„KEIN FOTO IST ÜBERFLÜSSIG!“

Die Angehörigen “Wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist?” (Fotos: Emmanuel Guillén Lozano)

 

Als die 43 Studenten in Iguala verschwanden, waren Sie selbst noch Student in Mexiko-Stadt. Was hat Sie bewegt, in den Bundesstaat Guerrero zu reisen und den Fall zu dokumentieren?
Der Fall der Studierenden aus Ayotzinapa war so etwas wie der Wendepunkt, der dem Thema der Verschwundenen in Mexiko eine neue Relevanz gab. Mir war sofort klar, dass ich etwas tun musste, um den Fall zu dokumentieren. Ich beendete mein Studium genau zwei Monate nach dem Angriff in Iguala, kaufte mir von meinen Ersparnissen eine Kamera und reiste sofort nach Guerrero. Als ich in Iguala ankam, stellte ich jedoch fest, dass die verschwundenen Studenten der Normal Rural bei weitem nicht die einzigen waren, die in der Region vermisst werden. Als der Fall Ayotzinapa bekannt wurde, löste dies eine ganze Welle von Vermisstenanzeigen aus. Die Familien dieser weiteren Verschwundenen gründeten eine Gruppe, die sich „Die anderen Verschwundenen aus Iguala“ nennt. Gemeinsam mit den Angehörigen der vermissten Studenten organisierten sie sich, um sich selbst auf die Suche nach den Verschwundenen zu machen. Ich habe einige dieser Nachforschungen begleitet und fotografiert.

Wie liefen diese Nachforschungen ab?

Im Wesentlichen gingen die Menschen gemeinsam in die Berge, zu Orten, von denen „jemand“ ihnen gesagt hatte, dass dort ein Massengrab sein könnte. Mit nichts als Schaufeln und Hacken machten sie sich auf den Weg. Außerdem hatten sie lange, dünne Metallstäbe und Hämmer dabei, deren Sinn ich nicht sofort verstand. Dann sah ich, dass sie diese Stäbe in die Erde hämmerten, wieder herauszogen und an der Spitze rochen. Wenn die Spitze schlecht roch, fingen sie an zu graben – denn das war ein Hinweis auf verwesende Leichen. Dieser erste Geruchstest war sehr oft positiv. In den allermeisten Fällen tauchten auch schon nach kurzem Graben erste menschliche Reste, Kleidung oder Knochen, auf.

Wie war es für Sie als junger Fotograf, die Menschen bei ihrer Suche zu begleiten?

Für mich war das der erste Kontakt überhaupt mit dem Thema der Verschwundenen. Gleichzeitig waren sie der wohl emotional schwerste Teil meiner Arbeit. Die schiere Verzweiflung der Menschen, die die Reste eines geliebten Angehörigen erkennen, kann man gar nicht beschreiben. In den ersten Monaten fand die Gruppe der Angehörigen, der zeitweise bis zu 500 Familien angehörten, rund um Iguala über 70 Massengräber. Was sie nicht fanden, waren die Überreste der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa.

 

Sie begleiteten nicht nur die Suche nach Massengräbern in Iguala, sondern besuchten auch die Angehörigen der Vermissten in Ayotzinapa. Worauf konzentrierten Sie sich bei Ihrer Arbeit?

Nachdem ich die Menschen in Iguala für einige Monate begleitet hatte, fuhr ich im Juni 2015 nach Ayotzinapa. Ich besuchte die Schule, an der die verschwundenen Lehramtsanwärter studiert hatten, begleitete ihre Familien und fotografierte in einigen ihrer Wohnhäuser. Außerdem dokumentierte ich den sozialen und politischen Kontext rund um die Bewegung der Angehörigen: Demonstrationen, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizisten, verschiedene Blockaden von Menschen, die keine politische Propaganda in ihren Dörfern wollten. Ich fotografierte auch einige bewaffnete Blockaden der Drogenkartelle. Ich brauchte lange, um einen Zugang zu dem Thema zu finden – denn wie fotografiert man jemanden, der verschwunden ist? Mein Fokus lag daher darauf, das Gefühl der Leere zu dokumentieren und zu vermitteln, das diese Studenten hinterlassen haben.

Warum entschieden Sie sich zu genau diesem Zeitpunkt, Ihre Arbeit von Iguala nach Ayotzinapa zu verlagern?

Der Juni 2015 war aus meiner Sicht ein entscheidender Moment, denn zu diesem Zeitpunkt sollten in Ayotzinapa die ersten Wahlen nach dem Verschwinden der Studenten stattfinden. Die lokale Bevölkerung war so wütend, dass sie die Wahlen verhindern wollten – was ihnen im Endeffekt auch gelang. Das war für mich ein Schlüsselmoment, in dem deutlich wurde, wie unzufrieden die Menschen mit der gesamten politischen Klasse in Mexiko sind. Denn Ayotzinapa war der erste Fall, der anschaulich beweisen konnte, wie weit die mexikanische Regierung und die Drogenkartelle miteinander verflochten sind. Vorher war den meisten Mexikanern klar, dass es diese Verbindungen gibt – aber in Ayotzinapa konnte man sie das erste Mal beweisen. Nach Ayotzinapa begann ein großer Teil der mexikanischen Gesellschaft, sich Fragen zu stellen: Wie viele Bürgermeister tolerieren den Drogenhandel, wie viele Gouverneure arbeiten mit den Kartellen direkt zusammen? Im Verlauf der Untersuchungen wurde zudem deutlich, dass die mexikanische Regierung von oberster Stelle aus versuchte, die Wahrheit im Falle der verschwundenen Studenten zu verschleiern.

