschbar – Deepwater Horizon vom Golf von Mexiko läßt grüßen.
Im Land ist es weitestgehend unstrittig, dass ein Großteil der erwarteten Petrodollars aus der Ausbeute des pré-sal in den Bildungsbereich fließen soll. Mehrere Gesetzesvorhaben werden derzeit im Kongress noch verhandelt, der Anteil der Gelder für Bildung soll zwischen 30 und 50 Prozent der erwarteten Royalties aus der Erdölförderung vor der brasilianischen Küste betragen. Damit will Brasília die geplanten Mittel für Bildung im Land auf die Marke von bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigern.
Doch angesichts der künftigen Ausbeutung des pré-sal mahnten Vertreter_innen der Zivilgesellschaft bereits Anfang 2011 eine andere Debatte an. Die gegenwärtige Diskussion offenbare Mängel und Defizite, wenn es allein um Fragen der Verteilung gehe. Vielmehr sei zunächst die Frage zu stellen, welche Konsequenzen die Ausbeutung dieser fossilen Rohstoffe für Umwelt und Gesellschaft habe. Auch stelle sich die Frage nach den Folgen des auf fossilen Energieträgern basierenden Wirtschafts- und Entwicklungsmodells. Doch diese wenigen Mahner_innen werden Brasiliens Extraktivismus-Abenteuer kaum aufhalten können. Zu sehr haben alle Regierungen auf die Ausbeute der Rohstoffe gesetzt, zu sehr lockt der Ruf des schnellen Dollars, der mit Erz, Öl, Uran und weiteren Rohstoffen erzielt wird. Zu wenig werden Fragen nach der ökologischen Tragfähigkeit eines auf Ausbeutung von Rohstoffen fixierten Modells gestellt. Doch damit steht Brasilien in Lateinamerika oder anderswo bei Weitem nicht alleine da.

„Aus Umbau wurde Kontinuität“

Seit Monaten halten zwei massive Bergbaukonflikte Peru in Atem. Sowohl bei den Protesten gegen das Projekt Conga, das den Ausbau einer Goldmine in Cajamarca vorsieht, als auch bei dem Konflikt um die Kupfermine Tintaya im Verwaltungsbezirk Espinar, waren Tote zu beklagen. Zeichnen sich Lösungen für die beiden Konflikte ab?
Eher nicht, denn der Regierung scheint nicht klar zu sein, welche Tragweite diese Proteste haben. Es fehlt an klaren Analysen, warum es zu immer mehr und deutlich massiveren Protesten und Konflikten in Peru kommt. Exemplarisch für dieses Unvermögen steht die Tatsache, dass angesichts der Proteste gegen das Bergbauprojekt Conga zweimal das Kabinett ausgewechselt wurde. Ich denke, dass es weder eine vernünftige Analyse noch eine Strategie und auch keine politisch relevanten Persönlichkeiten gibt, die nach Kompromissen suchen und den Dialog führen. Die Regierung reagiert, sie agiert nicht, um grundsätzliche Probleme zu lösen.

Mit der Wahl von Präsident Ollanta Humala im vergangenen Jahr waren viele Hoffnungen verbunden, beispielsweise, dass der Bergbau mit der Landwirtschaft vereinbar sein müsse. Humala selbst hat die Bedeutung dessen mehrfach betont. Ein Großteil der betroffenen Landbevölkerung bezeichnet ihn inzwischen als Lügner. Zu Recht?
Ollanta Humala hatte viele Hoffnungen geweckt und angekündigt, die Interessen der Bauern, der Gemeinden und auch deren Zugang zum Wasser zu garantieren. Doch einmal im Amt hat sich die Situation schnell und entscheidend verändert. Anfangs gab es noch den politischen Willen ein Bündel von Reformen durchzuführen, die den peruanischen Staat und das Umweltministerium zu einer ernsthaften Autorität im Lande gemacht hätte.
Doch mit dem Aufkommen der ersten Konflikte, vor allem dem Projekt Conga in Cajamarca, aber auch anderen, nahm die Bereitschaft ab, den Wandel in der Umwelt- und Bergbaupolitik des Landes einzuleiten. Aus der Regierung des Umbaus, der Transformation, wurde die Regierung der Kontinuität, des Stillstands.

Da Sie diese Phase quasi hautnah als Vizeminister im Kabinett miterlebt haben – gibt es einen Punkt, wo der Wille zu Reformen den Präsidenten verlassen hat?
Ja, es gibt verschiedene Schlüsselmomente. Im ökonomischen Bereich war die Nominierung von Wirtschaftsminister José Miguel Castilla ein wichtiger Schritt. Dieser war bereits unter Alan García [neoliberal ausgerichteter Ex-Präsident, Anm. d. Red.] im Wirtschaftsministerium einer der Vizeminister und steht für die Kontinuität einer Wirtschaftspolitik, die sich in den letzten zwanzig Jahren kaum verändert hat. Auch die Bestätigung von Julio Velarde als Zentralbankchef war ein Zeichen in diese Richtung, das sicherlich auch potentielle Investoren beruhigen sollte.
Im Umweltbereich wurde hingegen erst im November klar, wohin es gehen soll. Damals kam der Präsident von einer Tagung aus Hawaii zurück und musste feststellen, dass die Proteste zugenommen hatten.

Wie reagierte Humala?
Sehr überraschend: Er entzog uns im Umweltministerium den Rückhalt für die anlaufenden Reformen und entschied, zentrale Funktionen des Umweltministeriums dem Ministerrat direkt zu unterstellen. So entstand faktisch ein zweites Umweltministerium, eine Parallelstruktur, und dort sollten fortan auch die Umweltgutachten ausgewertet werden – eben auch jenes zum Projekt Conga. Für mich war das der Wendepunkt und ich bin von meinem Posten zurückgetreten. Wenig später folgte dann das ganze Kabinett, angeführt von Salomon Lerner [dem damaligen Ministerpräsidenten, Anm. d. Red.].

Ist das Modell des Extraktivismus in Peru an seine Grenzen gestoßen?
Nun gut, die peruanische Regierung hat sich für ein Wirtschaftsmodell entschieden, das auf der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fußt. Aber das ist ein Phänomen, welches in ganz Lateinamerika zu beobachten ist. Alle Regierungen, egal welcher politischen Couleur, stützen sich auf den Extraktivismus. Natürlich gibt es Unterschiede. In Peru und Kolumbien ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in den Händen großer internationaler Konzerne, in Bolivien, Venezuela, Ecuador und auch zu großen Teilen in Brasilien ist es der Staat, der bei der Förderung der Rohstoffe die zentrale Rolle spielt. In allen Ländern gibt es allerdings soziale Probleme und Widerstände gegen die Vernichtung von Schutzgebieten wie derzeit das Beispiel des umstrittenen Straßenbaus durch den TIPPNIS-Nationalpark in Bolivien zeigt.
In Peru ist der Bergbau für rund 60 Prozent der Exporte verantwortlich, sorgt aber nur für rund 100.000 Arbeitsplätze. Trotzdem und obwohl er Arbeitsplätze in der Landwirtschaft gefährdet, soll er weiter ausgebaut werden, wenn es nach der Regierung in Lima geht. So gibt es mehrere Großprojekte, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden sollen, obwohl der Widerstand zunimmt.

Humala hatte sich im Wahlkampf für die Entwicklung eines Flächennutzungsplans ausgesprochen, um die Konzessionierung von sensiblen Flächen durch den Bergbau zu regulieren. Warum ist von einem derartigen Plan, den Sie im Umweltministerium gefördert haben, nichts mehr zu hören?
Das ist ein zentrales Thema, das in den letzten Monaten unter den Tisch gefallen ist, obwohl die Konzessionierung für den Bergbau immer wieder für Konflikte sorgt. Der Hauptgrund dafür ist, dass keine Gebiete von der Konzessionierung ausgenommen sind und die Bevölkerung erst gar nicht eingeweiht, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Zudem gibt es viele Konzerne, die sich Konzessionen für die Zukunft gesichert haben und Bergbauprojekte auf Basis dieser vorbereiten; sie haben kein Interesse an einem Flächennutzungsplan. So steigt der Anteil der Flächen, auf die Konzessionen vergeben sind, stetig an, oft ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung. Für die Debatte über die Frage, wo Bergbau stattfinden darf und wo eben nicht, wäre ein Flächennutzungsplan das richtige Instrument. Wir brauchen klare Strukturen und es ist sinnvoll eine ganze Reihe von Gebieten zu No-Go-Areas für den Bergbau zu erklären. Aus meiner Perspektive gibt es jedoch kaum politischen Willen diese Diskussion zu führen.

In der Region von Huancabamba, im Norden Perus, wehrt sich die lokale Bevölkerung gegen die Ansiedlung einer Kupfermine. In einem selbst durchgeführten Referendum hat sie deutlich gemacht hat, dass sie auf nachhaltige Landwirtschaftskonzepte setzt. Ist das ein Beispiel, das Schule machen könnte?
Ja, durchaus. Bereits 2002 führte ein Referendum zum Ende eines Goldbergbauprojekts in Tambogrande. Aber auch in Guatemala und Argentinien hat sich das Instrument genauso wie in Peru, in Tía María 2009 und Huancabamba 2007, bewährt. Auch in der Region von Cajamarca, wo das Bergbauprojekt Conga geplant ist, ist über ein Referendum diskutiert worden, aber die peruanischen Gesetze sehen dieses Instrument nicht vor. Dabei könnten Referenden eine Alternative nicht nur für Peru, sondern für ganz Lateinamerika darstellen. Es ist schließlich nötig, neue Mechanismen für die Partizipation der lokalen Bevölkerung zu entwickeln.

Welche Lektionen können internationale Investoren aus den Konflikten von Conga und Tintaya lernen?
Es ist klar, dass die Bergbauunternehmen nicht mehr den Bergbau wie vor zwanzig Jahren durchziehen können. Die lokale Bevölkerung stellt Ansprüche und vier Bergseen auszuradieren ist auch in Peru keine kleine Sache mehr. Früher war das möglich, denn der Bergbau ist von oben durchgesetzt, quasi verordnet worden. Heute ist die Zerstörung von vier Lagunen ein Attentat auf die Gemeinden und deren Grundrechte. Die Parameter haben sich verschoben und wir leben in einer Welt, die von der Klimakatastrophe bedroht ist, die längst spürbar ist.

In Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas, sucht man sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Peru. Was kann eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit für Peru bringen und welche Bedeutung kann sie für die Abbauregionen haben?
Das Problem dieser Partnerschaften ist, dass sie nicht auf Augenhöhe stattfinden und auch nicht unbedingt die nachhaltige Entwicklung des betreffenden Landes im Blick haben. Diese Partnerschaften und auch die Freihandelsabkommen auf multilateraler und bilateraler Ebene gehorchen einem Wachstumsimperativ. Verträge wie das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Peru, welches auch ein Thema beim Besuch von Präsident Humala im Juni in Berlin war, verhindern faktisch, dass Staaten wie Peru ihre Umweltschutzbestimmungen verbessern, weil sie die Investitionsbedingungen verändern. Das ist aber in vielen Verträgen untersagt und von den Konzernen faktisch auch einklagbar. Das ist ein gravierendes Problem, da die Umweltschutzbestimmungen in Peru und anderswo erst am Entstehen sind und dringend erweitert werden müssen, wie die zunehmende Zahl von Konflikten zeigt. Ich denke, dass die Rohstoffpartnerschaften der gleichen Logik folgen.

Kasten:

José de Echave
arbeitet für die regierungskritische Sozial- und Umweltorganisation CooperAcción. Der 54-jährige Ökonom war Vize-Umweltminister unter Präsident Ollanta Humala, dessen Mitte-Links-Bündnis seit Juli 2011 regiert. Ende November 2011 trat de Echave aus Protest gegen die Regierungspolitik zurück.

