Wirtschaftsprogramm schockt NicaraguanerInnen

Das Anpassungsprogramm präsentiert sich entsprechend orthodox: Kernstück ist die nominale Entwertung des bis dato nur spärlich zirkulierenden Gold-Cordobas um 400%, mit der die Regierung 80% der Geldmenge abschöpfen konnte. Der neue Cordoba soll, seines Gold-Attributes beraubt, bis Ende April definitiv den alten “sandinistischen” Cordoba ersetzt haben.
Die Preise für inländische Produkte, öffentliche Dienstleistungen und Treibstoffe verbilligten sich durch eine Anhebung um nur 300-350%, ohne für die Mehrheiten des Landes deshalb erschwinglicher zu werden. Die Lohnanpassung erschöpfte sich schon bei durchschnittlich 200%.

Sauberes Wasser

Die Notwendigkeit von Anpassungsmaßnahmen wird in Nicaragua von keiner Seite bestritten. Die Inflation war infolge des in künstlicher Parität zum Dollar gehaltenen Gold-Cordoba auf monatliche 120% explodiert. Die Überbewertung der nationalen Währung hatte Nicaragua im vergangenen Jahr zum teuersten Land Zentralamerikas werden lassen, die Gewinnspannen für die Exportproduktion verringert und Importwaren im Verhältnis zur einheimischen Produktion konkurrenzlos verbilligt.
Mit der Anpassung soll diese Entwicklung korrigiert werden. Die komplizierte Art ihrer Durchführung schuldet sich der Notwendigkeit, die beabsichtigte Senkung der Lohnkosten angesichts der starken sandinistischen Gewerkschaften nur indirekt durchzuführen.
Der Staatshaushalt – in dessen Defizit die Regierung die Quelle der Inflation ausgemacht hat – soll sich künftig selbst tragen und nicht mehr mit der Notenpresse finanziert werden. “Sauberes Wasser” müsse fließen, metaphorte Lacayo – sturer Monetarismus als pfiffige Wirtschaftsökologie. Saniert werden soll der Staatsetat durch weiteren Personalabbau, Senkung der Lohnkosten, Verkauf von staatli¬chen Betrieben und die restriktive Handhabung des Kreditwesens.

Gewinner und Verlierer

“Es ist jetzt nicht die Zeit für Verbesserung, sondern die der Nicht-Verschlechterung”, rechtfertigt eine Regierungserklärung die Roßkur. Doppelt gelogen hält besser, denn wie die Verlierer – Lohnabhängige, Kleinhandel und -produktion – stehen die Gewinner der Anpassung fest: Allein durch die Regulierungen im Finanzwesen – Sparguthaben wurden mit dem Faktor 5, Kredite mit einer Laufzeit bis Mai aber nur mit 3,4 multipliziert – können die we¬nigen großen Kaffee- und Baumwollproduzenten zusätzliche Gewinne von mehreren tausend Dollar einfahren. Der Verlust der kleinen Produzenten, die in Ermangelung von Weiterverarbeitungs- und Lagermöglichkeiten die Ernte des auslaufenden Agrarzyklus schon längst zu alten Preisen verkauft haben, läßt sich durch die reale Verringerung der Kreditforderungen nicht wettmachen. Um so mehr, als nur wenige der Kleinproduzenten über Sparguthaben verfügen, die laufenden Kosten der Entwertung aber nicht angeglichen wurden.
Die inländische Produktion, im vergangenen Jahr arg geschrumpft, wird durch die unausweichliche Rezession im Zuge der Anpassung weiter getroffen; zahllose kleine und mittlere Unternehmen stehen vor dem Ruin. Der sandinistischen Agrarreform, der die Anerkennung auszusprechen die Regierung sich bei keiner Gelegenheit enthält, wird vermittels wirtschaftlichen Druckes und den Spitzen der Kreditpolitik die Luft abgelassen.
Die gerade forcierte Umverteilung des spärlichen nationalen Reichtums zugunsten der großen exportorientierten Agrarproduzenten zeigt, in Verbindung mit den geplanten umfassenden Privatisierungen, die tatsächliche Richtung des Anpassungsprogrammes an. Der Anpassungsschock trifft die Mehrheiten Nicaraguas zu einer Zeit, da ihre soziale Situation kaum weiter verwahrlosen kann. LandarbeiterInnen verdienen nach der Reform 80 Cents am Tag, die Löhne in der Industrie sind kaum besser. Die Arbeitslosigkeit hat die 50%-Marke bald erreicht. Die Gesundheitsversorgung wird durch den seit mehr als 2 Monaten andauernden MedizinerInnenstreik kaum beeinträchtigt; im ganzen Land fehlen die nötigen Medikamente, Präventiv-Medizin findet ohnehin nicht mehr statt.
Kein Wunder, daß die sandinistische Gewerkschaftszentrale FNT, zuvor kritisiert wegen ihrer Zurückhaltung seit dem Konzertations-Abkommen vom vergangenen Oktober, umgehend mit Streiks auf die Maßnahmen reagierte. Die Regierung zeigte sich anfangs hart, ließ die Polizei gegen Streikende vorgehen, erklärte sich dann aber – unter Vermittlung der FSLN – zu Verhandlungen bereit. Die Bedingungen für die FNT sind in diesem Konflikt nicht eben günstig: Als Konsequenz gewinnen individuelle Überlebensstrategien in der Bevölkerung an Bedeutung, durch die hohe Arbeitslosigkeit haben die Gewerkschaften zudem viele Mitglieder verloren. Vor allem aber fehlt der FNT die eindeutige Rückendeckung durch die FSLN. Die Regierung ihrerseits muß dem IWF eine gewisse Stabilität vorweisen, so daß ein Kompromiß in den Verhandlungen wahrscheinlich ist.
Der schwarze Peter

Die unterschiedlichen Kommentare zu den Wirtschaftsmaßnahmen in der sandi¬nistischen Presse deuten auf eine tatsächliche Uneinigkeit in der FSLN hin. Das Kommuniqué der Nationalleitung der FSLN unterstreicht die Notwendigkeit des Anpassungsplans, kritisiert ihn im Detail und benennt seine sozialen Implikationen. Die Erklärung endet, nach einem lauwarmen Aufruf zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften, mit dem Appell an die Kräfte des Landes zur sozialen Solidarität. Die Benennung der Nutznießer der Anpassung wird auffällig vermieden. Dies bedeute weder restlose Unterstützung noch Ablehnung der Regierungsmaßnahmen, erläuterte Ex-Präsident Daniel Ortega die Position der FSLN.
Mit dem inmitten der Streiks von der sandinistischen Nationalleitung ausgesprochenen Gesuch an IWF und Industrienationen, Nicaragua einen Aufschub in der Schuldenrückzahlung und besondere Bedingungen bei der Kreditvergabe zu gewähren, erhärtete die FSLN die Vermutung, daß sie auf keinen Fall die Zusage internationaler Finanzhilfen gefährden wolle. Immerhin würdigte die Regierung die sandinistische Zurückhaltung mehrfach als konstruktiv und patriotisch. Die FSLN will, scheint es, die Rolle des Sündenbockes beim zu erwartenden Scheitern des Anpassungsprogrammes schon präventiv auf die abschieben, an die sie gerade so sozialdemokratisch appelliert: IWF und nationales Kapital. Vielleicht spekuliert sie darauf, daß die UNO-Regierung wenigstens diese eine ihrer Versprechungen hält: abzutreten, wenn die Maßnahmen nicht wie verheißen greifen sollten.
Viel Handlungsspielraum hat die FSLN nicht: auch eine von ihr geführte Regierung müßte sich mit den westlichen Industrienationen und der nationalen Bourgeoisie verständigen. Die Vorsichtigkeit der offiziellen Reaktion bleibt vielen AktivistInnen an der sandinistischen Basis dennoch unverständlich. Will die FSLN ihre Glaubwürdigkeit und Mobilisierungsfähigkeit nicht ernsthaft aufs Spiel setzen, muß sie – so urteilen viele – schon bald die Initiative ergreifen. Ob und wie sie das tun wird, ist ungewiß. Teile der FSLN jedenfalls scheinen auf eine Sozialdemokratisierung der Konflikte zu setzen, wie sie in der bereits vollzogenen Aufgabenteilung mit der FNT zum Ausdruck kommt: die zeichnet fürs Grobe zuständig, und die FSLN vermittelt. Nicht wenige halten eine Rückkehr der FSLN an die Regierung bei den nächsten Wahlen für möglich: in einer Koalition mit (Antonio Lacayo und) der sozialdemokratischen Partei des Parlamentspräsidenten Alfredo Cesar.
Die Stabilität Nicaraguas bleibt derweil bedroht durch die anhaltenden Landkonflikte zwischen Ex-Contras und Kooperativen, die Gewaltakte gegen sandinistische AktivistInnen und die ständigen Bemühungen, Polizei und Militär der sandinistischen Kontrolle zu entziehen; die Kriminalitätsrate ist im ganzen Land emporgeschnellt. Die Wirtschaftsmaßnahmen verschärfen die sozialen Konflikte weiter, bleiben sie doch eine Antwort auf die Probleme der Mehrheiten schuldig. Dies kann auch die umfassende, opferfordernde und zukunftsverheißende Regierungspropaganda zum Anpassungsprogramm nicht verdecken, die letztlich nur an die Zeichnung von F.K.Waechter gemahnt: der dicke Weiße, umringt von freudigen Negerlein, erklärt das Hungerproblem für gelöst – einfach mehr spachteln.