Was ist bis jetzt darüber bekannt, was in dieser Nacht in Iguala geschah?

Viele Theorien sagen, dass die Studenten angegriffen wurden, weil sie von einer als rebellisch bekannten Schule kamen und eine bestimmte Ideologie oder politische Gesinnung repräsentieren. Diese Theorien lassen sich genauso wenig belegen wie die offizielle Version der Regierung, wonach der Bürgermeister von Iguala die Busse angreifen ließ, weil er die Unterbrechung einer Rede seiner Ehefrau befürchtete (siehe LN 507/508).

Was ist aus Ihrer Sicht tatsächlich passiert?

Entgegen dieser Darstellungen deuten alle tiefgründigen, unabhängigen Untersuchungen in eine andere Richtung: Die bekannte Investigativjournalistin Anabel Hernández etwa hat Ende letzten Jahres ein Buch herausgegeben, in dem sie die Ergebnisse ihrer zwei Jahre dauernden Befragungen vorstellt. Sie sprach mit unzähligen Menschen, sowohl mit Nachbarn des Tatortes in Iguala als auch mit Polizisten, Militärangehörigen und Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos, die in dieser Nacht anwesend waren. Nach der Auswertung aller Gespräche kommt sie zu dem Schluss, dass zwei der fünf Busse, in denen die Studenten reisten, offenbar mit Heroin im Wert von über zwei Millionen US-Dollar beladen waren.

Also waren vermutlich nicht die Studierenden, sondern die Busse Ziel des Angriffs?

Genau. Der Angriff erfolgte dieser Version nach nicht auf die Studenten, sondern eher auf die zwei Busse, die das Heroin transportierten. Die Lehramtsanwärter waren also eher zufälliges Opfer eines missglückten Drogentransportes. Diese Version erklärt auch, warum nur jene Studenten verschwanden, die in den spezifischen zwei Fahrzeugen reisten. Die anderen drei Busse wurden nicht angegriffen. Auch andere Untersuchungen wie die der Unabhängigen Interdisziplinarischen Expertenkommission (GIEI) deuten in dieselbe Richtung wie die Schlussfolgerungen von Anabel Hernández.

Wie genau lief der Angriff laut dieser Version der Geschichte ab?

Hernández beschreibt, dass die Studenten die Busse von einer Busgesellschaft ausliehen, ohne von den versteckten Drogen zu wissen. Auch von Seiten der Drogenkartelle scheint diese Entwicklung nicht geplant gewesen zu sein. So rief offenbar der Boss des Drogenkartells Guerreros Unidos direkt bei der örtlichen Militärbasis in Iguala an und beauftragte die Soldaten damit, sein Heroin zurückzuholen. Das muss man sich erstmal vorstellen: Ein Drogenboss befielt dem Militär, Busse wegen einer Ladung Drogen anzugreifen! Die Militäroffiziere reagierten und starteten eine gemeinsame Operation mit der lokalen und der Bundespolizei, um die Drogenladung zurückzubekommen. Sie hielten die Busse an und begannen damit, die Fracht zu entladen. Laut Hernández wurden sie dabei jedoch von den Studenten beobachtet – und das war dann vermutlich der Grund für ihr Verschwinden. Diese Version wird auch dadurch belegt, dass bestimmte Videos der Überwachungskameras in den Händen der Generalstaatsanwaltschaft auf mysteriöse Weise verschwanden – und zwar die Bilder aus genau dem Bereich, in dem die Drogen umgeladen worden sein sollen.

Sie haben bereits erwähnt, dass die mexikanische Regierung offenbar systematisch versucht, die Ereignisse zu vertuschen und die Untersuchungen zu behindern. Gab es weitere Ereignisse, die diese Versuche belegen?

Es gibt Hinweise, dass die Regierungsstellen selbst vermeintliche Beweismittel platzierten, um die Regierungsversion der Geschehnisse zu bestätigen. Ein besonders gravierender Fall betrifft die Untersuchung an der Müllhalde von Cocula. Dort fanden die Gutachter der Regierung Plastiktüten mit Knochen. Österreichische Gerichtsmediziner konnten einen dieser Knochen dem verschwundenen Studenten Alexander Mora zuordnen.

 

…was das offizielle Ermittlungsergebnis bestätigen würde, wonach die Studenten auf dieser Müllhalde lebendig verbrannt wurden. Sie zweifeln an diesem Fund?

Ein Kollege von mir veröffentlichte parallel ein Video, das er einen Tag vor der Entdeckung der Knochen in Cucula gedreht hatte. Dort sieht man, wie dieselben Gutachter, die am folgenden Tag die Tüten mit den Knochen finden, identische Tüten auf der Müllhalde deponieren. Der Verdacht liegt also nahe, dass sie die Tüten zuvor selbst dort platziert haben. Nun stellt sich jedoch die Frage: Wenn die Gutachter Knochen deponieren und einer dieser Knochen von einem der verschwundenen Studenten stammt – wie sind sie an diesen Knochen gekommen? Das würde bedeuten, dass die Gutachter direkten Zugang zu dem Leichnam von Alexander Mora gehabt haben müssen. Das würde auch bedeuten, dass sie mehr wissen, als sie offiziell sagen.

Sie haben die Familienangehörigen der verschwundenen Studenten über einen langen Zeitraum begleitet. Wie haben diese auf die verzögerten Ermittlungen und die widersprüchlichen Ergebnisse reagiert?