Im Schatten der Industrie

Im April dieses Jahres wandte sich der kolumbianische Senator Jorge Enrique Robledo in einem offenen Brief an Präsident Juan Manuel Santos. Robledo beklagt, dass es offizielle Politik sei, dass transnationale Bergbauunternehmen, trotz der Umweltschäden die sie hinterlassen, und obwohl sie ihre Abgaben und Steuern nicht ordentlich entrichten, mittlerweile den größten Teil der Schürfrechte in Kolumbien kontrollieren. Gleichzeitig unternehme die Regierung alles, um den Kleinbergbau zu behindern und zu kriminalisieren. Robledos Kritik träfe ebenso auf die anderen Andenländer zu.
Kleinbergbau bezeichnet ein komplexes Gebilde unterschiedlicher Schürf- und Anreicherungspraktiken sowie Organisationsformen und gehört vornehmlich zur „Informellen Ökonomie“. Er ist arbeitsintensiv und bietet Einkommensmöglichkeiten; Kleinbergbau basiert in der Regel auf den Aktivitäten von Kleinstunternehmen, Familien, selbständigen Bergleuten und selten auf freier Lohnarbeit. Kleinbergbau reicht vom klassischen Tunnelbergbau in seinen vielfältigen Formen (maschinell oder nicht-maschinell) bis hin zu Mineraliensammler_innen und Goldwäscherei, sowohl in traditioneller Form als auch unter massivem Maschineneinsatz (Pumpen, Flösse, Schlauchanlagen). 90 Prozent aller vom Bergbau abhängigen Familien in den Andenländern leben vom Kleinbergbau in seinen unterschiedlichsten Formen (siehe Kasten).
Seit dem 19. Jahrhundert haben sich Bergbaugemeinden kaum verändert: Gewalt, Drogen und Prostitution bestimmen das Bild; es besteht ein ausgesprochen hohes Risiko für Frauen und Minderjährige für die schlimmsten Formen der Ausbeutung. Ein weiteres Problem sind lokale Händler in den Gemeinden, oft kontrolliert durch organisierte Banden oder Paramilitärs, die niedrige lokale Preise unter dem Börsenpreis an die Bergleute bezahlen und innerhalb bewohnter Ortschaften Quecksilber „verbrennen“, eine höchst gesundheitsgefährdende Praxis.
Der Tunnelbergbau, den wir zum Beispiel noch im Nariño (Kolumbien), im Sub-Medio (Peru) oder in Zamora oder Porto Bello (Ecuador) finden, enstand oftmals im Zuge des industriellen Bergbaus Seit Ende der 1960er Jahre gingen die Renditen der Edelmetallförderung durch fallende Weltmarktpreise zurück. Viele transnationale Unternehmen ließen Tunnelbergwerke ruhen, die durch sogenannte informelle Bergleute seit Ende der 1970er Jahre „still“ besetzt wurden. Kleinbergbau begann dort vor allem mit Mineraliensammler_innen auf den Abraumhalden und zunehmend durch Übernahme des Tunnelbergbaus. Im kleinen Stil lohnte sich etwa die Goldgewinnung zur Existenzerhaltung.
Obwohl in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten viele Millionen Menschen und ihre Familien zunehmend vom Kleinbergbau abhängig sind, steht diese Entwicklung nur bedingt in einem Zusammenhang mit steigenden Börsenpreisen für Edelmetalle oder mit dem Extraktivismus als Entwicklungsmodell. Erfahrungen der internationalen Assoziation für verantwortungsbewussten Bergbau (ARM) zeigen auf, dass zumindest die hohen Preise für Edelmetalle weitgehend an den Kleinbergleuten vorbeigehen. Die Mineralienpreise, die an lokalen Kleinbergbau bezahlt werden, und die Preise für Werkzeug, Diesel, Ausrüstung, Chemie und Kleinmaschinen sind im nahezu gleichen Verhältnis gestiegen. Zentraler Parameter ist dabei die Entwicklung des Ölpreises, der sich im Verhältnis zum Goldpreis exakt parallel nach oben entwickelt hat. Das Hauptproblem des Kleinbergbaus ist jedoch vor allem die rechtliche Formalisierung seitens der Politik, die parallel zur Begünstigung der Bergbauindustrie zu einer immer höheren Barriere wird.
Seit multinationale Unternehmen Konzessionen horten (Concession Grabbing), wachsen die Gemeinden von Kleinbergleuten vor allem in Räumen, in denen sie „illegal“ die ruhenden Konzessionen der Industrie ausbeuten. Dies führt zu schweren Konflikten zwischen der Industrie mit umliegenden Gemeinden, Umwelt und Landwirtschaft, aber auch mit dem Kleinbergbau.
In Fällen, in denen die Ausbeutung von Konzessionen ein gutes Geschäft verspricht oder neue ertragreiche Konzessionen erworben werden können, wird Druck auf Gemeinden, Landbesitzer_innen, aber auch auf Kleinbergleute ausgeübt, um Konzessionen in deren Gebieten zu erlangen und gegebenenfalls auszubeuten. Das ist etwa der Fall in den afro-kolumbianischen Gemeinden des Chocó in Kolumbien, wo dies mit relativ viel Geld oder direkter Korruption geschieht. Die Industrie hat auch nie vor Vertreibung zurückgeschreckt, wobei sie sich vor allem in Kolumbien in der Vergangenheit wiederholt der Paramilitärs bedient hat, ohne die der Extraktivismus in Kolumbien in der heutigen Form gar nicht denkbar wäre.
Im Chocó, im kolumbianischen Cauca, im peruanischen Madre de Diós oder im brasilianischen Río Branco gilt allerdings das Gleiche für mafiöse Netzwerke von Kleinbergleuten, die mit schweren Maschinen und Flössen vordringen, lokale Goldwäschergemeinden bedrohen, sich ihrer Schürf-
rechte bedienen und dafür auch paramilitärische Gewalt einsetzen.
Ende der 1990er Jahre entstanden in der Auseinandersetzung mit der Industrie und den lokalen Behörden, die Kleinbergleute zu kriminalisieren versuchten, im Sub-Medio in Peru große Organisationen von Kleinbergleuten als Ergebnis des Kampfes um Formalisierung und Legalisierung. In einigen Fällen wurde erreicht, sich legal zu etablieren, die Schürfrechte zu sichern und sich zu formellen Unternehmen in Händen der Kleinbergbauleute zu entwickeln.
Heute hat Tunnelbergbau kaum noch etwas mit industriellem Großbergbau zu tun. Während Kleinbergbau existenzsichernd und arbeitsintensiv ist, trägt die Industrie schlicht ganze Berge ab und verwandelt Landschaften in Baggerwüsten.
Dabei ist wichtig festzuhalten, dass die Industrie insgesamt nur einen sehr kleinen Teil ihrer Konzessionen tatsächlich ausbeutet. So nutzt etwa der britisch-australische Bergbau-Gigant Rio Tinto weniger als fünf Prozent seiner Konzessionen aus, der Rest ist spekulatives Kapital.
Da nach den meisten Bergbaugesetzen Konzessionen nicht über mehrere Jahre ruhen dürfen, stellt die Industrie einen Riesenapparat bereit, um die Bergbauministerien zu bearbeiten und Schürf-rechte beständig zu erneuern. Das ist ein natürliches Einfallstor für Korruption, bei dem Gelder an lokale Funktionäre fließen, die dafür Sorge tragen, dass im Zweifelsfall dem Kleinbergbau Schürf-rechte verwehrt werden. Auch werden erhebliche Mittel eingesetzt, um Lobbyarbeit zur Verabschiedung von begünstigenden Bergbaugesetzen zu betreiben. Gleichzeitig stellt die Formalisierung von Kleinbergbau durch Schürfabgaben (Regalías) und Steuergesetze, Genehmigungsverfahren, Teilgenehmigungsverfahren für Anreicherungsanlagen, Landerwerb usw. eine enorme Barriere dar. In unterschiedlichen Etappen wird dabei bei den Bergbau-, Umwelt-, Steuer- und Lokalbehörden die Hand aufgehalten und ohne Rechtsbeistand ist nicht weiterzukommen. Kleinbergleute und ihre Familien ohne Organisation können sich nie und nimmer diesem Prozess aussetzen. Der größte Teil des Sektors verbleibt deshalb in der Informalität, vor allem dort, wo Bergbau nur eine kurzfristige Aktivität und/oder die wirtschaftlichen Vorteile einer Formalisierung unter den gegebenen Voraussetzungen sehr begrenzt sind. Durch dieses Nadelöhr zu schlüpfen ist – neben der Organisierung – der entscheidende Schritt, den Kleinbergbau nachhaltiger zu machen.
Die Politik der verschiedenen nationalen Regierungen begünstigt die Industrie, kriminalisiert und behindert aber den Kleinbergbau im Prozess der Formalisierung. So erkennt das Bergbaugesetz Kolumbiens Kleinbergbau überhaupt nicht an, sondern verwendet den Begriff „illegaler Bergbau“. Die Bemühungen, im peruanischen Bergbaukodex von 2002 erstmalig Kleinbergbau formell anzuerkennen (unter der Regierung von Präsident Alejandro Toledo), wurden durch die Dekrete gegen den informellen Bergbau 2012 zunichte gemacht und lassen ein gefährliches Vakuum entstehen. Dies zeigt das Beispiel in der peruanischen Amazonasregion Madre de Dios, wo die legale Handhabe mit oder in dem Sektor zu arbeiten durch Dekrete zerstört wurde. Verbesserungen im Kleinbergbau können nur durchgesetzt werden, wenn die formelle Anerkennung eine gesetzliche Grundlage bietet, auf der in Richtung von verbesserten Umweltpraktiken, Sicherheit und Gesundheit und des Schutzes von Frauen und Minderjährigen gearbeitet werden kann.

Kasten:

Die unterschiedlichen Formen des Kleinbergbaus

• Formelle Kleinunternehmen mit und ohne Beschäftigte (andere Selbständige und wenige Lohnarbeiter_innen, die in Mineralien bezahlt werden);
• selbständige Bergleute, oder Gruppen von selbständigen Bergleuten, die unabhängig agieren mit und ohne Lohnarbeiter_innen;
• einzelne Familien, die die Mineralien unter sich aufteilen;
• Informelle Kleinstunternehmen, die beispielsweise Gold anreichern (zermahlen, amalgamieren, schmelzen etc.);
• Mineralsucher_innen auf Abraumhalden (vorwiegend Frauen, die Mineralien auflesen und amalgamieren oder als freies Roh-Gold verkaufen);
• Formelle semi-industrielle Kleinunternehmen, die Zyanid-Laugen-Verfahren semi-industriell organisieren;
• Kooperativen oder Aktiengesellschaften von Kleinbergleuten, die als Konzessionshalter_innen fungieren für Andere;
• Kooperativen oder Aktiengesellschaften von Kleinbergleuten, die sich im Bergbau und in der Anreicherung betätigen und Gold vermarkten;
• Indigene oder afro-lateinamerikanische Gemeinden, die Schürfrechte an der Oberfläche besitzen und Konzessionen verhandeln können nach Sondergesetzgebungen (Puna (Jujuy)/ Argentinien, Chocó/ Kolumbien).