Kasten:

Che lebt – Die neue Rhetorik der UNO-Regierung

“Die wirtschaftliche Revolution, die wir begonnen haben (…), wird wachsen wie ein gigantischer Baum, verwurzelt in der politischen Revolution, die das Volk von Nicaragua so viel Blut, Schweiß und Tränen gekostet hat.” Revolution! Man möchte kaum glauben, was Präsidialamtsminister Antonio Lacayo da im Namen der UNO-Regierung verliest. “Wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, an Weltbank und IWF (…), mit Bestimmtheit die Selbstbestimmung Nicaraguas zu unterstützen, welche den Aufbau dieses Modells von integraler Revolution vorantreibt, das als Beispiel dienen soll für die Bruderländer der Dritten Welt, die mit vollem Recht für ihre Befreiung von Rückständigkeit und Armut kämpfen.”
Selbstbestimmung! Beispiel, Befreiung, Kampf – es ist nicht zu fassen, wie Toño Lacayo sich zu Höhen revolutionärer Rhetorik emporschwindelt, die der FSLN vorbehalten zu sein schienen.
Die FSLN zeigt sich einigermaßen verblüfft ob der neuen Konkurrenz. Zwar hatte sie sich seit dem Regierungsverlust eifrig bemüht, den neuen Machthabern die Revolution als historische Realität und deren Lebendigkeit als politische Determinante nahezubringen. Daß die rhetorischen Lernerfolge der Regierung solche schon che-mäßigen Dimensionen annehmen, macht allerdings stutzig: Den Versuch der “Konfiszierung der Revolution” vermutet die sandinistische Journalistin Rosario Murillo hinter der wundersamen Wandlung des Regierungsdiskurses.
Tatsächlich hat sich die Regierungspräsentation deutlich gewandelt: statt drögen Technokraten-Mienen hier ein lachender Minister, da ostentative Besorgnis, dort ein volksnah fluchender Lacayo. Wo früher der schiere Triumphalismus den Diskurs diktierte, werden heute durchaus Konzessionen an die Wirklichkeit, die bittere, gemacht. Zwar rudern die regierungsfreundlichen Werbespots noch gerne bei aufgehender Sonne auf dem Nicaraguasee, werfen aber immerhin kurze Blicke auf schmutzige Kinder und unansehliche Menschen, die im Müll nach Eßbarem stochern – aber Nicaragua hat auch große Probleme, besorgt sich die Stimme aus dem Off.
Im Gegenzug reift der offizielle Diskurs der FSLN vom markig-Fordernden zum eher distinguiert-Appellativen. Wo seinerzeit die Klassenlage analysiert und mit Konfiszierung gedroht wurden, wird heute an die soziale Solidarität gemahnt. In den abendlichen Fernsehnachrichten trifft man sich dann wieder; den Bericht über ein schmalbrüstiges regierungsamtliches Wohnungsbauprojekt untermalt schamlos die leichte Melodie eines sandinistischen Revolutionsliedes. Die Entwicklung scheint allgemein zu sein: der Kommandant der salvadorianischen Guerilla FMLN freute sich, von der demokratischen Regierung Nicaraguas empfangen zu werden und würdigte den nicaraguanischen Demokratisierungspro¬zeß als Beispiel für El Salvador.
Nicht bekämpfen, umarmen müsse man die Revolution, war das Motto der bundesdeutschen Sozialdemokratie in ihrer Nicaragua-Politik. Umarmen und zudrücken.
H.-C. Boese


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In der “Musterdemokratie” zer­bröckeln die Illusionen

Venezuela fällt aus dem lateinamerikanischen Rahmen: Die großen Erdölvorräte veränderten seit dem Beginn ihrer Ausbeutung in den 30er Jahren die politische und ökonomische Struktur des bis dahin armen Agrarstaates im Norden Südamerikas. Vorher war das Land in von einzelnen Caudillos regierte Regionen zersplittert, die Bevölkerung war abhängig von ihren jeweiligen Grundherren. Mit dem Öl folgte eine Phase der Diktaturen mit wenigen demokratischen Zwischenphasen. 1958 besiegelte der Pacto de Punto Fijo die bis heute gültige Partei­endemokratie, der viele einen Mustercharakter in Lateinamerika attestieren.
Dennoch kann von einer Musterdemokratie in Venezuela keine Rede sein. Der venezolanische Staat ist, vergleichbar mit anderen lateinamerikanischen Ländern, zutiefst populistisch-paternalistisch geprägt. Kurz vor den Wahlen werden in ei­nem finanziell und inhaltlich bizarren Wahlkampf plötzlich Straßen geteert oder Stromleitungen gelegt. Da erreicht die staatliche “Fürsorge” sogar die “Ranchos”, die Armenviertel von Caracas, in denen mehr als die Hälfte der rund sechs bis sieben Millionen Caraceños lebt.
Durch die hohen Öleinkommen war eine Rentenideologie, die auf Pump lebte und strukturelle Entwicklungsprobleme weitgehend ausblendete, bislang in hohem Maße konsensfähig und ohne große Konflikte möglich. Korruption und Pa­tronage im großen Stil prägen nicht nur die Regierungsgeschäfte und das Rechts­system, sondern sind auch im täglichen Leben maßgeblich. Doch nicht nur des­halb ist die öffentliche Meinung über Politiker, Regierung und Behörden auf dem Nullpunkt angelangt.
In den 70er Jahren konnte der Staat seinem paternalistischen Anspruch, für seine BürgerInnen “zu sorgen”, zumindest zeitweise gerecht werden, da der öffentliche Sektor durch die gerade vonstatten gegangene Nationalisierung des Erdöls und eine hohe Neuverschuldung noch über ausreichend Geld verfügte. Heute jedoch hat die permanente Erfahrung uneingelöster Versprechungen ein zunehmendes Mißtrauen gegenüber dem demokratischen System und den Politikern ausgelöst: “Prometen, pero no cumplen”, sie versprechen viel, aber halten’s nicht.
Zusätzlich führte die Tatsache, daß die Parteien und damit der Staat sich lediglich vor den Wahlen ernsthaft um die Wähler und ihre Probleme kümmern, ins­besondere in der letzten Zeit zu einem weitgehendem Vertrauensverlust in den Staat, zu Hoffnungslosigkeit und Resignation in den unteren sozialen Klassen. Immer weniger glauben sie daran, daß der Staat ihre Le­benssituation verbessern könne oder dies überhaupt ernsthaft wolle.

Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation liegen dicht beieinander

Gleichzeitig und vordergründig widersprüchlich beherrscht viele Menschen eine Art “Tellerwäschermentalität”, die jede Armut auf individuelles Versagen zurückführt, den Staat und die Gesellschaft von jeder Schuld freispricht und die Hoffnung auf den “großen Sprung nach oben” manifestiert. Man hofft, eines Tages dem Elend entrinnen zu können; wer dies nicht schafft, ist selber Schuld und hat seine Chance verpaßt. Auch das venezolanische Fernsehen läßt kaum eine Möglichkeit verstreichen, den Armen zu zeigen, wie unfähig sie sind, und ver­stärkt damit die gesellschaftliche Spaltung und Hierarchie nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch innerhalb der marginalisierten Gruppen selbst.
Unter solchen Bedingungen liegen Konformismus, Aufsteigermentalität und Resignation dicht bei­einander. Ein “Klassenbewußtsein” ist in Venezuela kaum ver­breitet. Maßgeblichen Einfluß hatte in dieser Hinsicht die enge Anlehnung an die USA, auch über die Erdölgesellschaften und ihre Arbeiter (Trotzdem sind die “Gringos” in Venezuela, wie auf dem gesamten Subkontinent, äußerst unbeliebt).
Diese Mentalität trug mit dazu bei, daß soziale Bewegungen und Selbsthilfeinitiativen lange Zeit ein Schattendasein führten. Auch der zentralisierte Staat verhinderte bisher trotz der Wahlen und der Verankerung der Parteien eine echte Partizipation an den Entscheidungen. Neue Bemühungen um eine staatliche wie institutionelle Dezentralisierung könnten die Voraussetzungen für eine stärkere Bürgerbeteiligung schaffen; wohin sich die Reformen jedoch tatsächlich entwic­keln, ist momentan noch nicht absehbar.
Als die mit großen Hoffnungen gewählte Regierung von Carlos Andres Pérez in vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem IWF im Februar 1989 harte wirtschaftliche Maßnahmen durchsetzte, waren gewaltige Unruhen und immense Plünderungen die Folge (vgl. LN Nr. 180). Sowohl das Militär als auch im Unter­grund in den Ranchos arbeitende Gruppen nutzten die Gelegenheit zu einer of­fenen Konfrontation, in deren Folge durch das brutale Vorgehen der Militärs – auch gegenüber Unbeteiligten – mehrere Hundert Menschen ermordet wurden. Nach wie vor gibt es zahlreiche Verschwundene und immer noch fast täglich To­desanzeigen in den Zeitungen von den Kämpfen.
Diese Ereignisse haben zwar nicht zu einer breiteren Opposition geführt, hatten aber dennoch Auswirkungen auf die poltische Kultur. Hand in Hand mit den sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen der Mehrzahl der Bevölkerung, haben fast alle inzwischen den letzten Rest Vertrauen in den Staat und seine Akteure verloren. Die Menschen glauben an praktisch nichts mehr, was “von oben kommt”. Steigende politische Repression und die traumatischen Ge­schehen vom Frühjahr 1989 machen Angst und hemmen politische Aktivitäten.
Die zunehmende Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf den “großen Sprung”, den sozialen Aufstieg, vor allem unter den Jugendlichen der städtischen Barrios, und der Vertrauensverlust in bezug auf die Politik begünstigt nun eine Entwicklung, die ihren eigentlichen Anfang einmal in der Mittelschicht nahm: die Stadtteilinitiativen (Asociaciónes de vecinos) oder auch Selbsthilfegruppen.
Sie sind eine Form von Bürgerinitiativen, die sich um alle Belange des eigenen Stadtviertels kümmern, vor allem jedoch um die von den zuständigen Behörden vernachlässigten Probleme. Einen unmittelbar an der Verbesserung der Lebens­bedingungen orientierten Ansatz haben die Vecino-Gruppen in den Barrios pobres, während die Gruppen der Mittelschicht zudem allgemeiner politisch und partei­enunabhängig wirken wollen. In Caracas sind die Wohnlagen klar getrennt: Die unteren Schichten wohnen ganz oben an den Hängen; je weiter unten die Woh­nung, desto besser gestellt sind die Leute.
Ein Hindernis der Stadtteilarbeit in den Barrios war vor allem deren heterogene Zusammensetzung, die immensen Einkommensunterschiede auch innerhalb der “Unterschicht”, und die daraus folgende Hierarchisierung. Diese erschwerte oft eine Solidarisierung, die ihrerseits jedoch Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit ist.
Die staatliche Haltung den Gruppen gegenüber ist charakteristisch für das System Venezuelas: Zwar wurden die Vecino-Vereinigungen 1979 und verstärkt dann 1990 durch eine Gesetzesreform institutionalisiert, mit Rechten und Pflichten ausgestattet und 1988 sogar in die Stadt- und Gemeindeplanung miteinbezo­gen; doch werden ihre Aktivitäten vielfach nur solange begrüßt, wie sie propa­gandistisch ausgenutzt werden können. Ansonsten erfolgen die typischen Maß­nahmen, die übliche Hinhalte-Taktik, Versprechen und Nicht-Einhalten oder auch Einschüchterungsversuche. Manche Gemeinden jedoch versuchen auch, ernsthaft mit den Vecinos zusammenzuarbeiten.
Auch im Umweltbereich gibt es verstärkte Initiativen “von unten”, weil die Umweltsituation in Venezuela sich katastrophal darstellt und wenige staatliche Be­mühungen ernst zu nehmen sind. Ein Beispiel ist die Sociedad Conservacionista Aragua, die es in über 17 Jahren Arbeit geschafft hat, basisorientiert zu arbeiten, ohne sich etwa von den Parteien korrumpieren zu lassen – eine Gefahr, die bei allen Gruppen latent existiert und wodurch viele, auch der Vecino-Gruppen, ihre Glaubwürdigkeit und politische Energie verlieren.

Je weniger Funktionen der Staat noch erfüllt, desto wichtiger werden die Basis-Organisationen

Die Sociedad Conservacionista arbeitet im wichtigen Bereich Umwelterziehung direkt an den Schulen, mittels der Lokalzeitung und mit Hilfe ihrer Umweltbiblio­thek; daneben aber beispielsweise auch mit arbeitslosen Jugendlichen, die in der Feuerbrigade helfen, im naheliegenden Nationalpark während der Trockenzeit Brände zu löschen und in der Regenzeit bei der Aufforstung tätig sind. Die Zu­sammenarbeit mit anderen Umweltgruppen und der Versuch, auch die staatli­chen Institutionen für dieses Thema zu sensibilisieren, werden immer unerläßli­cher.
Diese zwei Bereiche – Asociaciones de vecinos und die Sociedad Conservacionista Aragua als ein Beispiel für Umweltorganisationen – zeigen, daß auch in einem Land mit traditionell wenig Basisorganisation wie Venezuela, diese umso wichtiger wird, je weniger der Staat solche Funktionen erfüllt.
Die Illusion seitens der Bevölkerung, einmal den großen Sprung in die reiche Gesellschaft schaffen zu können, die Wunschträume, der Staat sorge dann wenig­stens für diejenigen, die aus eigenem Versagen arm bleiben, und die Hoffnung der Politiker, die Widersprüche kapitalistischer Entwicklung mit Hilfe des Öl­reichtums umgehen zu können – alle diese während 30 Jahren Demo­kratie ge­pflegten Illusionen zerbröckeln langsam.
In Venezuela wird seit einigen Jahren immer deutlicher, daß bei sich verschlechternden ökonomischen und konfliktiver werdenden politischen Verhältnissen die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, immer größer wird. Hierin liegen auch Chancen, die politische Kultur partizipativer und damit demokratischer zu gestalten. Inwieweit es gelingt, den äußerlich negativen Entwicklungen eine sol­che positive Wendung zu geben, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob der Staat ohne Eingreifen des Militärs die Freiräume läßt, daß die Menschen immer mehr Vertrauen in die eigene Kraft und die eigenen Erfolge entwickeln können.

Kasten:

Wir, die Gesellschaft für Umwelt- und Naturschutz in Venezuela (GUNV) sind ein 1990 gegründeter gemeinnütziger Verein, der sich bislang noch überwiegend aus StudentInnen der Geographie in Bonn zusammensetzt, was aber nicht so bleiben soll. Wir wollen vor allem zwei Hauptaufgaben erfüllen: Die finanzielle Unterstützung von Projekten im Bereich Umwelterziehung in Zusammenarbeit mit der Sociedad Conservacionista Aragua als einen Beitrag zur Verbesserung der Umwelt- und Lebensbedingungen dort. Schon seit längerem pflegen wir sehr enge Beziehungen zu dieser Organisation.
Der zweite Teil ist die Sensibilisierung von Menschen hier in bezug auf Umwelt- und Entwicklungsprobleme über eine möglichst breite Öffentlichkeitsarbeit, be­sonders zu dem in der “Entwicklungsszene” ziemlich vernachlässigten Vene­zuela. Für an diesem Land interessierte Leute wollen wir gerne Ansprechpartner sein, neue Mitglieder und Spenden würden wir sehr begrüßen!