Die vermissten Studenten stammen alle aus sehr armen Familien. Das heißt, den Familien ging es vorher schon schlecht – und dann verschwinden auch noch ihre Söhne. Einige der Verschwundenen waren Brüder. Also betrauern manche Eltern nicht nur einen, sondern gleich mehrere ihrer Söhne. Ihre Situation ist grausam. Und obwohl die Regierung massiv versucht hat, die Untersuchungen zu behindern, haben diese Familien nicht aufgegeben und sich nicht korrumpieren lassen – und das obwohl ihnen von staatlicher Stelle mehrfach Schweigegeld angeboten wurde. Bis heute sind sie sehr aktiv, sie demonstrieren mindestens einmal im Monat in Mexiko-Stadt. Einige der Eltern sind durch die USA gereist, um auf den Fall aufmerksam zu machen. Andere haben vor dem UN-Komitee gegen gewaltsames Verschwindenlassen (CED) in Genf gesprochen. Doch das Frustrierende ist, dass sie trotz all ihrer Mühen keine Chance gegen die Mechanismen des Staates haben. Solange Enrique Peña Nieto an der Regierung bleibt, wird dieser Fall wohl nie aufgeklärt werden.

Wie gehen die Familien im Alltag mit dem Fehlen ihrer Söhne um?

Sie sind verzweifelt. Alle Familien, die ich besucht habe, haben direkt am Eingang ihres Hauses einen Altar mit dem Bild ihres verschwundenen Sohnes. Der Altar ist das Erste, was sie sehen, wenn sie das Haus betreten. Er ist das Letzte, was sie sehen, wenn sie das Haus verlassen. Er ist die einzige Möglichkeit, ihre Söhne auf irgendeine Art lebendig zu halten. Sie sagen, das Schlimmste für sie sei, dass sie keinen Ort haben, an dem sie trauern können. Keinen Ort, um Blumen abzulegen. Die andauerende Ungewissheit quält sie jeden Tag.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Fotograf bei der Dokumentation von Fällen wie jenem in Ayotzinapa?

Ich glaube, wenn etwas passiert wie der Fall der verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa und wir die Möglichkeit haben, die Ereignisse zu dokumentieren, dann sollten wir das aus allen uns zur Verfügung stehenden Perspektiven tun. Kein Foto ist überflüssig, kein Video zu viel. Meine Aufgabe als Fotograf besteht darin, die Ereignisse zu dokumentieren und sie bekannt zu machen. Denn ich glaube, nur wenn solche Fälle auch außerhalb Mexikos diskutiert werden, kann Druck auf die mexikanische Regierung aufgebaut werden. Die Proteste der eigenen Bevölkerung interessieren Enrique Peña Nieto nicht. Auch deswegen arbeite ich viel mit internationalen Medien zusammen – nicht nur, weil die Bezahlung in Mexiko so schlecht ist [lacht]. Zeitungen wie die New York Times drucken meistens die Fotografien, die weiße, männliche, US-amerikanische Fotografen im Ausland aufgenommen haben. Dabei kann eine andere Perspektive ein völlig neues Bild auf die Situation werfen.

 

„WIR GEBEN UNSER LAND NICHT AUF“

Unser Kleinbus schaukelt durch die Schlaglöcher einer Schotterpiste. Ab und zu bricht ein kurzer Regenschauer über uns herein. Je weiter wir uns von der Hauptstadt Tegucigalpa nach Norden Richtung Atlantikküste begeben, desto flacher wird es, umso tropischer werden die Temperaturen. Nach neun Stunden Fahrt sind wir froh, die erste Station unserer dreiwöchigen Reise zu erreichen: Trujillo, die ehemalige Hauptstadt zu frühkolonialen Zeiten. Wir, das sind sechs Menschen aus Honduras, Spanien und Deutschland, die sich in der Solidaritätsbewegung HondurasDelegation engagieren. Wir haben uns für diese Reise zusammengetan, um uns ein Bild von der aktuellen Menschenrechtslage in Honduras zu machen und in Deutschland darüber zu berichten. Seit dem Putsch 2009 ist es bereits die fünfte HondurasDelegation. Aus den Reisen entstanden zahlreiche Berichte, Filme und eine Fülle von Kontakten. Jede Delegation hatte andere Schwerpunkte, wir interessieren uns besonders für den Kampf der indigenen Bevölkerung um ihre Landrechte.

Fotos: Rita Trautmann

In Trujillo erwarten uns blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Das Meer liegt ruhig in der Bucht. Das Städtchen ist auf einer kleinen Anhöhe gelegen und neben einem Denkmal für Christoph Kolumbus, der hier 1502 erstmals den amerikanischen Kontinent betrat, haben wir einen guten Blick über die Bucht. Wir treffen Malvin Morales, Aktivist bei OFRANEH (Organización Fraternal Negra Hondureña), der Bewegung der afro-indigenen Garifuna. Malvin begrüßt uns herzlich und berichtet sofort von den Landkonflikten in der Bucht: „Wir haben als Garifuna seit 1901 kollektive Landtitel, die der damalige Präsident Manuel Bonilla ausstellte. Doch nach und nach hat man uns dieses Landes beraubt.“ Er zeigt auf die gegenüberliegende Landzunge: „Dort befand sich mein Dorf Puerto Castilla. Wir mussten der staatlichen Hafengesellschaft weichen und haben dabei einen guten Teil unseres Landes verloren. Nun wohnen wir südlich vom Hafen und sind wieder von einer Umsiedlung bedroht.“ Wir spähen gegen das Sonnenlicht herüber und können Umrisse der riesigen Container im Hafen erkennen. Von dort werden Bananen von den Plantagen in die USA verschifft.