Konkurrenz für den Präsidenten

Für Louis Eduardo King ist die Sache klar. „Rafael Correa wird wieder gewählt”, sagt der 19-jahrige Student aus Quito den Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Februar 2013 in Ecuador voraus. Warum? „Weil er beim Volk beliebt ist und außerdem keinen ernsthaften Gegenkandidaten hat.”
Letzteres stimmt seit dem 1. September so nicht mehr: Auf einem Treffen von sechs linken Gruppierungen, darunter die Indígena-Partei Pachakutik, einigten sich die Delegierten auf Alberto Acosta als gemeinsamen Kandidaten. Auch die Rechte formiert sich, so dass der Wahlkampf, anders als bei der Wahl 2009, nun in drei statt in zwei Lagern geführt werden wird. Rafael Correa als Amtsinhaber und klarer Favorit der nächsten Wahl wird sich voraussichtlich mit gleich zwei hochkarätigen politischen Persönlichkeiten messen müssen: Ex-Minister Alberto Acosta und Ex-Präsident Lucio Gutiérrez
Acosta ist ein ehemaliger Freund und politischer Mentor von Correa. Darüber hinaus war der 64-jährige Diplom-Betriebswirt Energieminister im ersten Kabinett der Bürgerrevolution von 2006. Der Wahlkampf könnte sich also zu einem höchst brisanten Duell für den Präsidenten entwickeln.
Acosta wurde überraschend deutlich auf dem Delegiertentreffen in der Universität von Guayaquil mit 55 Prozent der Stimmen zum Herausforderer Correas gewählt. Die absolute Zahl seiner Stimmen betrug 431. Zweiter wurde mit 119 Stimmen Paul Carrasco von der Volksmacht PP, der Präfekt der Provinz Azuay, die stark von Regierungsplänen zur Forcierung des Goldtagebaus betroffen ist. 117 Stimmen erhielt Salvador Quishpe vom parlamentarischen Arm des indigenen Dachverbands Pachakutik. Er ist Präfekt der Provinz Zamora, wo neben dem Kupfertagebau El Mirador mit der Goldmine in Fruta del Norte das bisher größte Bergbauprojekt des Landes entstehen soll. Deutlich weniger Stimmen erhielten Manuel Salgado von der sozialistischen Partei PS und Lenin Hurtado, 45-jähriger Hoffnungsträger der Demokratischen Volksbewegung MPD in der rechten Hochburg Guayaquil. Gustavo Larrea, Mitglied der Beteiligungsbewegung MP und ehemaliger Minister unter Correa, hatte kurzfristig auf seine Kandidatur verzichtet.
Die Plurinationale Koordination für die Einheit der Linken, eine politische Plattform, der verschiedene linke Gruppen und Bewegungen angehören, wurde nach dem „Marsch für das Wasser, das Leben und die Würde der Völker” gegründet. Der Marsch ging am 8. März 2012 von der Provinz Zamora Chinchipe aus. Ihm schlossen sich in der Hauptstadt zahlreiche Demonstrant_innen gegen die Regierungspolitik des großflächigen Bergbaus an. Er offenbarte zum einen das Comeback der zuvor geschwächten indigenen Bewegung als verbindende politische Kraft auf nationaler Ebene. Zum anderen einte er verschiedene linke Bewegungen, die Correa, der sich immer weiter von seiner einstigen Basis entfernte, zuvor noch zähneknirschend unterstützt hatten.
Für Mario Unda, Soziologieprofessor an der Universidad Central in Quito und Mitherausgeber der sozialistischen Monatzeitschrift R, ist „Alberto der beste Mann, um bei den Linken einen tragfähigen Konsens herzustellen“. Außerdem habe er gute Beziehungen zu den Indigenen und sei in der Lage, die von Correa enttäuschten, aber derzeit noch abgetauchten Sektoren für die Linke zu mobilisieren. Schon jetzt geht die vor kurzem noch zerstrittene Linke aufgrund der klaren Mehrheit für Acosta, die seine Führungsrolle unterstreicht, und des weitgehend harmonischen und raschen Wahlprozesses gestärkt aus den Vorwahlen. So sprach Paul Carrasco, der die zweithöchste Zahl der Delegiertenstimmen erhielt, schon beinahe euphorisch von der „neuen Reife“ der Linken.
Acosta selbst sieht seine Kandidatur als „Vorschlag von den Linken, aber nicht nur für die Linke“ und hebt die angestrebte Öffnung für weitere „progressive Sektoren“ hervor. Als prominentester Vertreter der Bewegung Montechristi zur Verteidigung der Verfassung von 2008 will er diese erhalten, während Correa sie reformieren will, damit er seine Extraktivismus-Projekte leichter durchsetzen kann.
Noch etwas unscharf erscheint dagegen das Profil der Rechten, wo derzeit zwei verschiedene Strömungen vorherrschen: eine alt-neoliberale und eine, laut Mario Unda, „mit differenziertem neoliberalen Diskurs”. Diesen Diskurs führt vor allem Guillermo Lasso, seitdem er sich zum Präsidentschaftskandidat der Wahlplattform Movimiento Creo küren ließ. Lasso, bis 2012 Präsident der Bank von Guayaquil, verbindet konservative Elemente mit dem Regierungsprojekt. Der 56-Jahrige lobt die Sozialpolitik und die Infrastrukturmaßnahmen des Präsidenten, übt aber Kritik daran, dass sie ausschließlich aus der Ölrente finanziert werden. Außerdem setzt sich der Ex-Wirtschaftsminister der neoliberalen Regierung Mahuad, die von 1998 bis Anfang 2000 regierte, für mehr private Investitionen, eine weitergehende Liberalisierung der Preise und eine größere Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt ein.
Nichts Neues dagegen gibt es bei den „alten” rechten Parteien und ihren Protagonist_innen, die seit der Wahl Correas zum Präsidenten am 26. November 2006 nur Niederlagen einsteckten. Besonders viel Glaubwürdigkeit hat sie die Ablehnung der neuen Verfassung gekostet. Trotzdem verharrt sie bisher in Totalopposition. Als Präsidentschaftskandidaten stehen Jaime Nebot von der Christlich-Sozialen Partei (PSC), der aktuelle Bürgermeister von Guayaquil und weltweit viertgrößte Bananenproduzent Álvaro Noboa von der Partei der Institutionellen Erneuerung (PRIAN) sowie der ehemalige Präsident Lucio Gutiérrez zur Verfügung.
Gutiérrez, Chef der Partei der Patriotischen Gesellschaft (PSP), die als einzige weitgehend unbeschädigt die Krise der Rechten überstand, will erneut nach der Macht greifen. Er setzt aber auf Vorwahlen und damit auf die Einigung auf einen gemeinsamen Kandidaten. Trotz einer Wählerbasis von 25 bis 30 Prozent für Gutiérrez und seine PSP, dürften die Chancen für Guillermo Lasso als gemeinsamem Kandidaten besser stehen. „Für Correa und auch für die Linke ist er die größere Herausforderung“, analysiert der Soziologe Mario Unda. Lasso als Verfechter eines „neuen Ecuador”, der mit seiner Politik der „Wiedergeburt des Landes” das „erste und zweite Ecuador”, nämlich die Eliten und städtische Mittelklasse mit den Armen und Marginalisierten vereinen will, weicht die programmatische Abgrenzung zum Regierungslager stärker auf.
Das Regierungslager nimmt zunächst den neuen linken Konkurrenten aufs Korn. Orlando Pérez, stellvertretender Direktor der regierungsnahen Zeitung El Telégrafo, veröffentlichte einen polemischen Kommentar zum neuen linken Bündnis mit dem Titel „Willkommen Alberto!“. Außenminister Ricardo Patiño kritisierte via Twitter: „Es ist schändlich und inkonsequent, dass Alberto Acosta den Präsidenten Rafael Correa mit derselben Rhetorik attackiert wie die reaktionäre Rechte… Die echte Linke ist nicht jene, die am besten die revolutionäre Theorie herunterbetet, sondern die, die sie umsetzt, so wie das Correa getan hat.“ Keine Frage, der Wahlkampf nimmt sechs Monate vor den Wahlen endlich Fahrt auf. Und verspricht einiges an Spannung, was Louis Eduardo King seine eindeutige Prognose vielleicht noch mal überdenken lässt.

Kasten:

Wahlen in Ecuador

2009 wurde Rafael Correa mit 52 Prozent als Präsident bestätigt, sein Gegenkandidat Lucio Guitierrez erhielt 28 Prozent der Stimmen. Im Februar 2013 könnte sich der dann 50-jährige Correa ein weiteres und letztes Mal für eine vierjährige Amtszeit wiederwählen lassen. Auch wenn die Wahlentscheidung knapper ausfallen könnte als 2009, wird aktuell nicht mit einem Machtwechsel gerechnet. Ein zweiter Wahlgang bliebe Rafael Correa erspart, wenn er mehr als die Hälfte aller Stimmen erhielte oder 40 Prozent und gleichzeitig zehn Prozent mehr Stimmen hätte als der erfolgreichste Gegenkandidat. Einen zweiten Wahlgang zu erzwingen wäre für den Kandidaten der Linken bereits ein Erfolg. Die Linke will die Wahl nutzen, um bereits für die Präsidentschaftswahlen 2017 ein eigenes Programm zur Diskussion zu stellen. Parallel zu den Präsidentenwahlen finden Parlamentswahlen statt. 2009 gewann Alianza PAÍS, die Partei von Rafael Correa, 59 von 124 Sitzen im Abgeordnetenhaus. Eine bereits beschlossene Wahlrechtsänderung könnte Correas Partei die absolute Mehrheit der Sitze ohne die absolute Mehrheit der Stimmen sichern, weil sie größere Parteien klar bevorteilt.