Kontaktadresse: Hilde & Martin Selbach, Burbacher Str. 80, 5300 Bonn, Tel. 0228/231643 oder bei Autorin: 02222/63261;
Kontonummer: 251140 bei Sparkasse Bonn BLZ: 38050000.


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Only in Dollar we trust

“Es ist unmöglich, in nur 18 Monaten, die Fehlentwicklung von Jahrzehnten zu korrigieren”, sagte der argentinische Präsident Carlos Menem Mitte März vor den TeilnehmerInnen eines “Seminars über die Realitäten Argentiniens” der Konrad-Adenauer-Stiftung in Buenos Aires. Wenige Tage zuvor verkaufte er seinen peronistischen ParteigenossInnen auf einem Kongress die derzeitige Situation wesentlich rosiger: “Argentinien fühlt sich schon jetzt als Teil der ersten und nicht mehr der Dritten Welt.”
Mit 27% Inflation im Februar schloß Argentinien also zu den “entwickelten” Ländern auf. Ende März tat der neue Wirtschaftsminister Domingo Cavallo (LN 201) dann den nächsten Schritt seines Landes innerhalb der Gemeinschaft der Industrienationen. Was in Europa auch 1992 noch längst nicht erreicht sein wird, die einheitliche Währung der Mitgliedsländer, nahm der Minister für das noch zu realisierende amerikanische Pendant, den Gemeinsamen Markt von Alaska bis Feuerland, schon einmal vorweg: Der US-Dollar wird am 1.April offizielle Leitwährung des Landes. Damit wird letztlich der Realität, daß viele Waren ohnehin nur noch gegen US-Dollar gekauft werden können, Rechnung getragen. Abhängig ist dieses Gesetzesprojekt nur noch von der Zustimmung des Parlaments, dessen Wohlwollen Cavallo sich allerdings schon im voraus gesichert hatte. “Die peronistischen Abgeordneten unterstützen den Minister und seinen Wirtschaft- plan.”
Grundlage für die freie Austauschbarkeit des argentinischen Austral mit der US Währung ist eine feste Parität mit dem Dollar von 10.000 Australes. in dem Gesetzesentwurf behält sich die Regierung vor, zu einem späteren Zeitpunkt die vier Nullen zu streichen und eine neue Währung mit dem Wechselkurs eins zu eins einzuführen, als “psychologischen Effekt”. Gesichert wird die volle Konvertibilität der Währungen durch die Bindung der Australmengen an tatsächlich vorhandene Gold- und Devisendeckungen (Dollar) der Zentralbank: alle Australes, für die die Zentralbank über keinen realen Gegenwert in Dollar oder Gold verfügt, sollen aus dem Verkehr gezogen werden. Entsprechend werden laut Plan sowohl Wechselkursschwankungen als auch Abwertungen ausbleiben. Die argentinische Währung schwankt dann sozusagen gemeinsam mit dem Dollar auf und ab. Sogesehen eine realistische Anpassung an die Weltökonomie, die ohnehin hauptsächlich in Dollar abgerechnet wird. Für Argentinien jedoch ein Revival “der Wirtschaftspolitik vom Ende des 19.Jahrhunderts”, so ein Kommentator.
Vorraussetzung für das Gelingen dieses Vorhabens ist allerdings, daß die Zentralbank keinerlei Banknoten drucken läßt, die nicht gedeckt sind. Darüberhinaus steht und fällt der Plan natürlich mit der Steigerung der Staatseinnahmen, denn die Zahlungsverpflichtungen des argentinischen Staates bleiben auch weiterhin bestehen, und die wurden in der letzten Zeit allzu oft durch das Ankurbeln der Druckerpressen ausgeglichen. Auf 56 Mrd. Dollar belaufen sich mittlerweile die Auslandsschulden des Landes. Mit den Zinszahlungen liegt Argentinien in Höhe von 7 Mrd. Dollar im Zahlungsrückstand. Seit Monaten erfolgt alle 30 Tage eine symbolische Zahlung von 60 Millionen Dollar an die Gläubigerbanken. Doch das reicht den internationalen Finanzbürokraten nicht mehr. John Reed, Chef der größten Gläubigerbank Argentiniens, der Citicorp meinte, daß es ohne eine Erhöhung dieser Zahlungen keine Umschuldungsverhandlungen der Auslandsschulden geben werde. Und auf die ist das Land dringend angewiesen. Aber Reed sagte noch mehr bei einem Besuch in Buenos Aires. Die Kreditbanken hätten das Interesse an Argentinien verloren. Nicht nur, daß sie sich weigern zu investieren, sie denken nicht einmal daran. ihr Interesse ist Richtung Osteuropa und den Wiederaufbau Kuwaits geschwunden.
Höhere Steuereinnahmen und geringere Ausgaben, so lautet die Devise gegen das horrende Haushaltsdefizit des Staates. Gleichzeitig bedeutet die Dollarisierung allerdings auch ein Einfrieren der Preise und vor allem der Löhne, und die liegen auf dem tiefsten Niveau in der Geschichte des Landes.
Gelingt all dies nicht, so wird von der nun versprochenen Null-Inflation nichts übrig bleiben, die geplante Wirtschaftsstabilisierung wird sich als weiterer Schritt in Richtung Chaos entpuppen und Argentinien würde womöglich doch wieder zum “Dritte-Welt-Land abzusteigen drohen.

Streiks für „Schrott und altes Eisen“

Abgestiegen sind auf jeden Fall schon jetzt die argentinischen ArbeiterInnen, allen voran die Staatsangestellten, die in dem derzeit teuersten Land südlich des Rio Grande durchschnittlich mit umgerechnet 200 Mark im Monat auskommen müssen. Mitte Februar trat die Mehrzahl der EisenbahnarbeiterInnen in einen unbefristeten
wildcat-Streik. Unzufrieden waren sie über ihre Gewerkschaftsführung und die harte Linie der Regierung in den Lohnverhandlungen und forderten mindestens 50% Lohnerhöhung. Die auf vier der sechs Hauptlinien Argentiniens streikenden ArbeiterInnen zogen nicht nur den großen Arger der ArgentinierInnen auf sich, die im heißen Sommer zum Urlaub ans Meer fahren wollten. Während sich Gepäck und Reisende in den Bahnhöfen von Buenos Aires stauten und stapelten griff Menem auf seine verschärften Gesetze zurück. Das im Dezember eingeschränkte Streikrecht verlangt für den öffentlichen Dienst neuerdings eine vorhergehende Benachrichtigung des Arbeitsministeriums und eine Genehmigung dieser Behörde für die Protestaktionen. Diese Verordnung ermächtigt die Regierung bei Zuwiderhandlungen, Streikenden mit Geldstrafen und Entlassungen zu drohen.
Nachdem der Streik für illegal erklärt worden war, kam Menem dann Anfang März mit dem großen Knüppel: Alle Eisenbahnlinien, die bestreikt wurden, ließ der Präsident per Dekret vorläufig schließen, die am Streikenden wurden entlassen. Die vier Linien sollen nun bis zu ihrer Privatisierung stillgelegt bleiben. “Wer wird schon altes Eisen und Schrott kaufen wollen?”, kommentierte der Gewerkschaftsführer der EisenbahnerInnen, Jose Pedraza, bitter. Wirtschaftsminister Cavallo gab zu, daß die argentinischen Eisenbahnlinien “praktisch keinen Marktwert haben, so daß Privatisierung nur bedeuten kann, daß sich Interessenten finden, die bereit sind, sie zu übernehmen”, abzüglich der Streikenden, versteht sich.