Die Garifuna sind Nachfahren der karibischen Arawak-Indigenen und afrikanischer Versklavter, die Ende des 18. Jahrhunderts von englischen Kolonisator*innen nach Honduras deportiert wurden. Von dort aus besiedelten sie die Küste Zentralamerikas zwischen Belize und Nicaragua. Die meisten leben in 46 Gemeinden der honduranischen Karibikküste. Seit mehreren Jahren plant die honduranische Regierung in der Bucht von Trujillo eine sogenannte ZEDE (Zona de Empleo y Desarrollo Económico), auch bekannt als „Modellstadt“ oder Sonderwirtschaftszone (LN 466), die zusätzlich Investor*innen anlockt. „Alle Gemeinden sind von diesen Plänen gefährdet. Dazu kommen illegale Landverkäufe an Privatinvestoren“, fährt Malvin fort. „Auf der westlichen Seite der Bucht sind die Gemeinden Santa Fé, San Antonio und Guadelupe von Landraub durch einen kanadischen Investor betroffen“. Was all dies für die Garifuna-Gemeinden bedeutet, wird schnell klar. Sie werden vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage, die vor allem auf Fischfang und kleinbäuerliche Landwirtschaft basiert. Die Regierung übt Druck auf die Garifuna aus: Während Malvin von den Regierungsplänen zur Schaffung der sogenannten Modellstadt in der Bucht von Trujillo berichtet, patrouillieren ständig Militärs an uns vorbei. Er lässt sich davon allerdings nicht beeindrucken.

Bereit zum Rückerobern: Landaktivist Malvin Morales

Malvin hat sich OFRANEH angeschlossen, um die kollektiven Landrechte der Garifuna zu verteidigen und bereits geraubtes Land zurückzugewinnen. Bevor die Sonne höher steigt und es noch wärmer wird, machen wir uns mit ihm auf den Weg, um zwei der OFRANEH-Projekte zur Landrückgewinnung, sogenannte recuperaciones, zu besuchen. Wir fahren einen malerischen, aber unbefestigten Küstenweg entlang und treffen Carmen Alvarez, ebenfalls Aktivistin bei OFRANEH. Sie erzählt uns, wie die Garifuna-Gemeinden Teile ihres Landes verloren: „Unsere Landwirtschaft funktioniert so, dass wir nicht alles Land gleichzeitig bebauen, sondern immer einen Teil des Landes brachliegen lassen. Die Brachen  wurden nach und nach von anderen besetzt und, wenn wir dort im Folgejahr etwas anbauen wollten, war das Land bereits eingezäunt. Hinzu kommt, dass staatliche Behörden, besonders die Gemeindeverwaltung von Trujillo, korrupt sind. Sie verkaufen Land, das uns gehört, ohne uns zu fragen. Sie erkennen unseren kollektiven Landtitel von 1901 einfach nicht an. So konnte zum Beispiel Randy Jorgensen unser Land kaufen.“

Jorgensen, ein als „Porno-König“ bekannter Kanadier, nutzt seine Nähe zu konservativen Politikern in Honduras, um sich im großen Stil Land für Tourismusprojekte anzueignen. „Er versprach den Gemeinden, dass sie vom Tourismus profitieren würden. Und der einzige, der verdient, ist Randy“, berichtet Carmen. Auf dem Weg zur recuperación des Dorfes Guadelupe kommen wir an mehreren neuen Luxus-Altersresidenzen für Rentner aus dem globalen Norden vorbei, die sich in seinem Besitz befinden. In direkter Nachbarschaft zu einer dieser Residenzen, die hinter Mauern und mit Sicherheitspersonal gut vor Blicken von außen abgeschirmt ist, liegt das Gelände des Projektes. Ein großes Banner mit der Aufschrift: „Unsere Kultur und unser Land sind nicht zum Verkauf! – OFRANEH“ kündigt es an. Wir werden bereits von einer Gruppe junger Menschen aus Guadelupe erwartet. Einige Frauen haben in einer provisorischen, mit Plastikplanen überdachten Küche Essen zubereitet. Auf dem Grundstück der recuperación stehen fünf fertige Häuser, an weiteren wird gebaut.

Tatort Landraub: Puerto Castilla

Von den rund 30 jungen Menschen, die sich an diesem OFRANEH-Projekt beteiligen, hatten viele den Traum vom großen Glück in den USA. Sie wurden deportiert oder kamen nie bis zur Grenze. Ohne Besitz und ohne Aussicht auf Arbeit kehrten sie zurück und schlossen sich den Landprojekten an. Einer von ihnen, Darwin Arriola, erzählt von seiner Motivation: „Ich kam bis Mexiko, hatte kein Geld mehr und wusste nicht mehr weiter. Ich hatte Hunger und Durst und hoffte darauf, dass mir jemand etwas geben würde, ich habe geweint. Es war ein furchtbar entwürdigender Moment. So etwas möchte ich nie mehr erleben. Ich bin froh wieder hier zu sein und möchte arbeiten, deshalb habe ich mich der recuperación angeschlossen.“ Die meisten Menschen in diesem Projekt haben zuvor nicht in der Landwirtschaft gearbeitet. Wir sind beeindruckt, wie viel Kraft und Arbeit sie in die Nutzbarmachung des Landes stecken. Ausführlich zeigen uns einige aus der Gruppe das Gelände: Hier eine kleine Pflanzung von Bananen, dort Maniok. Sie wissen, dass das Land ihnen die einzige Chance bietet, um zu überleben. Deshalb gehen sie die Risiken ein, die damit verbunden sind.