Der Verfall einer Familie

Der „9. Indigene Marsch“ startete am 27. April im Tieflanddepartamento Beni in Richtung des Regierungssitzes La Paz. Ende Mai begann der Marsch indigener Gemeinden des Hochlandes. Seitdem hat sich die Lage weiter zugespitzt. Zur Debatte steht nicht weniger als das Entwicklungsmodell der Regierung von Evo Morales. Zentraler Konfliktpunkt der Auseinandersetzung zwischen Regierung und den indigenen Organisationen des Tieflandes ist weiterhin der Bau einer Überlandstraße zwischen dem im Departamento Cochabamba gelegenen Villa Tunari und San Ignacio de Moxos, im Amazonasgebiet. Die neue Straße soll nach dem Willen der Regierung quer durch das indigene Territorium und den Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS) führen. Die Diskussion um das Bauvorhaben hält Bolivien seit fast einem Jahr in Atem: Mitte August des vergangenen Jahres begann der erste Protestmarsch der indigenen Organisationen, die befürchten, die Straße befördere illegale Abholzungen und den massiven Zustrom von Kokabauern, welche schon jetzt einen Teil des TIPNIS in Agrarfläche verwandelt haben. Die Mobilisierung wurde überschattet von massiven Anfeindungen seitens der Regierung, die Ende September 2011 ihren Höhepunkt in einem brutalen Polizeieinsatz gegen die Indigenen fanden. Dennoch gelang es den Marschierenden, die Regierung zum Erlassen eines Gesetzes zum Schutz des TIPNIS zu drängen. Das „Gesetz 180“ erklärt das Territorium zum „unantastbaren“ Schutzgebiet und untersagt ausdrücklich den Bau der Straße (siehe LN 450).
Ende des vergangenen Jahres begann daraufhin ein von der Regierung initiierter Marsch von Befürworter_innen der Überlandstraße, der zwar kaum Interesse, geschweige denn Unterstützung von Seiten der Zivilgesellschaft erfuhr, dessen zentralen Forderungen jedoch erstaunlich schnell nachgekommen wurde. Anfang Februar verabschiedete das Parlament das „Gesetz 222“, mit dem die Bewohner_innen des TIPNIS per Referendum über den Status der „Unantastbarkeit“ und somit den Bau der Straße abstimmen sollen. Das „Gesetz 180“ ist damit de facto hinfällig.
Der sich nun seit dem 27. April gen La Paz bewegende Marsch ist somit der dritte, der das hart umstrittene Bauprojekt der Regierung zum Anlass hat. Mit ihm wollen die indigenen Bewegungen die Anerkennung des von ihnen erkämpften Gesetzes zum Schutz des TIPNIS und die Abschaffung des Gesetzes 222 erreichen, welches das Referendum festschreibt. Der Präsident Evo Morales erklärte daraufhin, er könne „nicht verstehen, wie die Führungsriege [der indígenas] sich dem Recht auf ein Referendum widersetzen kann“ und bezeichnete die Forderungen als „verfassungswidrig“. Dabei waren es bis vor kurzem noch Morales und seine Minister, welche angesichts der Kritik bezüglich der ausgebliebenen Befragung der indigenen Bevölkerung des TIPNIS die Position verteidigten, dass laut Verfassung beim Bau einer Straße keine vorherige Befragung der Betroffenen nötig sei.
Die Sorgen der jetzt Marschierenden sind jedoch andere. Denn in dem Referendum soll nicht direkt die Position bezüglich des Straßenbaus abgefragt werden, sondern eine Entscheidung über die „Unantastbarkeit“ des TIPNIS gefällt werden. Anstatt also über das Problem selbst abzustimmen, so wie internationale Richtlinien dies vorsehen, soll die Bevölkerung des TIPNIS über den von dem letzten indigenen Marsch erstrittenen Lösungsvorschlag entscheiden – also nur indirekt in die Entscheidung über das Bauprojekt einbezogen werden. Vor allem jedoch sieht das Gesetz, im Einklang mit den internationalen Verträgen zum Schutz der Rechte indigener Bevölkerungen, eine „vorherige, freie und informierte“ Befragung der Bewohner_innen des indigenen Territoriums vor, und eben diese sehen die Indigenen sowie zahlreiche Beobachter_innen nicht gewährleistet. So stellt Amnesty International (AI) in einem Anfang Mai an die bolivianische Regierung gerichteten Schreiben in Frage, ob man von einer „vorherigen Befragung“ sprechen könne, obwohl die Pläne für den Verlauf der Straße seit Jahren feststehen und der Bau außerdem so weit fortgeschritten ist, dass nur noch das durch das TIPNIS führende Teilstück fehlt. AI kritisiert zudem, dass die Regierung sich dem Dialog mit den Gegner_innen des Bauprojekts beständig verweigert hat und auch das Protokoll, welches den Ablauf des Referendums regelt, nicht mit diesen abgestimmt hat.
Auch die Frage, wie „frei“ die Befragung sei, beschäftigt AI ebenso wie die Teilnehmer_innen des 9. Indigenen Marsches. Zum einen hat die Regierung seit dem Protestmarsch letzten Jahres nachweislich massiv in die Machtverhältnisse in den indigenen Gemeinden des TIPNIS eingegriffen und versucht, aufmüpfige Autoritäten zu isolieren und durch regierungsfreundliche zu ersetzen. Gleichzeitig erkennt sie legitime, aber widerständige Institutionen und gewählte Autoritäten nicht an und hat stattdessen unter Umgehung dieser Abkommen zur „Verbesserung der Lebensbedingungen“ mit Parallelorganisationen und Gemeinden geschlossen. Zum anderen ist das TIPNIS in den vergangenen Monaten auch Schauplatz ganz offener Regierungsinterventionen. Nicht nur wurde die Militärpräsenz, angeblich zwecks Durchsetzung von „Entwicklungsprojekten“, hochgefahren, auch der Präsident und einige seiner Minister haben dem indigenen Territorium Besuche abgestattet. Wenige Tage bevor die indigenen Autoritäten des TIPNIS zusammenkamen, um ihre Position gegenüber dem Referendum festzulegen, reiste Evo Morales durch die Gemeinden und verteilte Geschenke und Versprechen: Motoren für Boote, Schulmaterialien, sogar neue Häuser und eine Antenne fürs Handynetz stellte er in Aussicht. Ein Repräsentant des TIPNIS bezeichnete den Akt als „Provokation“ und „Respektlosigkeit gegenüber der indigenen Bewegung, deren oberster Repräsentant er zu sein verkündet“. In Anbetracht dieser Tatsachen mahnt AI, dass die Befragung nicht als Prozess verstanden werden darf, durch den die indigenen Gemeinden zu einem Ja oder Nein gebracht werden sollen, sondern als Verhandlungsprozess, an dessen Ende ein Übereinkommen zwischen allen Betroffenen und zwischen diesen und dem Staat steht. Hierfür allerdings fehlen laut AI die „nötigen Minimalbedingungen“.
Daran etwas zu ändern scheint derzeit nicht zu den Prioritäten der Regierung von Evo Morales zu zählen. Zwar hat sie mittlerweile den umstrittenen Vertrag mit der brasilianischen Firma OAS, die für den Bau der Straße verantwortlich ist, wegen Verzögerungen bei den Arbeiten gekündigt – am Streckenverlauf durch das TIPNIS aber hält sie eisern fest. Gleich zu Beginn des Marsches machte sie zudem klar, dass sie gegenüber den Protestierenden auch weiterhin eine harte Gangart fahren will: Die Büroräume einer der oppositionellen „Bewegung ohne Angst“ (MSN) angehörenden Parlamentarierin, die den Marsch finanziell unterstützt, wurden illegal belauscht und das Audiomaterial dann von der Regierung an die Medien weitergereicht. Und auch die regierungsnahen Sektoren, insbesondere der der Kleinbauern und -bäuerinnen, sind nicht von ihrem Konfrontationskurs gegenüber den Indigenen abgerückt. Wie schon im Verlauf des Protestmarsches des vergangenen Jahres errichteten cocaleros und andere der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) nahe stehende Kleinbauern Straßenblockaden, um die indígenas am Weiterkommen zu hindern. In der im Beni gelegenen Ortschaft San Ignacio wurden die Zufahrtsstraßen zum Stadtzentrum mit Stacheldrahtrollen blockiert, die indigene Radiostation „Arairu Sache“ zerstört und die Marschierenden mit Drohungen und rassistischen Schmähungen überhäuft. Das Departamento wird mittlerweile von einer Koalition der MAS mit der rechten, ihr einstmals verhassten Nationalistischen Revolutionären Bewegung (MNR) regiert. Da die MAS sich zudem mit den regionalen Großgrundbesitzern über die Notwendigkeit des Baus der Straße einig ist, konnten die Aktionen gegen den indigenen Protest als Zusammenarbeit des MAS-nahen Gewerkschaftsverbandes mit den ultrarechten „Zivilkomitees“ erfolgen, die noch 2008 beim Putschversuch gegen die Regierung eine maßgebliche Rolle spielten.
Dabei sind diese Konflikte vielleicht nicht einmal die schwerwiegendsten, mit welchen die indigenen Bewegungen des Tieflandes sich derzeit auseinandersetzen müssen. Neben starken Regenfällen, die den Marsch nur langsam vorankommen lassen und die Zahl der Teilnehmer_innen geringer als erwartet hat ausfallen lassen, sind es vor allem die Spannungen innerhalb der Organisationen, die zunehmend zum Problem werden. Der Präsident des indigenen Dachverbandes Konföderation der Indigenen des Bolivianischen Ostens (Cidob) und einer der Hauptverantwortlichen des 9. Indigenen Marsches, Adolfo Chávez, wird inmitten der Mobilisierung massiv von verschiedenen Regionalverbänden angegriffen. Einer der Gründe dafür ist, dass Chávez vor kurzem ein Abkommen zum Bau von Häusern für Indigene mit dem rechtsradikalen Gouverneur von Santa Cruz traf und auch ansonsten kaum Distanz zur rechten politischen Klasse des Tieflandes gesucht hat. Damit leistet er den Anschuldigungen der Regierung, der Marsch sei von den rechten Gruppierungen gelenkt, weiter Vorschub. Und tatsächlich versuchen auch diese, immer stärkeren Einfluss auf die Geschehnisse zu nehmen – in vielen Solidaritätskomitees für den indigenen Marsch haben mittlerweile Vertreter_innen der traditionellen Parteien das Sagen. Gleichzeitig wurde auch dem Präsidenten der Zentrale der Indigenen Völker Benis (CPIB), dem aus dem TIPNIS stammenden Pedro Vare, von einem Teil der in der Organisation vereinten Gruppierungen das Vertrauen entzogen und sein Ausschluss aus der CPIB verlangt. Im Gegensatz zu Chávez wird ihm allerdings vorgeworfen, gemeinsame Sache mit der Regierung zu machen. Seine Wandlung von einem glühenden Gegner der Überlandstraße zu einem Gegner des indigenen Marsches und Verfechter einer „Verhandlungslösung“ wurde von einem vor Kurzem geleakten Strategiepapier der Regierung vorweggenommen. Laut diesem gelang es Mitarbeiter_innen der Regierung, Vare als Schlüsselfigur zur Schwächung des Marsches zu etablieren.
So wächst mit jedem der 600 Kilometer, die der 9. Indigene Marsch bis zum Regierungspalast wird zurücklegen müssen, die Spannung zwischen den verfeindeten Blöcken. Dass eine der beiden Seiten von ihrer Position abrücken könnte steht derweil kaum in Aussicht. Denn die Auseinandersetzung dreht sich längst nicht mehr allein um den Bau einer Straße. Vielmehr steht das von der Regierung um Evo Morales eingeschlagene Entwicklungsmodell sowie die Art und Weise, dieses durchzusetzen, zur Debatte. Während die indigenen Bewegungen versuchen, das „plurinationale“ Staatsmodell und damit ihre Rechte und Territorien zu verteidigen, forciert die Regierung zunehmend die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes, sucht die Anbindung an internationale Märkte, und schafft für beides die nötige Infrastruktur. Für „Plurinationalismus“, in diesem Fall in Form autonomer indigener Mitbestimmung, scheint dabei nur dort Platz zu sein, wo er nicht stört: als Diskursformel auf internationalem Parkett und da, wo er nicht in Konflikt mit der Verwertungslogik gerät.
So ist es nicht verwunderlich, dass der nächste große Konflikt zwischen der Regierung und indigenen Gemeinden nicht lange auf sich warten ließ. Wenn der Marsch der indigenen Bewegungen des Tieflandes wie geplant Mitte Juni La Paz erreicht wird er dort mit dem Protestzug der Organisation der indígenas aus dem Andenraum, CONAMAQ, zusammentreffen, um gemeinsam gegen die Regierungspolitik zu protestieren. Mit dem Marsch, der Ende Mai vom Norden des Departamentos Potosí aus aufbrach, wehrt CONAMAQ sich gegen ein geplantes Minenprojekt in der indigenen Gemeinde Mallku Khota, welches drei indigene Territorien in Mitleidenschaft ziehen würde. Seit dem Jahr 2007 führt hier die kanadische South American Silver (SAS) Explorationsarbeiten durch. Die Firma und die Regierung gehen davon aus, dass Mallku Khota die größte Silber- und Indium-Mine Lateinamerikas werden wird. Die Bewohner_innen der Gemeinde hingegen befürchten, dass es zu massiven Umweltschäden und Wasserknappheit kommen wird. Zwar gelang es den indígenas der betroffenen Gemeinde im Jahr 2010, die Firma kurzzeitig zu vertreiben, vergangenes Jahr aber wurden die Arbeiten wieder aufgenommen. Nachdem es nun im Mai zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Befürworter_innen und Gegner_innen der Mine kam, wurde die indigene Autorität von Mallku Khota und Anführer der Proteste, Cancio Rojas, festgenommen. Ihm werden unter anderem versuchter Mord, Entführung, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Aufruf zu Straftaten vorgeworfen. CONAMAQ marschiert deswegen auch für die sofortige Freilassung Rojas.
Sollte es den beiden Märschen gelingen, eine ähnlich große Aufmerksamkeit und Solidarität zu erreichen wie die Proteste des vergangenen Jahres, wird die Regierung wohl gezwungen sein, kreative Antworten auf das Dilemma um indigene Rechte und das auf Extraktivismus zentrierte Wirtschaftsmodell zu liefern. In jedem Fall steht Bolivien ein heißer Winter bevor.