Drogendollar

Während sich also die “Fachleute” aus dem Wirtschaftsministerium über einer Ausweg aus der Instabilität den Kopf zerbrechen und die Eisenbahnarbeiterinnen längst nicht mehr wissen, wie die Familie ernährt werden soll, reißen die Korruptionsskandale -und damit auch das Loch in der Haushaltskasse – der Regierung nicht ab. Jüngster Fall ist die angebliche Verwicklung von Menems Frau Zulema Yoma in einen ‘Geldwasch-Skandal’. Illegale Drogengelder sollen in Argentinien, vor allem von hohem Regierungsangestellten ‘gereinigt’ worden sein. Diese Veröffentlichungen des konservativen spanischen Blatts ‘Cambio 16’ verursachten in Argentinien allerdings nur kurzzeitig einen Skandal. Nachdem Spaniens Felipe Gonzáles Menem versicherte “diese Wochenzeitschrift ist eine Schmähschrift, die schon mir und der königlichen Familie Probleme verursacht hat, mit Anklagen, die im Nichts endeten”, beauftrage der Peronist mit gestärktem Rücken seinen Geheimdienst SIDE. Der fand dann natürlich heraus, daß “kein Mitglied der Familie Yoma in dem Prozess der illegalen Geldwäsche verwickelt ist”.
Dennoch trat der Präsidentenberater und Freund der Familie Yoma Ibrahim al Ibrahim von seinem Posten zurück und verließ schleunigst das Land, während der Flughafen Ezeiza von der US-Drug-Agency überwacht wurde. Zwei Familienmitglieder werden nun dennoch in Spanien wegen der Drogengeschäfte angeklagt. Präsident Menem spricht derweil von einer “internationalen Verschwörung” gegen seine Regierung. “Offenbar existiert ein Komplott gegen dieses Argentinien, daß sich aus der jetzigen Situation befreien und ein großes Land werden will.”
Wie eine Verschwörung gegen die argentinische Bevölkerung mutet dagegen eher Menems Regierungspolitik an. Wie lange Menem es sich noch leisten kann, mit der harten Knute alle Proteste der Bevölkerung zu ignorieren und seine liberal-konservative Politik fortzusetzen, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Seine Popularität ist von den 85% bei der Amtsübernahme im Juli 1989 auf mittlerweile 30%gesunken – Tendenz fallend. Nicht nur die EisenbahnerInnen beziehen Position. Z.B. die Lehrerinnen kündigten an, im Falle ausbleibender Lohnerhöhungen den Schuldienst nach den Ferien gar nicht erst aufzunehmen. Diese Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung wird sich auch bei den im September anstehenden Parlaments- und Gouverneurswahlen äußern. Doch wie sagte Menem: “Während sich einige Politiker um die nächsten Wahlen kümmern, kümmere ich mich um die künftigen Generationen, um die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen.”


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Aristide – ein Priester als Retter der Demokratie

Wenn mensch bedenkt, daß seit Februar 1986 zwei Versuche, freie Wahlen zu organisieren gescheitert sind, grenzt das jetzige Geschehen an ein Wunder: das erste Mal hatten im November 1987 Militärs und Tontons-Macoutes im Dienste des alten Regimes die Wahlen in einem Blutbad enden lassen, das zweite Mal hatten die Militärs eine Scheinwahl organisiert, die von mehr als 80% der Wähler boykottiert wurde und aus der der dem alten Regime nahestehende Zentrumskandidat Leslie Manigat als Präsident hervorging, der wiederum vier Monate später vom Generalstab der Armee seines Posten enthoben wurde. Dennoch, trotz der zahlreichen, von der Armee und den alten Machthabern unternommenen Versuche, mit allen Mitteln die Demokratisierung Haitis zu verhindern, war die politische Dynamik so stark, der Wille zur Demokratie seitens der Bevölkerung so mächtig, daß der massive Wahlsieg von Père Aristide, dem renommiertesten und engagiertesten Vertreter der demokratischen Bewegung in Haiti nur als logische Folge erschien.
Seit der Zeremonie der Amtsübernahme hat Père Aristide Farbe bekannt: er hat der pompösen Symbolik der Duvalier-Diktatur ein Ende gemacht und diese Zeremonie umorganisiert, indem er in erster Linie das Volk an ihr beteiligt hat. Eine Bäuerin und nicht die provisorische Ex-Präsidentin Ertha Pascale-Trouillot hat ihm die Präsidentenschärpe überreicht; statt auf dem Präsidentensessel Platz zu nehmen, den die Duvaliers dreißig Jahre lang besetzt hielten, hatte er extra einen Sessel herstellen lassen von den Waisenkinden der Organisation, die er vor einigen Jahren gegründet hat, um sich der Straßenkinder von Port-au-Prince anzunehmen. Seine zweite Amtshandlung bestand darin, acht hochrangige Militärs der Armee zu verabschieden und den Chef des Generalstabes Abraham darauf zu verpflichten, die Armee in den Dienst der Demokratie zu stellen. Diese Amtshandlungen mögen eher symbolisch erscheinen, sind aber doch nur die logische Fortsetzung des politischen Engagements von Père Aristide.

Aristides Werdegang

Nach dem Theologie- und Psychologiestudium in Jerusalem, Ägypten und Kanada war er 1982 zum Priester geweiht worden und im selben Jahr zum Pfar¬rer einer der ärmsten Gemeinden von Port-au-Prince ernannt worden. In kürzester Zeit wird er zu einem scharfen Kritiker des Duvalier-Regimes und der Ausbeutung in Haiti, zum Gewissen und Wortführer der Slumbewohner, so daß man ihn bald einen Propheten nannte. Aufgrund seines politischen Engagements wurde Aristide von Rom aus dem Salesianerorden ausgeschlossen. Die katholische Kirche wollte ihn sogar nach Kanada ins Exil schicken, machte so gemeinsame Sache mit den Tontons-Macoutes, die ihm ihrerseits nach dem Leben trachteten. Auf Aristide sind in den vergangenen Jahren mehrere Attentate verübt worden, seine Kirche wurde niedergebrannt und seine Anhänger wurden von den Schergen des alten Regimes angegriffen und getötet. Die vielfachen Mordversuche haben ihn zu einem Märtyrer gemacht, der in den letzten Jahren von Leibwächtergruppen, die von Jugendlichen aus den Elendsvierteln gebildet worden waren, geschützt wurde. Dennoch reagierte Aristide auf die häufigen Appelle seiner Anhänger, sich in der Politik zu engagieren, erst einige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen am 16.Dezember, nämlich als die FNCD (Nationale Front für Veränderung und Demokratie, eine kleine Linkspartei), sich an ihn wandte, um den von den alten Duvalieristen in der Person des ehemaligen Innenministers von Duvalier und bekannten Folterers, Roger Lafontant, unternommenen Versuch, die Diktatur wiederherzustellen, zu verhindern.

Polarisierung durch Aristide

Von dem Moment an, als sich Aristide zur Wahl aufstellen ließ, spaltete sich der Wahlkampf in zwei Lager: auf der einen Seite die Basisorganisationen, Gewerkschaften und demokratischen Gruppierungen, auf der anderen Seite die neoliberale Koalition von Marc Bazin, dem nach Aristide aussichtsreichsten Kandidaten für diese Wahl und den Duvalieristen, die sowieso gegen Aristide als Präsidenten waren, hatte er doch mehrfach erklärt, sie für die dreißig Jahre Diktatur, in die sie das Land gestürzt hatten, zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen haben deutlich gemacht, daß diese sich in eine Volksabstimmung für Aristide verwandelt hatten. Père Aristide hatte 67% der Stimmen erhalten, wogegen Bazin lediglich 13% erzielen konnte. Die restlichen Stimmen verteilten sich auf die anderen Parteien wie die des Agronomen Louis Dejoie (PAIN – Partei der Landwirtschaft und Industrie), die PDCH (Christlich-Demokratische Partei Haitis) des Pastors Sylvio Claude und die MDN (Mobilisierung für die Nationale Entwicklung), die Partei von Hubert de Ronceray, einem ehemaligen Duvalier-Minister. Der Erfolg von Aristide gegenüber seinem neoliberalen Rivalen Marc Bazin ist auch der Erfolg eines Gesellschaftsprojektes, das auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung am politischen Geschehen zielt, wogegen das andere Projekt sich eher als autoritärer Technokratismus bezeichnen ließe. Das Credo von Marc Bazin, dem Kandidat der Amerikaner und der haitianischen Bourgeoisie, war durchweg den Entwicklungshandbüchern des IWF und denen der Weltbank entnommen, bei der er lange Zeit als Beamter geabeitet hat. Bazin hatte sich als der Kandidat präsentiert, der aufgrund seiner guten Kontakte zu den internationalen Organisationen in der Lage sei, das Land aus der Isolation zu führen. Die Glanzleistung von Aristide bestand gerade darin, zumindest auf der politischen Ebene eine Alternative zu der neoliberalen Welle aufzuzeigen und den Völkern der Region neue Hoffnung auf ihre Selbstbestimmung zu geben. In den letzten fünf Jahren war es klargeworden, daß nur eine Mobilisie¬rung des Volkes, ungeachtet der von der Armee und den ehemaligen Machtha¬bern der Duvalier-Diktatur verübten Massaker, den 1986 errungenen Sieg über die Diktatur und die Durchsetzung des Kandidaten Aristide bringen konnte.