Malvin erzählt uns, dass OFRANEH und die Aktivist*innen, die bei den recuperaciones dabei sind, kriminalisiert, verfolgt und eingeschüchtert werden. Alle Projekte in der Bucht haben bereits Räumungsversuche der Polizei erlebt, auch wenn es rechtlich dafür keine Grundlage gibt. Medelín David Hernández, eine der Aktivist*innen aus Guadelupe, wurde im November von der Polizei unrechtmäßig verhaftet und misshandelt. Dennoch lässt sie sich nicht einschüchtern: „Wir haben Gruppen gebildet und wechseln uns hier auf der recuperación ab, so dass eine Gruppe im Dorf ist und die andere hier arbeitet, so ist immer jemand auf diesem Grundstück. Es ist unser Land und wir werden es nicht aufgeben.“ Medelín David Hernández wurde wegen Landbesetzung angezeigt. Während sie erzählt, hält sie ihren kleinen Sohn an der Hand. Er ist für Medelín eine große Motivation, das Land zu verteidigen. Bei den Gesprächen mit den Aktivist*innen merken wir kaum, wie schnell die Zeit vergeht. Aber da der Weg von Guadelupe nach Trujillo nicht beleuchtet ist, müssen wir noch vor der Dämmerung aufbrechen.

Gemeinsam stark: OFRANEH-Aktivistin Medelín David Hernández mit ihrem Sohn 

Am folgenden Tag besuchen wir Puerto Castilla auf der Landzunge, die sich östlich von Trujillo um die Bucht erstreckt. Die nicht weit entfernten Bananenplantagen und der Hafen machen das Garifuna-Land attraktiv für Investitionen verschiedenster Art. Wir fahren durch das Dorf und wir ahnen, wie dringend für die Bewohner*innen die Rückgewinnung ihres Landes ist. Die Häuser stehen dicht gedrängt, es gibt keinen Platz für Hausgärten, manchmal nicht einmal Platz, um Wäsche hinter dem Haus aufzuhängen. Malvin, der selbst aus Puerto Castilla stammt, bestätigt dies: „Wir alle haben Kinder, aber wir haben nicht genug Häuser und wir haben nicht einmal mehr ein kleines Stück Land, um Maniok anzubauen. Was sollen wir unseren Kindern geben? Und das, obwohl wir die Landtitel für viel größere Flächen besitzen.“ *Es bleibt noch viel zu tun, bis diese Titel und das Recht der Garifuna auf Land wieder respektiert werden

WIE IM KRIEG

Ende November wurden sieben junge Männer während eines Polizeieinsatzes im Stadtteil Cidade de Deus ermordet (siehe S. 54). Wie ist Ihre Einschätzung zu diesen Mordfällen?
Wir waren kurz nach den Morden dort. Die Bewohner des Stadtviertels haben eine Demonstration organisiert, und wir haben mit ihnen gesprochen. Die sieben Jungs wurden in einem kleinen Waldstück gefunden. Sie lagen alle zusammen, mit dem Gesicht zum Boden. Ihre Totenscheine werden nach und nach ausgestellt: Bei einigen steht der Todeszeitpunkt bereits fest, bei anderen nicht. Es gibt daher immer noch große Schwierigkeiten zu sagen, was genau vorgefallen ist. Die Angehörigen der Opfer mit Totenschein berichteten, dass der Tod während der Polizeiaktion eingetreten sei – entweder als Folge des Polizeieinsatzes oder einer Auseinandersetzung zwischen Miliz und Drogenhandel. Vieles spricht dafür, dass sie exekutiert wurden. Aber eine richtige polizeiliche Untersuchung hat noch gar nicht stattgefunden. Rio de Janeiro ist praktisch pleite und besitzt für die Sicherung von Spuren fast keine Mittel.

MONIQUE CRUZ recherchiert und forscht seit März 2016 für die Nichtregierungsorganisation Justiça Global in Rio de Janeiro zu „Institutionelle Gewalt und Öffentliche Sicherheit“. Die Nichtregierungsorganisation wurde 1999 gegründet und setzt sich für den Schutz der Menschenrechte, die Stärkung der Zivilgesellschaft und der Demokratie ein. Sie denunziert Menschenrechtsverletzungen und nimmt aktiv an Prozessen zur Neudefinition öffentlicher Politik teil. (Foto: Justiça Global)

Es gibt also noch gar keine konkreten Informationen darüber, wer die Jugendlichen ermordet haben könnte?
Nein, die gibt es nicht. Diese Region der Stadt ist sehr durcheinander. Es ist eine komplexe Situation mit der Präsenz des Drogenhandels auf der einen Seite und den Milizen auf der anderen – eine richtige Kriegsatmosphäre zwischen zwei bewaffneten Kräften. Rückblickend kann man sagen, dass es irgendeine Art von Invasion des Drogenhandels in die Gebiete der Milizen gegeben haben muss. Und die gewalttätige Reaktion der Polizeikräfte, in diesem Fall der Militärpolizei, hat die Situation noch verschärft. Heute existieren in Rio de Janeiro drei bis vier kriminelle Organisationen: der Drogenhandel, mit einigen Fraktionen innerhalb des Bundesstaates, und die Milizen. Die Milizen haben eine spezifische Struktur, weil sie von aktiven und ehemaligen Polizisten und Feuerwehrleuten gebildet werden. Sie sind aber ebenfalls kriminelle Organisationen.