Lernen vom Schüler

„Fast alltäglich waren apagones (Stromausfälle). Wenn der Kühlschrank ausfiel, brach ich die fetten Batzen gefrorenen Wassers aus dem Eisfach, bevor es meine Wohnung fluten konnte. Ich legte sie aufs Fensterbrett und sah zu, wie sich in der Januarhitze Tropfen um Tropfen aus der Masse löste, und wie sie die sechs Stockwerke weit nach unten fielen und auf das Dach der Druckerei platschten.“
Die tiefe Krise Argentiniens mit ihren täglichen Stromausfällen Anfang der 1990er Jahre, die Sebastian Schoepp während eines einjährigen Arbeitsaufenthaltes beim Argentinischen Tageblatt in Buenos Aires miterlebte, ist Ausgangspunkt seiner facettenreichen Beschreibung der aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika. Diese fielen in den letzten zehn Jahren überraschend positiv aus, wenn man sie mit den letzten vierzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts vergleicht: eine Zeit, die von Militärputschen, Diktaturen, einem „verlorenen Jahrzehnt“ und wiederkehrenden ökonomischen Krisen geprägt war.
„In fast allen Ländern etablieren sich innerhalb weniger Jahre Demokratien, die nicht mehr so leicht ins Wanken zu bringen sind wie ihre Vorläufer. Die Wahlen verlaufen in der Mehrzahl fair und frei. Ja, mehr noch: Manche Regierungschefs erreichen Zustimmungsraten, von denen europäische Politiker nur träumen können. Die Wirtschaft, jahrhundertelang das Hauptproblem Lateinamerikas, boomt nicht nur, sie zeigt sich sogar krisenresistenter als die Europas und Nordamerikas. Die Armut, zwar immer noch das drängendste Problem, wird durch Sozialprogramme signifikant verringert. Der Mittelstand wächst,“ so fasst es Schoepp in seiner Einleitung „Gute Nachrichten aus Lateinamerika“ zusammen. Seit 2005 ist er als außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Spanien und Lateinamerika zuständig.
Anschließend nimmt Schoepp seine Leser_innen mit auf eine Zeitreise durch Ecuador, Bolivien, Peru und Nicaragua vor 2002, in das Argentinien nach der Krise unter Néstor und Cristina Fernández de Kirchner (seit 2003), nach Bolivien, das Morales (seit 2006), und nach Brasilien, das Lula (2003 bis 2011) zum Präsidenten wählte. Seine Analysen der politischen, sozialen und ökonomischen Fakten bettet er ein in Reportagen von zahlreichen Reisen durch den Kontinent, hin und wieder ergänzt von kurzen Interviews, die er mit Schriftsteller_innen, Wissenschaftlern und Politikern führte.
Von Kapitel zu Kapitel entsteht so ein immer vielschichtigeres Bild eines Kontinents im Wandel, bei dem Schoepp kaum einen wichtigen Aspekt auslässt: die indigenen Bewegungen in den Andenländern und die Sozialprogramme Brasiliens, Extraktivismus und Neo-Extraktivismus, das mögliche Ende des Drogenkrieges und die Aufarbeitung der Militärdiktaturen, die Bedeutung der Schriftsteller_innen für den gesellschaftlichen Wandel und die wechselhaften Migrationsflüsse zwischen Europa und Lateinamerika. Besonders eindrücklich ist seine Beschreibung immer dann, wenn der Autor das Land und seine Verhältnisse sehr gut kennt und uns mit seinen Reportagen direkt in das Herz der jeweiligen Gesellschaft führen kann. Wirklich spannend ist auch das Kapitel „Heimkehr in die Fremde“ über Lateinamerikaner_innen in Barcelona, wo Schoepp ebenfalls ein Jahr verbrachte, und das sich der identitätsstiftenden Wirkung des Exils widmet. Auch die Exkurse des Autors in die Geschichte Lateinamerikas sind immer treffend, informativ und bereichern das jeweilige Thema, so erfahren wir zum Beispiel, wie das Erbe der Hidalgos mit dem Extraktivismus und dem Urteil gegen Chevron im Jahr 2011 zusammenhängt.
Doch die größte Stärke von Das Ende der Einsamkeit ist zugleich seine größte Schwäche. Denn in den Kapiteln, in denen die Reportagen die Leser_innen nicht auf eine spannende Reise mitnehmen, bleiben die Analysen recht oberflächlich und sehr auf die Regierungspolitik beschränkt. Schoepps Kapitel über Brasilien „Lula Superstar“ bezieht sich ganz auf diesen und seine Bedeutung für die internationale Politik.
Nicht nur, dass die starken sozialen Bewegungen in Brasilien praktisch nicht erwähnt werden, auch die Analyse der Erfolge Lulas greift zu kurz. Dass wichtige politische Ziele der Regierungspartei PT – wie die Landreform oder der Schutz der indigenen Gebiete – nicht eingelöst wurden, ist nicht nur eine Randnotiz einer ansonsten erfolgreichen Entwicklungsstrategie. Die fehlende Veränderung grundlegender gesellschaftlicher Strukturen – wie die Verteilung des Landbesitzes – birgt die Gefahr, dass die Politik der 1980er und 1990er Jahren von denselben Eliten fortgesetzt werden kann, sobald es ihnen gelungen ist, wieder die Führung des Staates zu übernehmen.
Das Kapitel über Venezuela – das sich über weite Strecken um eine differenzierte Darstellung bemüht und sogar Kritik an der Form der deutschen und internationalen Berichterstattung über Chávez übt – mündet überraschend in eine vernichtende und pauschale Kritik am venezolanischen Präsidenten. „Seine Kollegen in den Nachbarländern denken gar nicht daran, den nebulösen Weg der ’bolivarischen Revolution’ mitzugehen. Sie wissen, dass Chávez’ System in der Praxis nichts anderes ist als der auf Klientelismus basierende Ansatz eines lückenhaften Staatskapitalismus.“ Erstaunlicherweise schließt Schoepp dieses Kapitel dann mit der Feststellung „Trotzdem wäre das ‚neue Lateinamerika’ – vor allem die Umwälzungen in Ecuador oder Bolivien – ohne seine kantigen Reden und seine Petrodollars nicht denkbar gewesen.“
Das Ende der Einsamkeit, dessen Titel ebenso auf den Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez wie auf Das Labyrinth der Einsamkeit von Octavio Paz verweist, endet mit einem optimistischen Ausblick: Ausgerechnet aus Kolumbien kommt in einer der schönsten Reportagen eine weitere gute Nachricht aus Lateinamerika. Fast schade, dass dieses Buch nicht ein Jahr später erschienen ist. Hätte doch Schoepp seine These, dass die Welt von Lateinamerika lernen kann, im Jahr des arabischen Frühlings, der Besetzungen in Spanien und der Griechenlandkrise besonders gut an der Realität überprüfen können.

Sebastian Schoepp // Das Ende der Einsamkeit. Was die Welt von Lateinamerika lernen kann // Westend Verlag // München 2012 // 288 Seiten // 17,99 Euro

„Eine Alternative zur Entwicklung“

Wie ist die Rücknahme der Zusagen zu Yasuní-ITT von Seiten Dirk Niebels einzuordnen?
Seit der öffentlichen Vorstellung der Initiative im Jahr 2008 erhielt sie viel Unterstützung – aber auch Widerspruch, gerade innerhalb der Regierung. Insbesondere Correa selbst zweifelt immer wieder. Der deutsche Bundestag hat indes sehr wohl und zwar mit Zustimmung aller Fraktionen seine Unterstützung eindeutig beschlossen, es wurde sogar eine Studie der GTZ zur Initiative finanziert. Die – definitiv zugesagte! – Unterstützung Deutschlands war sehr wichtig für die Unterstützer der Initiative.

Sehen Sie eine Chance, dass sich an der Haltung der Bundesregierung noch etwas ändert?
Ich bin ein optimistischer Mensch. Deshalb glaube ich, dass man einen Kampf nicht verloren geben sollte, bevor er zu Ende ist. Vielleicht können wir sie im nächsten Jahr dazu bewegen, die ITT-Initiative zu unterstützen.

Und was ist mit weiteren Geldgebern?
Es gibt natürlich andere Geldgeber, zum Beispiel sind ja die Verhandlungen mit Spanien erfolgreich gewesen. Weiter vorangeschritten sind auch die Verhandlungen mit Italien. Chile hat bereits Geld eingezahlt und wird seinen Beitrag noch erhöhen. Auch Peru hat Mittel angeboten und will die Initiative sogar auf eigene Gebiete ausweiten. Und es gibt weitere Geldgeber, zum Beispiel einige Staaten der OPEC. Verhandlungen gab es wohl auch mit den USA. Aber ich bin ja nicht mehr in der Regierung, also kenne ich nicht den letzten Stand.

Wie ist Ihr Kontakt zur Regierung?
Ich habe selbstverständlich immer noch Kontakt zu Regierungsmitgliedern. Viele sind meine Freunde, oft seit Jahrzehnten. Nicht gesprochen und auch nie wieder getroffen habe ich Präsident Correa.

… der die Politik der Regierung zuweilen ziemlich deutlich bestimmt.
Correa ist Ecuadors Präsident. Vor allem aber erleben wir ein personalisiertes Regierungsprojekt mit ihm als zentraler Figur: Diese Rolle geht schon auf die Zeit zurück, als wir die Kandidatur vorbereiteten. Wir hatten keine Partei oder Organisation. Damals trafen wir uns im Esszimmer meines Hauses: Dort gibt es einen Tisch mit sechs Stühlen – wir brauchten am Anfang nicht alle. Und erst nach seinen 104 Tagen als Finanzminister unter der Vorgängerregierung war Correa ein im ganzen Land bekannter Politiker. Beides zusammen erklärt, weshalb einige Dinge so verliefen: Wir mussten Correa als Identifikationsfigur aufbauen, um mit ihm die Wahlen zu gewinnen, und wir mussten eine Regierung um den neuen Präsidenten organisieren. Seit den Auseinandersetzungen um eine neue Verfassung hat sich die Regierung konsolidiert, nicht aber die politische Bewegung. Alles bewegt sich um Präsident Correa. Das ist eine der Schwächen.

Ist es ein Resultat dieser Schwäche, dass es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Regierung und sozialen Bewegungen gibt?
Unser Programm war nie eine persönliche Agenda. Wir griffen die zuvor von sozialen Bewegungen formulierten Alternativkonzepte auf und erarbeiteten daraus ein Regierungsprogramm. In der Verfassunggebenden Versammlung waren die Forderungen der Indigenen – wie der plurinationale Staat, kollektive Rechte, das Buen Vivir und die Rechte der Natur – maßgeblich vertreten. Die sozialen Bewegungen standen dann auch hinter der neuen Verfassung. Die Spannungen begannen, als es darum ging, die neue Verfassung anzuwenden und konkrete politische Projekte umzusetzen. Es gab dann Momente, in denen die Regierung Correa versuchte, den indigenen Dachverband CONAIE zu spalten. Ein großer Fehler!
Präsident Correa und seine Regierung sind oft nicht in der Lage, Räume für die Beteiligung breiter Teile der Gesellschaft zu schaffen. Nicht als Teil der Regierung, sondern als Teil des politischen Willensbildungsprozesses, in Debatte und Streit. Wir wollen dieses Land gemeinsam konstruieren, also: Lasst es uns auch gemeinsam machen!

Die Verfassung von Montecristi war das große gemeinsame Projekt von sozialen Bewegungen und Regierung. Welche Rolle spielt die neue Verfassung in der politischen Praxis?
Die Verfassung enthält einige sehr innovative Elemente. Sie dient als Referenzpunkt für das, was die Regierung tun muss und wie die Gesellschaft zu organisieren ist. In der politischen Praxis resultieren daraus aber Widersprüche, einige davon finde ich verständlich. Es ist nicht einfach, eine Verfassung über Nacht Realität werden zu lassen – erst recht bei einer wirklich neuen Verfassung, einer mit so revolutionären Punkten. Deshalb gibt es Widersprüche, tiefgreifende Widersprüche.