Aufgaben und Probleme der neuen Regierung

Der Präsident Aristide sieht sich allerdings äußerst vielfältigen Problemen gegenüber. Eine der dringendsten Aufgaben seiner Regierung wird darin bestehen, die Tontons-Macoutes endgültig aufzulösen und die von dreißig Jahren Diktatur tief geprägte Verwaltung zu sanieren. Einen Monat vor seinem Amtsantritt hatte der von seinem persönlichen Feind Roger Lafontant zusammen mit einigen Armeeoffizieren und Präsidentschaftskandidaten der letzten Wahlen organisierte Staatsstreich gezeigt, wie groß die politischen Schwierigkeiten seiner Regierung sein werden. Die sich in diesem Putsch manifestierende Frechheit und der Mangel an Respekt für ein Volk, daß zu mehr als zwei Dritteln der Stimmen seinen Präsidenten gewählt hatte, hat gezeigt, daß sie nichts unversucht lassen werden, um eine erfolgreiche Regierungspolitik von Aristide zu verhindern. Die Bevölkerung mußte, nachdem sie massenhaft für Aristide gestimmt hatte, am 6.Januar auf der Straße die Ergebnisse der letzten Wahlen verteidigen. Der eklatante Wahlerfolg von Aristide täuscht allerdings über seinen geringen Handlungsspielraum hinweg. Aristide, der nur sechs Wochen vor den Wahlen seine Kandidatur erklärt hatte, konnte sich nicht gleichzeitig auch noch auf die legislativen und die Senatswahlen konzentrieren, die zum selben Zeitpunkt stattfanden. Auch die FNCD, d.h. die Partei, die ihn unterstützt, brachte nicht genügend Kandidaten für Parlament und Senat zusammen. So hat die FNCD weder im Parlament (27 Sitze von 81) noch im Senat (13 Sitze von 27) die absolute Mehrheit und ist auf Koalitionen mit den Mitte-Links-Parteien und einigen unabhängigen Abgeordneten und Senatoren angewiesen. Sollte es Aristide gelingen, den sozialdemokratischen Flügel des Dreiparteienbündnisses ANDP (Nationale Allianz für Demokratie) für sich zu gewinnen, so verfügt er über eine starke und ausrei¬chende Mehrheit. Allerdings ist der Handlungsspielraum des Präsidenten Aris¬tide auch wegen der Verfassung von 1987 begrenzt, die – um das zu stark auf den Präsidenten zugeschnittene System zu reformieren – der möglichen Errichtung einer Diktatur vorgebaut hat. So genießt die Armee als Institution eine gewisse Unabhängigkeit und kann nicht, wie es unter Duvalier der Fall war, dem Präsidenten direkt unterstellt werden. Der vom Präsidenten und seinem Kabinett vorgeschlagene Premierminister braucht die Zustimmung von Senat und Parlament, was diesen beiden Institutionen eine größere politische Bedeutung verleiht als in den vergangenen dreißig Jahren, als sie von den Duvaliers vollkommen kontrolliert waren. Natürlich kann man einwenden, daß sich Haiti seit 200 Jahren die schönsten Verfassungen gibt, ohne damit die Errichtung von Diktaturen verhindern zu können. Der einzige Unterschied ist, daß die letzte Verfassung von 90% der Bevölkerung gewählt worden ist und diese gezeigt hat, daß sie bereit ist, sie mit allen Mitteln zu verteidigen.

Nationale und internationale Perspektiven der neuen Politik

Wenn auch der Handlungsspielraum von Präsident Aristide begrenzt ist, so bedeutet dies nicht, daß er nicht doch die Macht hat, einen strukturellen Wandel in Haiti in die Wege zu leiten. Seine moralische Autorität und das große Vertrauen, das die Bevölkerung in ihn setzt, werden ihm erlauben, die dringendsten politischen Probleme zu lösen, die die Duvalier-Diktatur hinterlassen hat und eine Politik einzuleiten, die die Haitianer mobilisiert für essentielle Fragen: den Kampf gegen den Analphabetismus, die ökologische Katastrophe, von der das Land betroffen ist, die Respektierung der Menschenrechte, eine größere soziale Gerechtigkeit, die Stärkung der demokratischen Prozesse und so der zivilen Gesellschaft. Schwierig wird es dagegen für die Regierung auf dem Gebiet der ökonomischen Fragen. Das Erbe der Duvaliers und der vielen provisorischen Regierungen seit Februar 1986 hat das Land an den Rand des finanziellen Ruins gebracht. Die neoliberale Politik der Grenzöffnung und der Schließung der staatlichen Unternehmen hat die Arbeitslosigkeit noch weiter verschärft, in einem Land, wo 70% der Bevölkerung ohne Arbeit ist. Die bis auf die Spitze getriebene neoliberale Strategie der Generäle in den letzten Jahren hat dazu beigetragen, aus Haiti eine große Freihandelszone für Waren aus Florida zu machen. Die Konsequenzen daraus sind eine Ausweitung des Schmuggels, eine noch größere Verelendung der Bauern (70% der Bevölkerung), die dem Konkurrenzdruck der amerikanischen Nahrungsmittelimporte nicht mehr standhalten können und zusätzlich unter der Schließung der einheimischen Unternehmen zu leiden haben. Wenn man davon ausgeht, daß der Präsident Aristide seit Jahren diese in Haiti in Zsusammenarbeit mit der Weltbank und den internationalen Hilfsorganisationen eingeführte Politik bekämpft hat, kann man sich vorstellen, daß es schwer sein wird für ihn, die in seinem Programm vorgestellte autozentrierte Wirtschaftsstrategie einzuführen. Aristide ist sich allerdings dieser Schwierigkeiten bewußt. Indem er einen ausgebildeten Agronomen (und keinen Politiker) zum Premierminister ernannt hat – René Préval – und indem er statt professioneller Politiker eher Fachleute ins Kabinett berufen hat, zählt Aristide darauf, breitere Sektoren der haitianischen Gesellschaft um sein Programm zu sammeln und die politische Polarisierung zu beenden, die den Wahlkampf gekennzeichnet hat.
Auf der internationalen Ebene möchte er Haiti aus der Isolation herausholen und die internationalen Beziehungen weniger einseitig gestalten. Seine erste Auslandsreise führte ihn nach Frankreich, was nicht zuletzt seinem Wunsch entspricht, den zu großen Einfluß der USA auf die haitianischen Angelegenheiten auszugleichen. Seine Regierung wird auch von neuem den Anschluß an Lateinamerika suchen. Die Anwesenheit des venezolanischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez bei seiner Amtseinführung und die häufigen Kontakte die dieser mit Aristide vor und nach seiner Wahl gehabt hat, zeigt zwischen den Zeilen eine Achse Caracas-Port-au Prince. Die lateinamerikanischen Delegationen waren bei der Amtseinführung stark vertreten und der Sieg Aristides war von mehreren Staatschefs und Vertretern der Theologie der Befreiung begrüßt worden (es wurden auch mehrere Solidaritätsgruppen für Haiti gegründet). Ein besonderes Ereignis verdient noch Erwähnung: bei der Amtseinführung war auch eine große kubanische Delegation verteten, dreißig Jahre nachdem F.Duvalier die diplomatischen Beziehungen zu Kuba abgebrochen hatte. Père Aristide hat letzte Woche versichert, daß er die Beziehungen zu Kuba wieder aufnehmen wird. Dies ist vielleicht das deutlichste Zeichen der Reintegration der beiden Länder, die aus unterschiedlichen Gründen in der Region isoliert sind.