Der Polizeieinsatz in der Cidade de Deus hat stundenlang gedauert – war das ein Einzelfall oder eher täglicher Normalzustand?
Das ist der Modus Operandi der Militärpolizei in Rio de Janeiro, aber auch der zivilen Polizei. Sie haben ein Protokoll für diese Art von Einsätzen und gehen immer so vor, insbesondere in den Favelas. An demselben Wochenende kam es auch zu Polizeieinsätzen im Complexo do Alemão, im Complexo da Maré, in Acari und Borel. Allerdings war der Einsatz in der Cidade de Deus sehr viel massiver als in den anderen Favelas. Die Bewohner berichten, dass es diese Polizeieinsätze täglich gibt, manchmal bis zum Morgengrauen. In den Favelas, in denen die UPP, die Einheiten der Befriedungspolizei stationiert sind, gibt es sowieso eine Polizeipräsenz rund um die Uhr. Zum Beispiel im Complexo do Alemão – dort kommt es seit 2010, und noch häufiger in den letzten beiden Jahren, buchstäblich jeden Tag zu einer Polizeiaktion, einen Fall von Polizeigewalt oder einen Todesfall durch einen Polizeieinsatz. Auch heute: Eine Frau wurde durch einen Kopfschuss getötet. Man spricht von einem Fehlschuss, aber im eigenen Haus durch einen Kopfschuss das Leben zu verlieren…

Diese Form von Polizeigewalt hat also nichts mit der aktuellen politischen Situation zu tun, wenn sie seit 2010 in dieser Form ausgeübt wird?
Sie hat damit zu tun, wie im Bundesstaat Rio de Janeiro das Konzept der öffentlichen Sicherheit definiert wird. Obwohl wir, seitdem im Oktober Roberto Sá Sekretär für öffentliche Sicherheit geworden ist, einen Anstieg der Polizeigewalt feststellen. Roberto Sá kommt aus dem Batallion für Spezialoperationen, dem Bope, aus dem er auch sein Team zusammengestellt hat. Der Bope ist darauf spezialisiert zu töten. Und zu foltern. Er kommt aus dieser Kriegslogik, in der das Gegenüber der Feind ist, der um jeden Preis vernichtet werden muss.
Eine Aktivistin aus einer Favela sagte mir neulich, dass es seit seiner Amtsübernahme einen Toten täglich gibt. Auch in dieser Woche waren es fünf Tote, in der Favela Chapadão. Und zwar ohne dass die großen Medien darüber überhaupt berichten. Nur in den sozialen Medien wird regelmäßig über Leichenfunde berichtet.

Bei Demonstrationen wird immer wieder die Abschaffung der Militärpolizei gefordert – ist sie ein Relikt der Militärdiktatur?
Eigentlich reichen die Wurzeln der Gewalt durch die Militärpolizei noch sehr viel weiter zurück, in die Anfänge der Polizei zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie wurde gegründet, um den portugiesischen Hof zu beschützen, der in diesem historischen Moment aus Europa nach Brasilien kam. Sie ist eine Institution, deren Aufgabe es war, geflohene versklavte Menschen zu jagen und zu töten. Sie bestand aus Männern, die so gewalttätig wie möglich waren, um den Versklavten Angst einzujagen. Das Symbol der Militärpolizei in Rio de Janeiro besteht aus einer Krone, einem Kaffeezweig und einem Zuckerrohr. Es repräsentiert also genau die Kräfte, für die Militärpolizei gegründet wurde. Sie institutionalisierte sich innerhalb dieses Machtgefüges. Und seither gibt es diese Stigmatisierung, wer der Kriminelle ist: ein Mann, normalerweise schwarz, jung und arm. Das heißt, die gegenüber den armen Bevölkerungsschichten ausgeübte Gewalt der Polizei gibt es seit ihrer Gründung.
Während der Militärdiktatur erhielt die Militärpolizei mehr Macht, und sie verfeinerte ihre Foltertechniken. Aber auch die zivile Polizei, also der Teil der Polizei, der eigentlich für die Aufklärung der Verbrechen zuständig sein sollte, für die Untersuchung der Fakten, ist in Rio de Janeiro ebenfalls stark militarisiert. Ich habe schon mehrere Male Angehörige von Opfern begleitet, während die zivile Polizei den Tatort untersuchte, und sie verhält sich gegenüber den Bewohnern der Peripherie genauso gewalttätig wie die Militärpolizei.

Könnte die Militärpolizei reformiert werden?
Was diskutiert werden müsste, ist die Demilitarisierung der Militärpolizei. Man muss diese Logik des Krieges beenden. Und die Militärpolizei sollte sich vor normalen Gerichten verantworten müssen, nicht vor speziellen Militärgerichten, die zunächst alle Todesfälle untersuchen, bei denen es um Polizeigewalt geht. Ich glaube, das ist das Hauptmerkmal, dass die Militärdiktatur hinterlassen hat: Dass diese gewalttätigen, rassistischen Militärpolizisten vor ihresgleichen vor Gericht stehen. Diese Polizei repräsentiert eine der rassistischsten Institutionen des brasilianischen Staates. Es gibt dieses Rechtskonstrukt des „Aktes des Widerstandes“, das heute „Tod in Funktion der polizeilichen Untersuchung“ heißt. Damit wird so getan, als hätte eine Person den Polizisten angriffen und dieser hätte in legitimer Selbstverteidigung gehandelt. Ein Prozess findet nicht statt und die Akte wird geschlossen. Aber eigentlich bedeutet es, dass die Polizei das Recht hat zu töten, dass es kein Mord sein kann, wenn ein Polizist tötet.