Trotzdem wecken einige dieser revolutionären Instrumente Hoffnungen, wie das Buen Vivir. Was ist der Hintergrund dieses Konzepts?
Auf der einen Seite steht der lange Prozess des Widerstands gegen den Neoliberalismus. Ecuador wurde – wie der Rest der Region und viele Länder in der ganzen Welt – gezwungen, einer neoliberalen Agenda zu folgen. Die Folge waren soziale und ökonomische Zersetzungsprozesse. Auf der anderen Seite waren die früheren Alternativen in der Praxis am Ende: Spätestens der Mauerfall zerstörte den Glauben an den real existierenden Sozialismus. Auch deshalb begann die Suche nach neuen Alternativen.
In Ecuador führte diese Suche in die indigene Welt und zum Konzept des sumak kawsay, also des Buen Vivir. Die indigenen Weltanschauungen enthalten eine Reihe von sozialen und kulturellen Konzepten mit langer Tradition, die in unseren Gesellschaften immer noch präsent waren. Daran anknüpfend studierten wir – wie es übrigens im gesamten andin-amazonischen Kontext passierte – bereits in den 1990er Jahre gemeinsam mit indigenen Gemeinden die Chancen des Konzepts des Buen Vivir. Dabei wurde es zusammengeführt mit Elementen der okzidentalen Kultur: Zum „Guten Leben“ bei Aristoteles gibt es Anknüpfungspunkte oder auch zu Elementen des Konzepts von Entwicklung nach menschlichem Maß, insbesondere bei Manfred Max-Neef und Antonio Elizalde. Und die menschliche Entwicklung bei Amartya Sen hat unsere Debatten ebenfalls bereichert. Das Buen Vivir ist kein ausschließlich indigenes Konzept und ebenso wenig nur für „die Indigenen“: Es ist ein Alternativkonzept, das von den Marginalisierten der Geschichte formuliert wurde und mit globalen Debatten verbunden ist.

Was folgt daraus?
Das Buen Vivir ist eine Lebensauffassung und eine Möglichkeit der Organisation der Gesellschaft, befindet sich aber im Konstruktionsprozess. Dieser findet konkret in Bolivien und Ecuador statt, wird aber weltweit wahrgenommen, zum Beispiel in der Postdevelopment-Diskussion. Das Buen Vivir ist ja kein alternatives Konzept der Entwicklung, sondern eine Alternative zur Entwicklung. In Bezug auf die globalen Debatten um die Green Economy geht das Buen Vivir in eine gegenteilige Richtung: Es schließt eine weitere Vermarktwirtschaftlichung der Beziehung Mensch-Natur aus. Das ist also auch etwas, was die ecuadorianische Verfassung eigentlich einfordert.

Diese Verfassung war am 30.9.2010 in Gefahr. Wie sind die Ereignisse dieses Tages einzuordnen?
Der 30.9. war ohne jeden Zweifel ein Schlag gegen die Demokratie, ein Schlag gegen den Staat. Einige Fakten sind ziemlich eindeutig: Der Protest von Militär- und Polizeiangehörigen war das Ergebnis einer Verschwörung, der es immerhin gelungen ist, den ecuadorianischen Staat lahm zu legen. Deshalb rede ich von einem golpe al estado. Der Präsident wurde als Geisel festgehalten, misshandelt, geschlagen und gegen Ende des Tages versuchten sie, ihn zu ermorden. Das ist wirklich barbarisch. Die Geschehnisse dieses Tages waren das gewalttätigste politische Ereignis der letzten Jahrzehnte in Ecuador.

Und welche politischen Konsequenzen hat das?
Weitreichende. Es ist klar, dass es eine Regierungskrise gab und dass die demokratischen Institutionen instabil sind. Auch, dass Polizei und Militär anscheinend immer noch im Stande sind, die Verfassung zu verletzen. Die Wiedereinsetzung des Militärs als „Garant der Demokratie“ kommt hinzu – etwas, dass der Verfassung klar widerspricht. Gleichzeitig ist die Regierung politisch schwach: Sie hat die große Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen – nicht aber zu politischer Aktion. Am 30.9. hat es keine, und ich meine damit, nicht eine große Demonstration gegeben. Und die Regierung hat mehr als einen Monat danach immer noch keine politische Antwort!
Der 30.9. war vor allem auch ein Schlag gegen die Linke. Die ecuadorianische Linke ist gespalten und uneinig, mehr als je zuvor seit dem Amtsantritt Correas. Ohne zu merken, was sie damit riskierten, beteiligten sich Teile der Linken am Polizeiaufstand. Diesen Gruppen war aber nicht klar, dass sie die neue Verfassung, das mit ihr Erreichte sowie das gesamte politische Projekt der Linken in Gefahr gebracht haben. Jetzt ist die Rechte gestärkt, auch wenn sie nicht unmittelbar Wahlen gewinnen könnte. Akteure der Rechten haben hier und da den Aufstand unterstützt – und sollten sie eine zentralere Rolle gehabt haben, dann kann ihnen das zumindest derzeit niemand nachweisen. Sie haben sich am Rand gehalten, abgewartet. Das ist sehr beunruhigend und wirkt wie ein Testlauf.

Was heißt das für die Regierung?
Die Regierung Correa muss darüber reflektieren, wo es Fortschritte, aber auch, wo es Irrtümer, ja sogar Rückschritte gegeben hat.
Erstens gibt es in Bolivien, Ecuador und Venezuela keinen neuen Weg des Wirtschaftens, keinen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, sondern einen Extraktivismus des 21. Jahrhunderts. Und die exzessive Konzentration des Reichtums wurde in Ecuador nicht beendet, die Armutsrate ist nicht gesunken.
Zweitens ist besorgniserregend, dass es wenig Raum für Partizipations- und Diskussionsprozesse gibt. Vor vier bis fünf Jahren haben wir zusammen mit Correa unser Projekt als Bürgerrevolution umschrieben: Den Staat als einen Staat seiner BürgerInnen zurückzugewinnen. Aber es gibt in dieser Bürgerrevolution einen Mangel an Bürgerschaft, es gibt diesen Raum der Beteiligung nicht. Das ist sehr beunruhigend. Wir haben den personalisierten Charakter der Regierung bereits diskutiert und das ist nicht einfach die Schuld Correas. Aber es sollte anders sein.

Sie bezeichneten sich vorhin als optimistischen Menschen. Was sagt der Optimist? Und: Was wird heute bei ihnen zuhause am Esstisch diskutiert?
An diesen Tisch kommen natürlich Freunde, auch von damals, aber wir haben kein solches politisches Projekt mehr.
Als Optimist würde ich sagen, dass diese Regierung immer noch viel Potential hat. Correa ist sehr beliebt – das ist aber bei weitem nicht genug. Correa muss jetzt die Tür für einen großen Dialog mit den sozialen Bewegungen öffnen. Nicht, um sie direkt an der Regierung zu beteiligen, das ist nicht der Weg. Sondern um Diskussionen zu führen, mit dem Ziel, gemeinsame Vorstellungen für die Zukunft dieses Landes zu entwickeln.

Ein roter Stern am Amazonas

Nach Gurupá

Gurupá liegt am Amazonas und damit an der Schiffsroute, die von Belém über Santarem nach Manaus führt. Eine Schiffsfahrt auf dem Amazonas, das ruft romantische Vorstellungen wach. Aber zunächst ist es eine Konfrontation mit den realen Problemen der Region. Neoliberal inspiriert strich der damalige Präsident Collor alle Subventionen für die staatliche Schiffahrtsgesellschaft am Amazonas, die darauf prompt fast den gesamten Linienverkehr einstellen mußte. Konsequenz: überfüllte Privatschiffe bei hohen Preisen. Im Februar 1993 kostet eine Fahrt nach Gurupá etwa 65 DM, ein Vermögen bei einem Mindestlohn von etwa 100 DM. Für diesen Preis darf man seine Hängematte auf einem stickigen und eng belegten Deckplatz befestigen. Dennoch sind die unvermeidlichen RucksacktouristInnen begeistert. Denn auf dem ersten Teil der Fahrt bewegt sich das Boot nahe am Ufer, es umfährt Marajó, die größte Flußinsel der Welt. Die grüne Uferkulisse bietet einen Einblick in die scheinbar noch intakte Regenwaldvegetation, deren beruhigende Monotonie immer wieder durch ans Ufer gebaute Holzhäuser von KleinbäuerInnen unterbrochen wird. “Ribeirinhos”, die Familien am Flußran,d sind die HauptbewohnerInnen der Region. Die Gegend ist extrem dünn besiedelt, nach dem einzigen Halt auf der Fahrt in Breves passiert das Schiff während der 12 Stunden bis Gurupá keine größere Siedlung mehr. Das war früher anders. Reisende aus dem 17.Jahrhundert berichteten, daß die Portugiesen bei ihrer Ankunft zwischen Belém und Gurupá hunderte von Dörfern vorfanden, einige von ihnen mit mehr als tausend EinwohnerInnen. Aber entlang dieses Teils des Amazonasflusses sind die indianischen UreinwohnerInnen versklavt und ausgerottet, ihre Kultur vernichtet worden. Die heute dort ansässigen ribeirinhos sind Nachfahren der Indios, die sich mit den neuen SiedlerInnen vermischt haben.
Ein Erwerbszweig der ribeirinhos fällt sofort ins Auge: vor vielen Häusern liegen Holzstämme zum Abflößen bereit. Und in Breves stehen am Ufer zahlreiche Sägewerke, etwa die Hälfte davon aber geschlossen und verfallen. Hier ist der Holzeinschlag offensichtlich schon in die Krise geraten. Auf dem Hintergrund der grünen Idylle sind die Konsequenzen menschlicher Geschichte sichtbar. Bei dem Halt in Breves wird das Boot von den Einbäumen der ribeirinhos umzingelt: Frauen und Kinder betteln um Lebensmittel und Geld.

Boom und Dekadenz

Gurupá ist ein kleines, verschlafenes Amazonasnest. Im Ort selbst wohnen 3.600 EinwohnerInnen, einfache Holzhäuser, zahlreiche Läden am Ortseingang, die alle dasselbe verkaufen, und die Fahrräder prägen das Bild der Stadt. Aber der prächtige Sitz der Gemeindeverwaltung und Überreste eines Forts weisen darauf hin, daß Gurupá schon eine bedeutendere Rolle in der Geschichte Amazoniens gespielt hat. Am Zugang zum Amazonas gelegen hatte es eine wichtige strategische Position bei der Eroberung Amazoniens inne. In der 2.Hälfte des 16.Jahrhunderts setzten sich die Holländer in Gurupá fest, und erst 1623 gelang den Portugiesen die endgültige Eroberung der Stadt. Die ökonomischen Interessen beider richteten sich auf die Ausbeutung der natürlichen Reichtümer Amazoniens, insbesondere Kakao, Zimt, Nelke, Vanille und ölhaltige Samen, den sogenannten “drogas do sertao”. Zu ihrer Gewinnung wurden die Indios versklavt und schwarze Sklaven aus Afrika eingeführt. Der große Boom Gurupás ist aber – wie vieler anderer Orte Amazoniens – mit dem Kautschuk verbunden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Kautschuk das wichtigste Wirtschaftsgut der Region, die zahlreiche EinwandererInnen aus dem Nordosten anlockte. Während diese als KautschukzapferInnen in unfreien Arbeitsverhältnissen ausgebeutet wurden, prosperierte das Handelskapital. In Gurupá erschienen zeitweise zwei Tageszeitungen, die Straßen wurden gepflastert und mit Gaslaternen versehen, der pompöse Sitz der Verwaltung gebaut. Anfang des 20.Jahrhunderts brach dies alles zusammen. 1876 hatte der Engländer Henry Wickman 70 000 Samen von Gummibäumen aus Brasilien herausgeschmuggelt und etwa dreißig Jahre später begannen in den asiatischen Kolonien die Plantagenproduktion des Kautschuks das brasilianische Gummi, das direkt aus dem Urwald gezapft wurde, zu verdrängen. Aus den KautschukzapfernInnen wurden “ribeirinhos”, KleinbäuerInnen, die im wesentlichen vom Fischfang und Subsistenzanbau überleben. “Dekadenz, Vernachlässigung und Isolierung”, so hat ein Wissenschaftler die Situation der Region in diesem Jahrhundert nach dem Kautschukboom gekennzeichnet.