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Die schier unglaubliche Mobilisierung eines Volkes

LN: Wie erklärst Du die neu erwachten Hoffnungen auf Haiti?

Pierre Toussaint ROY: Auch wenn es seltsam klingt, der erste Grund sind die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich durch die Gewalt gegen das Volk aufgestaut hatten.
Der zweite Grund ergibt sich daraus, daß die neue Regierung wirklich ein Ausdruck des Volkes ist. Es hat keine politische Partei gewonnen, an die das Volk sowieso nicht glaubt, sondern die Volksorganisationen haben ihren Kandidaten durchgesetzt. Inmitten der Hoffnungslosigkeit haben sich seit ein paar Jahren innerhalb der Kirche BäuerInnen-, Frauen- und Jugendgruppen gebildet. Die konservativen Kreise der katholischen Kirche haben den Armen ihre Strukturen zur Verfügung gestellt und kleine Entwicklungsprojekte gestartet. aber die Leute haben innerhalb dieser Strukturen ihre eigenen Organisationen geschaffen.
Die Volksorganisationen sind jetzt an die Macht gelangt, diese Regierung ist ein Produkt der Arbeit des Volkes. Zuerst waren sie gegen die Wahlen, weil es keine Alternative zu dem Kandidaten der USA gab. Doch als die Tontons Macoutes einen Kandidaten aufstellten, gingen sie auf die Suche nach einem aussichtsreichen Gegenkandidaten.
Aristide hatte schon einige Male abgelehnt. Als er diesmal zusagte, erfüllte er einen ausdrücklichen Wunsch des Volkes. In seiner Arbeit ist er mit dem Volk gegangen, hat mit dem Volk gekämpft und mit dem Volk gelitten. Deshalb stellt er eine Hoffnung dar. Auch wenn kaum Zeit war, um ein klares Regierungsprogramm auszuarbeiten, weil alles so schnell ging.

LN: In welcher Form hat das Volk Aristide unterstützt?

P.T.R.: Das läßt sich an drei Momenten der letzten Monate verdeutlichen, an den Wahlen, dem Putschversuch und der Amtsübergabe.
Haiti hat sechs Millionen EinwohnerInnen. Davon sind drei Millionen wahlberechtigt. Als die USA ihren Kandidaten, Marc Razin, einen ehemaligen stellvertretenden Direktor der Weltbank, aufstellten, erwartete man zwischen 30 und 40 Prozent Wahlbeteiligung. Als die Volksorganisationen Aristide als Kandidaten präsentierten, hatten sich 2 Millionen WählerInnen ins Wahlregister eingeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt blieb nur noch eine Woche bis zur verlangten eine Million Menschen, eingeschrieben zu werden, sodaß die Frist um eine Woche verlängert werden mußte. Es war also von vornherein klar, daß über ein Drittel der WählerInnen für Aristide stimmen würde. Und kein Kandidat konnte auf Wahlveranstaltungen nur ein Zehntel der Menschen zusammenbringen, die zu Aristide kamen.
Genauso spontan mobilisierte sich das Volk beim Putschversuch am 7. Januar. Dort war es deutlich: Ihr Kandidat hatte schon gewonnen und viele Hoffnungen geweckt.
Als die konservativen Kräfte mit dem Putsch versuchten, die Machtübernahme zu verhindern, gingen die Leute auf die Straße. Es war völlig erstaunlich: Ohne irgendeine Koordination reagierten die Leute in allen Landesteilen in gleicher Weise. Sie wissen genau, wer ihr Feind ist. Sie wissen genau, wer ein Tonton Macoute ist. Und so griffen sie sie sofort an. Sie zerstörten ihre Häuser, griffen sie auf und verbrannten sogar viele von ihnen.
Es gibt Versionen, denen zufolge die Militärs ihre Unterstützung für die Tontons Macoutes zurückzogen, als sie sahen, daß die Menschen auf den Straßen zum Äußersten bereit waren. Denn anstatt die reignisse vor dem Fernseher zu verfolgen, griffen die Leute ein. Einige mit ihren Fäusten, andere mit Stöcken. Sie gingen auf die Straßen, blockierten sie mit brennenden Autoreifen und bauten Barrikaden, um die Tontons Macoutes an der Flucht zu hindern. Das Volk bewachte die Barrikaden, verfolgte die Macoutes und bewegte sich auf den Nationalpalast zu. Dort hatten sich die Putschisten verschanzt.
So wurde das gemacht. Und es wurde in Port-au-Prince, in Capo Haitien und an vielen Orten überall so gemacht. Die Leute haben in den letzten sechs Jahren seit dem Sturz der Diktatur darin Erfahrungen gesammelt.
Und vor dem Nationalpalast sammelten sich immer mehr Menschen. Offiziell und auch in den Zeitungen wird behauptet, daß die Militärs nicht am Putsch teilnahmen, daß das Militär nach einem Schußwechsel den Nationalpalast besetzte und die Tontons Macoutes festnahm. Aber die Version der Volksorganisationen ist eine andere.Als der Anführer der Putschisten sich zum Präsidenten erklärte, beschlossen die Leute, zu kämpfen. Die Militärs, die sich nach dieser Version sehr wohl am Putsch beteiligt hatten, verließen den Nationalpalast und zogen sich in ihr Hauptquartier zurück. Von dort aus sahen sie, daß die Menschen viele Tontons Macoputes verbrannt hatten und dabei waren, den Nationalpalast zu stürmen. Mit all ihren Waffen hätten sie nicht Tausende von Menschen aufhalten können, die von allen Seiten kamen. Deshalb beschlossen die Militärs, die Tontons Macoutes zu verhaften.
Die gleichen Menschen gingen auch bei der Amtsübernahme auf die Straße. Dadurch, daß sie schon Tage zuvor die Wohnviertel säuberten, die Straßen schmückten und die Mauern mit Bildern bemalten, zeigten sie ihren Willen und ihre Fähigkeit, sich an der Regierung zu beteiligen.
Und auch Aristide drückte dies bei seiner Rede vor dem Nationalpalast aus. Noch nie hat ein Präsident während einer offiziellen Zeremonie so geredet wie Aristide. Wie auf seinen Predigten fragte er etwas und die Leute antworteten. Zum Beispiel: “Viele Hände?”, und die Menge antwortete: “Erleichtern die Last!”.
Diese ganzen Mobilisationen sind eine Warnung an die konservativen Kräfte und auch an die USA. Sie sollen sehen, daß die Menschen mit ihrem Leben diese Volksregierung verteidigen werden.

LN: Die drei Hauptpunkte in Aristides Programm sind Gerechtigkeit, Transparenz und Partizipation. Auf welche Weise wird sich das Volk an der Regierung beteiligen?

P.T.R.: Dazu muß nur die Verfassung angewandt werden. Sie stammt von 1987 und wurde damals von fast 100% der HaitianerInnen befürwortet. Darin ist festgelegt, daß es außer dem nationalen Parlament mit zwei Kammern auch eine Nationalversammlung der Volksorganisationen geben soll. Sie setzt sich aus RepräsentantInnen der neun Provinzversammlungen zusammen. Diese wiederum werden aus den Kreisversammlungen gebildet. Die neue Regierung sieht vor, daß die Provinzversammlungen von den Gemeinde- und Stadtteilkomitees ausgehen sollen. Diese Komitees gibt es im ganzen Land und sind der vielfältige Ausdruck der Volksbewegung. So ist es im Regierungsprogramm festgelegt, das übrigens “Die Gelegenheit am Schopfe packen” heißt.

LN: Und wie gestaltet sich das Verhältnis zur Kirche?