Bei den jüngsten Demonstrationen kam es zu massiven Repressionen gegen die Protestierenden. Stellen Sie eine Veränderung im Verhalten der Militärpolizei seit dem Wechsel der Präsidentschaft von Dilma Rousseff zu Michel Temer fest?
Ja, ohne jeden Zweifel. Der Polizeiapparat hat unter anderem auf den Diskurs des Justizministers Alexandre de Morais reagiert, der gesagt hat, dass man keine Studien zur Sicherheit mehr brauche – sondern zusätzliche Waffen für die Polizei. Das hat mit Sicherheit einen unmittelbaren Einfluss auf den Grad von Gewalt, um jede Form von Demonstration zu unterdrücken, die es für die Demokratie in Brasilien gibt. Und auch der Einsatz weniger tödlichen Waffen hat enorm zugenommen: Pfefferspray, Elektroschocks, Gummigeschosse, Gasbomben in allen möglichen Formen. Auch die Polizeitaktiken wurden verschärft, zum Beispiel durch den Einsatz des Hamburger Kessels. Die Militärpolizei hat diese Taktik am Ende der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro eingesetzt und die Menschen über Stunden festgehalten. Den Hamburger Kessel setzen sie auch in Favelas ein, zum Beispiel im Juli in Jacarézinho. Dort haben sie gleichzeitig acht Menschen ermordet.
Alexandre de Morais ist eine sehr emblematische Figur, mit einem äußerst aggressiven Diskurs, ebenso zur Bewaffnung der Streitkräfte wie auch zur Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit. Er hat einen viel kriegerischeren Diskurs als sein Vorgänger. Er gibt gewissermaßen freie Hand für den Tod und das Wegsperren von Menschen.

Was wäre denn ein gutes Konzept für öffentliche Sicherheit, was fordert Justiça Global?
Wir fordern, dass die Rechte der Bevölkerung vom Staat garantiert werden. Das heißt auch, dass wir eine andere Drogenpolitik brauchen. Der Krieg gegen die Drogen fordert jeden Tag acht Tote. Ganz zu schweigen von den absurden öffentlichen Ausgaben für diesen Krieg – das sind mehrere Milliarden Reais pro Jahr. Der Staat muss das Recht auf Leben der Menschen garantieren. Zusammengefasst fordern wir, dass es eine staatliche Politik gibt, in der es tatsächlich um öffentliche Sicherheit geht und nicht um einen Krieg.

„BERTA IST NICHT GESTORBEN – SIE HAT SICH VERVIELFACHT!“

Berta Cáceres presente: Demonstration gegen Straflosigkeit (Foto: Daniel Cima)
Berta Cáceres presente: Demonstration gegen Straflosigkeit (Foto: Daniel Cima)