Das grüne Gold

Ende der fünfziger Jahre begann ein neuer Zyklus die Wirtschaft der Region grundlegend umzugestalten. Holzfirmen kauften großflächig Land auf und begannen mit dem Holzeinschlag in der Region. In Portel und Melgaço (Nachbargemeinden von Gurupá) erwarb die von der US-amerikanischen Firma Georgia Pacific kontrollierte Amazônia Madeiras 400.000 ha, in Breves die von derselben Firma kontrollierte MEGESA 300.000 ha. In Gurupá war es eine holländische Firma, die in die Holzwirtschaft einstieg: Die Brumasa, kontrolliert von BRUYNZEEL NV, erwarb in den sechziger Jahren 95.708 ha und wurde so zum größten Landbesitzer in Gurupá. Das Vordringen der Holzfirmen wird durch staatliche Kredite und Steuererleichterungen begünstigt. Die Holzproduktion verdrängt die schon darniederliegende Kautschukwirtschaft , Holz wird zum wichtigsten Handelsprodukt der Region. 1970 produziert Gurupá 292.000 Kubikmeter Holz, 1984 sind es 665.300 Kubikmeter. Interessant ist aber nun die Entwicklung nach 1984. Offizielle Zahlen liegen nicht mehr vor, aber eine Feldstudie zeigt einen deutlichen Rückgang der Produktion: 1988/89 sollen danach nur noch 452.440 Kubikmeter produziert worden sein. Für die ribeirinhos ist jedenfalls der Niedergang der Holzproduktion evident: “Heute ist es sehr schwierig vom Holz zu leben. Gutes Holz gibt es nur noch ganz drinnen, und der Preis der Aufkäufer deckt nicht die Kosten. Aber es gibt Leute, die schlagen jede Rute, um zu überleben.”
Die holländische Holding hat inzwischen ihre Anteile an der BRUMASA an eine brasilianische Firma verkauft. Die dicksten Gewinne sind abgesahnt, zurück bleibt eine weiter verarmte Bevölkerung und ein degenerierter Wald. Seit der Eroberung durch die EuropäerInnen ist die Region durch die extraktive Bewirtschaftung geprägt, die nicht auf dem Anbau beruht, sondern die natürlichen Ressourcen nach Art einer Mine behandelt, aus der es alles rauszuholen gilt – bis zur Erschöpfung.

Delikatessen für den Supermarkt

Der Niedergang der Holzindustrie ist noch nicht das letzte Kapitel des Extraktivismus. Ende der siebziger Jahre beginnt Gurupá Palmito (Palmherz) für den Markt zu produzieren. Das Palmito wird aus der Açaí- Palme gewonnen, die am Amazonas und seinen Seitenflüssen in großen Mengen wächst. Aus den Früchten der Palme wird dunkelrot-violetter Brei gewonnen, der für die ärmere Bevölkerung Parás ein Grundnahrungsmittel ist. Das Palmherz hingegen wird in der Region nicht gegessen. In den achtziger Jahren nun dringen Firmen aus dem Süden Brasiliens in das Amazonasgebiet vor. Die Bestände von Palmen, aus denen im Süden Brasiliens Palmito gewonnen wird, werden zusehends geringer, in wenigen Jahren konzentriert sich 90% der brasilianischen Palmitoproduktion in Pará. Der größte Teil der Produktion geht in den Export. Brasilien ist weltweit der wichtigste Exporteur dieser Delikatesse.
1978 beginnen Palmito-Firmen in Gurupá mit dem Einschlag. Sie kaufen von GroßgrundbesitzerInnen (deren Besitztitel oft zweifelhaft sind) die Einschlagrechte und rücken mit TagelöhnerInnen an, die in anderen Gemeinden angeheuert werden. Nach offiziellen Statistiken steigt die Produktion von Palmito von 60 Tonnen (1978) auf 300 Tonnen an, ein Wert, um den sie in den darauffolgenden Jahren pendelt. Eine Untersuchung vor Ort schätzt aber für 1989 eine Produktion von 4850 Tonnen! Auf jeden Fall wird Palmito Ende der siebziger Jahre zur wichtigsten “cash crop” Gurupás. Ab 1983 setzt eine neue Etappe in der Palmitogewinnung an. Einige Firmen beginnen, den KleinbäuerInnen Geräte und Techniken zur Verfügung zu stellen, um selbst das Palmito zu verarbeiten und in Gläser abzufüllen. Der gesamte Produktionsprozeß – vom Einschlag bis zum Glas – wird in der KleinbäuerInnenfamilie geleistet, die AufkäuferInnen der Firma holen die fertig verarbeiteten Palmitos ab, nur noch die Etiketten werden aufgeklebt. 70 dieser Familienbetriebe – fabriqueta genannt – gibt es inzwischen in Gurupá, 52 davon am Fluß Marajoí, einem kleinen Seitenarm des Amazonas, an dem sich die größten Açaí-Vorkommen des Municipios konzentrieren.
Eine Fahrt über den Marajoí gibt einen guten Eindruck über die aktuelle Situation in der Gemeinde. Eine immer noch unglaublich hohe Dichte von Açaí-Palmen, zahlreiche Häuser der ribeirinhos, an deren Seite oft eine kleine Bude angebaut ist, die “fabriqueta”. Aber die meisten der fabriquetas liegen still. Im Februar 1993 lag der Aufkaufpreis für ein Glas Palmito bei 2000 Cruzeiros, ziemlich genau 20 Pfennig! In den Supermärkten von Belém, Rio oder Sao Paulo findet sich dasselbe Glas – nur noch mit einem Etikett versehen – für 3 – 5 DM wieder. Für diesen Preis – so lautet immer wieder die Aussage der BewohnerInnen – lohnt sich die Arbeit nicht. Es ist ein Oligopol von wenigen Firmen, die den Palmitomarkt kontrollieren. Bisher haben die KleinbäuerInnen nur die Wahl, sich den ihnen diktierten Bedingungen zu unterwerfen oder nicht zu verkaufen. Gleichzeitig ist aber der Verkauf des Palmito praktisch die einzige Möglichkeit, ein Geldeinkommen zu erzielen. Zwar bearbeiten KleinbäuerInnen in der Regel ein kleines Feld, die roça, aber dessen Ernte (hauptsächlich Mais und Maniok) dienen zum eigenen Konsum. Agapito de Souza, ein Kleinbauer des Marajoí, erinnert sich noch gut: “Früher bevor das mit dem Holz begann, gab es hier viel mehr Landwirtschaft. Aber dann kam das Holz, danach das Palmito, das brachte Geld, und die Leute haben aufgehört anzubauen.”
Damit ist ziemlich genau die problematische Situation in Gurupá charakterisiert: Seit Jahrhunderten hat der Extraktivismus seine zyklische Gewinnlogik der Region aufgezwungen und die KleinbäuerInnen seinen Verwertungsinteressen unterworfen. Heute sehen sich diese mit einer doppelten Krise konfrontiert: der Extraktivismus ist im Niedergang aufgrund der ökologischen Konsequenzen (Holz) oder wenig rentabel aufgrund der wirtschaftlichen Monopole der AufkäuferInnen. Gleichzeitig hat es in der Region keine Entwicklung der Landwirtschaft gegeben. Bei Maniok etwa deckt die Produktion der Gemeinde nur 30% des Bedarfs. Und auch beim Palmito sind die ersten Anzeichen des Niedergangs zu erkennen: Die großen Einschläger haben die dichtesten Bestände ausgebeutet, die Verlagerung der gesamten Produktion in die Familie ist auch eine Antwort auf die wachsenden Schwierigkeiten große, zusammenhängende Açaí-Bestände zu finden, bei denen sich der Einschlag im großen Stil lohnt. Weitere Konsequenzen sind für die KleinbäuerInnen unmittelbar spürbar: Am Marajoí hat der Palmito-Einschlag zu einem großen Fischsterben geführt: die Firmen haben die Reste der Palmen einfach in den Fluß geworfen, was zu einer Übersäuerung führte. Und der Holzeinschlag hat den Bestand an jagdbarem Wild deutlich verringert. Die zwei wichtigsten Nahrungsquellen der ribeirinhos, Fisch und Wild, drohen zu versiegen.

Erstarken der KleinbäuerInnen

Der Niedergang des Extrativismus hat – was auf den ersten Blick paradox erscheint – das organisatorische Erstarken der KleinbäuerInnen begünstigt. Im Gegensatz zu anderen Regionen Amazoniens sehen sich die KleinbäuerInnen mit keiner starken und organisierten Gruppe von GroßgrundbesitzerInnen konfrontiert. Mit dem Niedergang des Kautschuks erodierte die ökonomische Basis der Herrschenden in der Region. Alle weiteren Impulse (Holz und Palmito) kamen von außen, die lokalen GroßgrundbesitzerInnen profitierten lediglich durch Verpachtung oder Verkauf von Einschlagrechten, ohne dabei eine neue produktive Basis zu schaffen. Viele GroßgrundbesitzerInnen unterscheiden sich nur durch die Größe ihres Landbesitzes von den KleinbäuerInnen, nicht aber durch Reichtum und Lebensumstände. Politisch wurde die Gemeinde in den letzten Jahren durch die HändlerInnen, die sich in der Stadt konzentrieren, dominiert.
Die KleinbäuerInnen sind in der überwiegenden Mehrheit posseiros, das heißt, sie bebauen – oft seit Generationen – Land, über das sie keine legalen Titel besitzen. Diese Situation hat in der Vergangenheit zu zahlreichen Auseinandersetzungen geführt, bei denen sich immer mehr KleinbäuerInnen, unterstützt von der Kirche, erfolgreich zur Wehr setzten. Zur Zeit aber gibt es keine größeren Landkonflikte, die Besitzrechte der posseiros werden nicht bedroht – ein sicheres Indiz für die Schwäche der lokalen GroßgrundbesitzerInnen.
Die Gewerkschaft der LandarbeiterInnen (STR) ist wie in vielen ländlichen Gegenden Brasiliens ein Zusammenschluß von KleinbäuerInnen. In Gurupá unterscheidet sich die Geschichte der lokalen Gewerkschaftsgruppe wenig von der in vielen anderen Gegenden des Landes. In den achtziger Jahren beginnt eine Gruppe von KleinbäuerInnen, die Kontakt mit der Kirche hat, die traditionelle Führungsclique herauszufordern. Diese repräsentierte den von den Militärs verordneten offiziellen “Syndikalismus”, der nicht die Interessenvertretung der KleinbäuerInnen, sondern (bestenfalls) kleinere Dienstleistungen organisierte. Nach vielen Auseinandersetzungen gelingt es der Gewerkschaftsopposition 1986 schließlich die Wahlen zu gewinnen. Die Landarbeitergewerkschaft von Gurupá ist heute dem linken Dachverband CUT angeschlossen.