„In Honduras ist ein Leben nichts wert!“ Daran ließ Francisco Javier Sánchez Anfang Mai in Berlin während einer Delegationsreise der indigenen Organisation COPINH keinen Zweifel. Nur wenige Tage später musste der Gemeinderat aus Río Blanco dies schmerzlich am eigenen Leib erfahren: Bei einer Demonstration am 9. Mai vor dem Präsidentenpalast in der Hauptstadt Tegucigalpa wurde er von Militärs mit Schlagstöcken attackiert, die tiefe Wunden um sein rechtes Auge hinterließen.
Die indigene Organisation COPINH hatte zum friedlichen Protest aufgerufen, um zwei Monate nach dem Mord an ihrer Koordinatorin Berta Cáceres erneut eine unabhängige internationale Untersuchungskommission zu fordern. Polizei und Militär gingen mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die rund 150 unbewaffneten Demonstrant*innen vor; sechs Aktivist*innen, darunter zwei Minderjährige, wurden vorläufig festgenommen. Mehrere Verletzte mussten im Krankenhaus behandelt werden. Auf Häusern rund um den Präsidentensitz hatten sich nach Aussagen einer internationalen Menschenrechtsorganisation Scharfschützen postiert. Jorge Ramón Hernández Alcerro, Mitglied der Regierung von Präsident Juan Orlando Hernández, erklärte zum Vorgehen von Polizei und Militär: „Wir werden weder gewalttätige Proteste noch Ausländer, die zur Gewalt aufhetzen, dulden.“
Damit gab Hernández Alcerro eine Argumentation vor, die in den folgenden Tagen von der Regierung zur Diffamierung einer internationalen Beobachtermission zur Menschenrechtslage genutzt wurde. Die Mitglieder der Mission repräsentierten internationale Organisationen aus Lateinamerika, Europa und den USA und besuchten Honduras vom 7. bis 12. Mai. Giulia Fellin, eine deutsch-italienische Menschenrechtsbeobachterin, begleitete COPINH auch während der Proteste am 9. Mai. Sie wurde anschließend mit einem professionellen Video auf Youtube als „ausländische Agitatorin“ diffamiert und des Landes verwiesen.
„In der aktuellen politischen Lage eine Mission zur Beobachtung der Menschenrechte zu organisieren, war nicht einfach“, sagte Bertha Oliva, Koordinatorin der honduranischen Menschenrechtsorganisation COFADEH. „Aber es war wichtig, dass Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen, Mensch-enrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen unser Land besuchten, um die Dramatik der Realität festzustellen, in der wir leben.“ Neben der Menschenrechtssituation in Bajo Aguán und der Repression gegen Kleinbäuer*innen, war ein Schwerpunkt der Mission der Mord an Berta Cáceres und seine Aufklärung.
Die honduranische Regierung hat am 2. Mai fünf Tatverdächtige präsentiert. Einer davon ist Sergio Rodríguez, Angestellter des honduranischen Unternehmens DESA (Desarrollo Energéticos S.A.) und zuständig für Soziales und Umwelt. DESA baut das Wasserkraftwerk Agua Zarca in der Region Río Blanco. Ein Projekt, gegen das COPINH seit Jahren protestiert, weil DESA das Wasserkraftwerk gegen den Willen der lokalen Lenca-Gemeinden durchsetzt. Zwei der Tatverdächtigen sind Militärs: Douglas Geovanny Bustillo ist pensionierter Oberstleutnant des Heeres und stellvertretender Leiter des Sicherheitspersonals der DESA. Mariano Díaz Chávez ist Major der Spezialkräfte der Streitkräfte (FFAA) und Ausbilder der Militärpolizei.
Die Mission stellte fest: „Wir betrachten den Mord an Berta Cáceres Flores als ein politisches Verbrechen, für das der Staat verantwortlich ist, nicht nur weil es mit einem Mitglied des honduranischen Heeres verbunden ist, sondern weil der Staat verpflichtet gewesen wäre, ihr Leben und ihre physische Integrität zu schützen.“ Die Mission begrüßte die Verhaftung der fünf Tatverdächtigen und forderte den honduranischen Staat auf, „alle Täter zu ermitteln und zu verurteilen, einschließlich aller Akteure mit wirtschaftlichen Interessen und der Auftraggeber des Verbrechens.“ Sie stützten damit die Einschätzung von Tomás Gómez, Interimskoordinator von COPINH, und der Familie von Cáceres, dass „die Ermordung von Berta Cáceres ein politischer Mord ist, bei dem die eigentlichen Auftraggeber noch nicht festgenommen wurden.“
Denn die Hintermänner des Mordes sind bisher durch den honduranischen Staat gut geschützt, unabhängige internationale Ermittlungen, zum Beispiel durch die Interamerikanische Menschenrechtskommission, werden nicht zugelassen. Wer in Honduras zu den Verflechtungen zwischen politisch einflussreichen Familien, großen nationalen Unternehmen und ihren Verbindungen zum Auftragsmord recherchiert, lebt gefährlich. Der bekannte investigative Journalist Felix Molina veröffentlichte am Morgen des 2. Mai auf Facebook eine Recherche zu den familiären Verbindungen des Ministers Pacheco Tinoco zur DESA, zur Beteiligung zahlreicher Militärs an Unternehmen, und zur einflussreichen Unternehmerfamilie Atala. Noch am selben Tag wurden zwei Attentate auf ihn verübt. Beim ersten entkam er unverletzt, beim zweiten trafen ihn in jedem Bein zwei Kugeln. Mit viel Glück hat er überlebt.
Dem Sender, für den Felix Molina regelmäßig arbeitete – TV und Radio Globo – wurde am 20. Mai von der Nationalen Kommission für Telekommunikation (CONATEL) die Einstellung der Ausstrahlungen angekündigt, offiziell weil die Sendelizenz seit Februar des vergangenen Jahres abgelaufen sei. Ein Einspruch war nicht möglich. Globo ist einer der regierungskritischsten Sender in Honduras. Das Medium deckte 2014 die Unterschlagung von mindestens 200 Millionen US-Dollar aus der honduranischen Sozialversicherung (IHSS) auf. Ein Teil dieses Geldes soll in die Wahlkampagne des amtierenden Präsidenten Hernández geflossen sein. Der Direktor von Globo TV sagte zur Einstellung der Übertragungen: „Es gibt eine ständige Verfolgung von uns und der Medien, die auch nur die kleinste Absicht haben, die Regierung anzugreifen oder sie zu entlarven.“
Trotz der Repression auf allen Ebenen, lassen die sozialen Bewegungen und Menschrechtsvertei-diger*innen in Honduras in ihrem Engagement nicht nach. Ebenso wie Felix Molina aus dem Krankenbett weitere Beiträge veröffentlichte, protestiert auch COPINH weiterhin öffentlich. Paola Reyes, Dokumentarfilmerin und Mitglied der Menschenrechtskette Honduras (CADEHO), sagte über die Stimmung in der Organisation: „Ich hätte erwartet, dass COPINH nach der Ermordung von Berta Cáceres erst einmal ein halbes Jahr braucht, um zu reflektieren und sich zu reorganisieren. Aber die Menschen nehmen sich noch nicht einmal Zeit, um zu trauern. Sie haben eine solche Energie, eine Protestaktion jagt die nächste. Sie füllen den Slogan ‚Berta ist nicht gestorben, sie hat sich vervielfacht‘ wirklich mit Leben.“ Für den 15. Juni hat COPINH zu einem internationalen Protesttag vor allen honduranischen Botschaften und Konsulaten aufgerufen, um der Forderung nach einer Aufklärung des Mordes an Berta Cáceres und der Ermittlung der Auftraggeber*innen Nachdruck zu verleihen.

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