Neue Strategien zur Nutzung des Waldes

Bestimmte in den achtziger Jahren die Konfrontation mit den “gelben” GewerkschafterInnen und den “Patronen” die Aktionen der progressiven KleinbäuerInnen, so sahen sie sich nach dem Wahlsieg mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Auch hier spiegelt Gurupá, so abgelegen es erscheinen mag, durchaus eine typische Entwicklung in den Landgewerkschaften wider. Nach der kämpferischen Phase in den siebziger und achtziger Jahren, den Konfrontationen mit Strukturen der Militärdikatur, sahen sich viele Gewerkschaftsführer plötzlich als “Präsidenten” mit ganz neuen Aufgaben konfrontiert: konkrete Vorschläge und Projekte zu entwickeln, die eine Entwicklungschance für die bäuerliche Familienwirtschaft eröffnen. Zusammen mit BeraterInnen erstellt die Gewerkschaft zunächst eine Analyse der Situation, die zu folgender Schlußfolgerung führt:
“Zwei Grundprobleme erschweren das Leben der KleinbäuerInnen in Gurupá:
– Die Verknappung der Sammelprodukte wie Açaí, Holz, Palmito und Fisch.
– Die geringe Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Maniok, Reis, Bohnen etc.”
Ansetzend an diesen Schwierigkeiten wird zusammen mit italienischen Entwicklungsorganisationen (MLAL) ein Projekt mit zwei Grundkomponenten entwickelt: zum einen zur Förderung des Anbaus von Grundnahrungsmitteln und deren Weiterverarbeitung (Mühlen zur Produktion von Maniokmehl) und zum anderen zur nachhaltigen Nutzung von Açaí.
An dem bereits erwähnten Marajoí-Fluß haben sich dreißig Familien zusammengeschlossen, um die Açaí – Palmen systematisch zu bewirtschaften.
Dies setzt voraus, daß nicht alle Stämme einer Pflanze geschlagen werden, daß eine Pflege des Geländes betrieben wird und daß nachgepflanzt wird. Dies ist arbeitsintensiv, aber die BewohnerInnen der Region haben erkannt – oder besser: am eigenen Leib erfahren – daß der rücksichtslose Einschlag nur kurzfristigen Gewinn und langfristige Zerstörung der Lebensgrundlagen bringt. Im Gegensatz zu anderen Palmen aus denen Palmito gewonnen wird bietet Açaí durchaus Möglichkeiten für eine nachhaltige Nutzung. Für die KleinbäuerInnen lohnt sich die Mühe allerdings nur, wenn sie einen besseren Preis für ihr Produkt bekommen. Eine entscheidende Herausforderung für das Projekt der Gewerkschaft ist es daher, bessere Vermarktungsmöglichkeiten zu erschließen. Ein kollektiver Absatzvertrag soll die Marktposition der KleinproduzentInnen verbessern.
Der ehemalige Gewerkschaftspräsident Manuel Chico ist der Leiter des Projekts, das auch Gelder vorsieht, die die Infrastruktur der Gewerkschaft stärken. Diese wird damit zusehends zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in der Gemeinde. Bis Ende April dieses Jahres war eine Frau Präsidentin der Gewerkschaft: Bertila, die mit ruhiger Bestimmtheit eine Sitzung des Direktoriums zu leiten weiß, in der über zwanzig Männer versammelt sind. Zwar waren außer ihr noch zwei andere Frauen ins Direktorium gewählt worden, als diese aber nicht regelmäßig zu den Sitzungen erschienen, wurden sie ihrer Funktionen entbunden. Somit bleibt Bertila eine Ausnahmeerscheinung. Sie gehört zu den “lideranças” der Gewerkschaft, die in den Auseindersetzungen der letzten Jahre unglaubliche Lernprozesse durchgemacht haben und nun tatsächlich in der Lage sind, aktive Politik zu betreiben.

Wahlsieg der PT: ein Kleinbauer als Bürgermeister

Das Erstarken der Gewerkschaft bildet das Fundament auch für eine Neubestimmung des politischen Kräfteverhältnisses in der Gemeinde. Die soziale Basis der PT sind die KleinbäuerInnen, und bereits bei den Kommunalwahlen 1988 hätte die PT beinahe den Sieg errungen. 1992 gelang dies schließlich, weil ein Teil der örtlichen HändlerInnen den KandidatInnen der PT unterstützte. Die PT schloß nach heftigen innerparteilichen Diskussionen ein Bündnis und gewährte einem der “Abtrünnigen” das Amt des Vizebürgermeisters auf der Wahlliste. Der Wahlsieg von PT/Gewerkschaft war möglich geworden, weil diese im Gegensatz zur traditionellen Oligarchie ein ökonomisches Konzept für die Region entwickelt haben. Die organistorische Stärke der KleinbäuerInnen schaffte somit die Voraussetzungen, ein neues hegemoniales Projekt in der Gemeinde zu konsolidieren.
Nun ist – nicht nur in Brasilien – ein Wahlsieg keineswegs das happy end einer Geschichte, sondern der Beginn ganz neuer Schwierigkeiten. Der Wahlsieger Moacyr Alho gibt dies ganz unumwunden zu. Seine Geschichte ist typisch für das Wachsen von “lideranças”,von Führungspersönlichkeiten, in der Gemeinde. Als Jugendlicher begann seine Politisierung in Katechismuskursen der Kirche, darauf folgten Engagement und Fortbildung in der Gewerkschaft und schließlich der PT. Nach den ersten Wochen Amtszeit strahlt Moacyr Optimismus, Energie und fast Verzweifelung zugleich aus: “Ich fühle mich wie in einer Wüste, ich verstehe einfach nichts von dem ganzen Verwaltungskram”, so beginnt unser Gespräch mit Moacyr. Der neue Bürgermeister hat 33 Tage seines Lebens in einer Schule verbracht und sieht sich mit den jurustischen Schlingpflanzen einer Administration konfrontiert. Das Gespräch, an einem Sonntag in dem aus dem letzten Kautschukboom übriggebliebenen pompösen, aber heruntergekommenen Rathaus zeigt schon einen Teil der Schwierigkeiten: immer wieder werden wir unterbrochen, weil DorfbewohnerInnen und Verwandte hereinkommen und Moacyr bitten, irgendein Problem zu lösen. “Sie glauben, ich sei für alles zuständig und ich habe Schwierigkeiten, nein zu sagen.” Dies sind keine persönlichen Probleme sondern Widerspiegelungen der politischen Verhältnisse in weiten Teilen Brasiliens: Eine lokale Verwaltung konstituiert sich nicht über einen politischen und ökonomischen Plan, sondern über ein Geflecht von Begünstigungen, das Gefolgschaft sichert. Der Anspruch der PT ist es, mit diesem personalistisch-korporativistischen Politikmodell zu brechen, das heißt aber in vielen Fällen auch, mit Erwartungen zu brechen, die im Bewußtsein der Bevölkerung tief verwurzelt sind.
Das wichtigste Instrument, um persönliche Gefolgschaft zu sichern, ist der öffentliche Dienst. Von den 3600 BewohnerInnen des Hauptortes sind 331 bei der Stadtverwaltung beschäftigt, dem bei weitem größten Arbeitgeber. Diese Verwaltung, angefüllt mit Angehörigen und Gefolgsleuten der bisherigen Bürgermeister, erbt nun die PT: die Lohnzahlungen verschlingen 80% des Haushaltes.
Dieses ist der enge Rahmen, in dem die neue Verwaltung versucht, ihr Projekt zu realisieren. Kernstück ist dabei, in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft, die Stärkung der kleinbäuerlichen Produktion. Manuel Chico, der Leiter des Gewerkschaftsprojektes, ist auch Stadtrat für Landwirtschaft geworden. Die neue Verwaltung hat damit zumindest einen Ansatz, mit der bisherigen Politik der völligen Vernachlässigung der kleinbäuerlichen Wirtschaft zu brechen.
Neben der Förderung der Landwirtschaft ist die Erziehung ein weiterer Schwerpunkt. Benilda, Stadträtin für Erziehung, ist eine deutschstämmige Siedlerin aus dem Süden Brasiliens, deren Familie mit der “Transamazônica” in den siebziger Jahren nach Amazonien gekommen ist. In einigen Gemeinden in der Nähe von Altamira haben die SiedlerInnen die “Bewegung zum Überleben an der Transamazônica” formiert, eine der bestorganisiertesten sozialen Bewegungen Amazoniens. Die Erfahrungen aus dieser Region sollen nun in Gurupá genutzt werden. Bertila hat zunächst eine Bestandsaufnahme gemacht: Die Rate der vorzeitigen SchulabgängerInnen beträgt 81,7 Prozent. Das Problem dabei sind weniger die SchülerInnen als die LehrerInnen: Nur acht der 108 LehrerInnen, die auf dem Land arbeiten, besitzen überhaupt einen Schulabschluß! Auch dieser Posten ist von den bisherigen Bürgermeistern als Privileg an die Gefolgschaft vergeben worden. Viele LehrerInnen treten ihren Posten gar nicht erst an oder kehren vorzeitig von den oft mehrere Tagesreisen entfernt liegenden Minischulen zurück. Das Programm der Gemeinderätin setzt dazu zunächst an der Fortbildung und Motivierung der LehrerInnen an. Des weiteren sollen der Schultransport (per Boot, versteht sich) verbessert, ein Programm zur Schulspeisung ausgebaut und neue Unterrichtsmaterialien entwickelt werden, die nach der Methode Paulo Freire an den lokalen Gegebenheiten ansetzen: bis heute werden Kinder in Amazonien meistens mit Büchern alphabetisiert, die die Umwelt von Mittelschichtskindern in Sao Paulo widerspiegeln. Während des Gesprächs mit Bertila setzt ein heftiger Amazonasregen ein und nach wenigen Minuten läuft das Wasser an den Wänden des Rathauses herunter…
Trotz aller Schwierigkeiten hoffen Bertila und ihre KollegInnn, daß nicht alles den Bach `runtergeht, sondern neue Ansätze in der Kommunalpolitik entwickelt werden können.

Neue Wege für Amazonien?

Die Erfahrungen in Gurupá sind über den lokalen Rahmen interessant für die Neuformulierung von Entwicklungskonzepten in wichtigen Regionen Amazoniens. Die Kritik an einem ausbeuterischen Extraktivismus, an dem ungeordneten Holzeinschlag ist keine Idee, die von außen kommt, sondern spiegelt die lebendige Erfahrung der KleinbäuerInnen wider. In den Gesprächen mit den ribeirinhos ist die Gegenüberstellung von “früher” und “heute” immer wieder präsent:
“Es war günstiger. Früher gab es Holz am Ufer. Es gab mehr Wild zum Jagen und mehr Fisch.” Oder: “Es wird immer schwieriger. Zunächst war Açai das große Nahrungsmittel. Heute nicht, nachdem sie das Palmito geschlagen haben. Und auch andere Sachen werden knapper: die Palmitofirmen rotten das Wild aus, Holz gibt’s nur noch im Inneren. Wenn du heute leben willst, mußt du doppelt so viel arbeiten wie früher.” – “Alles war reichlicher da; es gab mehr Fisch, mehr Wild, mehr Enten im Wald. Die Arbeit war nicht so eine Qual wie heute.”
Die Erfahrung des Niedergangs ist allgegenwärtig und damit wächst das Bewußtsein, daß es so nicht mehr weiter gehen kann. Die traditionellen Eliten, die Holzhändler und Palmitoeinschläger haben aber nichts Neues zu bieten, sie können höchstens neue Gegenden erschließen und Verwüstungen zurücklassen. Wenn KleinbäuerInnen jetzt von “nachhaltiger Nutzung” reden, dann haben sie nicht nur Vokabular von außen aufgeschnappt, um besser an Entwicklungshilfegelder zu kommen. Vielmehr ist es eine durchaus naheliegende Konzeptualisierung von konkreten Erfahrungen.
Der Wald ist in Gurupá durch den Holzeinschlag sicherlich schwer geschädigt (ein Inventar liegt nicht vor), aber keineswegs vernichtet. Ein ungeübtes Auge nimmt die Veränderungen gar nicht wahr, die RucksacktouristInnen glauben durch “den” Urwald zu fahren. Die inzwischen deutlich Wahrnehmung der Krise, das Wachsen neuer sozialer Akteure und das noch nicht vollendete Werk der Zerstörung bieten – bei allen Schwierigkeiten – große Chancen für nachhaltige Änderungen.

Anmerkung: Der Artikel beruht auf einer Reise nach Gurupá im Februar 1993, zahlreichen Gesprächen vor Ort. Bei den historischen und statistischen Angaben verdankt der Artikel fast alles einer ausgezeichneten Arbeit Paulo de Oliveiro Junior über “Genese, Unterordnung und Widerstand der Bauernschaft in Gurupá”, eine Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft erstellt wurde. Auch ein Teil der im Artikel zitierten Aussagen von KleinbäuerInnen ist der Arbeit entnommen.

Kasten:

Die Gemeinde von Gurupá hat insgesamt 19 000 EinwohnerInnen, von denen 3600 in der “Stadt” wohnen. Diese teilen sich 9.300 Quadratkilometer. Zum Vergleich: In Saarland leben auf 2570 Quadratkilometer 1.073.000 Menschen in 52 Gemeinden. Straßen gibt es nur im Hauptort, ansonsten ist das Schiff das Transportmittel zu den Siedlungen. Diese liegen oft mehrere Tagesreisen vom Hauptort entfernt. Dabei ist Gurupá nicht mal eine besonders große Gemeinde. Andere Orte in der “Region der Inseln”, zu der Gurupá gehört, besitzen erheblich größere Flächen. Die Sozialstruktur außerhalb des Hauptortes ist durch das Vorherrschen kleinbäuerlicher Familienbetriebe geprägt.

Newsletter abonnieren