P.T.R.: Es gibt wie fast überall in Lateinamerika den konservativen Teil der Kirche, dem die Kirche der Armen gegenübersteht, die die Theologie der Befreiung vertritt. In Haiti gibt es drei Bischöfe auf der Seite der Armen, einige Unentschiedene und drei völlig Konservative. Der schlimmste ist der Erzbischof von Port-au-Prince, Francois Ligondé. Und auch hier hat das Volk reagiert.
Am 1. Januar hat Ligondé Aristides beschimpft. Einen Bolschewisten, Sozialisten, Diktator nannte er ihn. Sechs Tage später, beim Putschversuch, erinnerte sich das Volk sofort an diese Worte und bewertete sie im Nachhinein als Signal für die Vorbereitung des Putsches. Deshalb war der Bischof einer der ersten, der am siebten Januar angegriffen wurde.
Zuerst hieß es, er sei im Sitz der Bischofskonferenz. Die Leute gingen hin, plünderten und zerstörten den Sitz. Dann hieß es, Ligondé sei in seinem Haus. Als die Leute dort angelangten, war es schon von Polizisten besetzt, und so gelangten sie nicht hinein. Aber die Polizisten meinten, er halte sich in der alten Kathedrale versteckt. Also gingen die Manschen dorthin und brannten die alte Kathedrale nieder. Und so zog die Menge zu allen Orten, an denen sie den Bischof vermutete, durchsuchte und plünderte sie. Es heißt, daß Ligondé mittlerweile das Land verlassen hat.
Dies zeigt, daß die konservativen Teile der Kirche es nicht leicht haben werden. Außerdem ist die Mehrheit des Volkes innerhalb der Kirche organisiert. Das muß die Kirchenhierarchie akzeptieren. Ihre Beziehungen zur Regierung sind eine andere Sache, das läßt sich noch nicht voraussehen.

LN: Welche Hindernisse wird die Regierung zu bewältigen haben?

P.T.R.: Ein ist völlig klar, den USA geht diese Regierung gegen den Strich. Aber diese Regierung weiß, daß die USA großen Einfluß haben. Sie hat erklärt, daß sie zur Zusammenarbeit bereit ist, gegenseitigen Respekt immer vorausgesetzt. Doch die USA warten erst einmal ab, wie sich die Haitianische Regierung “benimmt”.
Das zweite Problem sind die Tontons Macoutes. Natürlich werden auch sie alles tun, um die Regierung zu stürzen. Aber durch den langen Kampf des Volkes sind sie geschwächt. Der beste Beweis dafür ist ihr gescheiterter Putschversuch vom siebten Januar. Außerdem sind dabei die Anführer der Tontons Macoutes verhaftet worden, und das Volk hat viele von ihnen umgebracht. Und die Regierung hat vom ersten Tag an Schritte gegen die terroristischen Banden unternommen; über einhundert Personen, die sich wegen Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, dürfen das Land nicht verlassen.
Doch das größte Problem ist die Wirtschaftslage. Es müssen Entwicklungsprogramme gestartet werden. Im Regierungsprogramm steht, daß die Mittel innerhalb Haitis ausgenutzt werden sollen. Doch für Haiti ist internationale Hilfe lebensnotwendig. Viele lateinamerikanische Länder, zum Beispiel die “Gruppe der Drei” (Mexiko, Venezuela, Kolumbien) haben angekündigt, wirtschaftliche, politische und soziale Beziehungen zu Haiti zu verstärken. Venezuela wird Öl liefern.
Doch trotzdem wird es viele Probleme geben. Die wirtschaftliche und soziale Situation in Haiti ist fürchterlich. Daher betone ich immer wieder, wie wichtig internationale Solidarität ist. In erster Linie muß es Solidarität von Volk zu Volk geben. Volksorganisationen, Institutionen und Personen, die für das Volk arbeiten, sollen direkten Kontakt zu den haitianischen Volksorganisationen aufnehmen und ihre Projekte unterstützen. Denn unzählige BäuerInnen-, Frauen- und StudentInnengruppen haben Entwicklungsprojekte.
Zweitens muß es auch Unterstützung von Regierung zu Regierung geben. Die Volksorganisationen und die Personen in allen Ländern sollten ihre Regierungen bitten und sie unter Druck setzen, damit sie die Regierung von Haiti unterstützen, aus dieser Misere herauszukommen.

Quellen: Sergio Ferrari, El Dia Latinoamericano 18.2.91


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Interview mit AEU-VertreterInnen

Präsident Serrano Elias: Rechter Demagoge

Frage: Der neue Präsident Serrano Elias ist in Guatemala einerseits als Mitglied der Nationalen Versöhnungskommission (CNR) bekannt und war damit maßgeblich am Dialogprozeß mit der Guerilla beteiligt, andererseits war er an der extrem repressiven Militärregierung von Rios Montt beteiligt. Wie schätzt ihr sein Verhältnis zu den Militärs ein?
Otto: Serrano Elias nahm an der CNR als Vertreter der Oppositionsparteien teil und war einer derjenigen, die im März 1990 die Abkommen von Oslo unterschrieben. Seine Geschichte zeigt jedoch sehr enge Verbindungen mit den Militärs, die am meisten in das guatemaltekische Aufstandsbekämpfungsprojekt verwickelt sind. So war er Staatsratspräsident unter Rios Montt und Unterstützer und Berater des Fuero Especial, des geheimen Sondergerichtes gegen Oppositionelle. Auch war er einer derjenigen Sektenführer, die die Religion als eine Methode der Aufstandsbekämpfung etablierten. Mit dieser Vorgeschichte trat Serrano Elias die Präsidentschaftskampagne an. Er äußerte sich zwar zunächst sehr kritisch gegenüber Cerezos Regierung und griff in Debatten teilweise scharf die Verdeckung von Korruption und Menschenrechtsverletzungen an; aber jetzt sieht man, daß das pure Demagogie war, um einen bestimmten Wählerkreis anzusprechen. Der verbrecherischste Teil der Militärs sitzt jetzt in der Regierungsmannschaft von Serrano Elias. Das zeigt zur Genüge, daß auch Serrano Elias das militärische Aufstandsbekämpfungsprojekt, die Politik der Zerschlagung der Volksbewegungen, fortführen wird.

Frage: Wird Serrano Elias den letztes Jahr begonnenen nationalen Dialog jetzt als Präsident weiter fördern?

Otto: Der Dialogprozeß könnte jetzt zum Stillstand kommen, wenn wir, die beteiligten Organisationen, ihn nicht weitertreiben, da jetzt neue Strategien wie etwa der Sozialpakt eingeführt werden, die die Aufmerksamkeit von dem ablenken könnten, was mit dem Dialogprozeß schon er¬reicht wurde. Jetzt, wo Serrano die Präsidentschaft angetreten hat, erklärte er bisher nur, daß die Regierung mit der Guerilla (URNG) in Dia¬log treten wird. Dies aber nur bis Juni, und das be¬deutet einen langen Zeit¬raum, der dem Heer als Spielraum zugestanden wird. Denn die Militärs wol¬len nicht, wie im nationalen Dialog vorgesehen, direkt, sondern nur über die Regierung am Dialogprozeß teilnehmen. Sie wissen, daß der Dialogpro¬zeß und die darin erreichten Beschlüsse uns Volksbewegungen dazu dienen können, politischen Spielraum zu gewinnen und die Regierung und die Armee unter Druck zu setzen.

Frage: Könntet ihr erklären, um was es sich bei dem Sozialpakt handelt und wie die Volksbewegungen darauf reagieren wollen?

Carmen: Uns scheint, daß die neue Strategie des “Sozialpaktes” eine Fortset¬zung der Strategie der “Concertacion”, der “Versöhnung” unter Vinicio Cerezo ist, die 1986 eröffnet wurde, um unter der Zivilregierung durch interne Vermittlungsbemühungen langfristig eine politische und ökonomische Stabilisierung zu erreichen. Auf diese Weise soll dem Ziel der Auflösung der Guerillabewegungen nähergekommen werden. Die Politik der Concertacion wurde jedoch von der nationalen Bourgeoisie und den Militärs blockiert und ein solches Projekt verunmöglicht. Heute nennt sich die neue Strategie “Sozialpakt”. Zunächst soll es eine Annäherung zwischen Unternehmer- und Arbeiterschaft sein, ohne daß jedoch Fragen wie z. B. Lohnerhöhungen oder Höchstpreise für Grundbedarfsprodukte überhaupt angesprochen werden sollen, weil die Unternehmerschaft und die Regierung dazu nicht bereit sind. Deswegen sollen in diesem Sozialpakt wohl vor allem einige allgemeine soziale Fragen, wie z. B. Gesundheitsversorgung oder staatliche Sozialleistungen besprochen werden. Das erscheint zwar positiv, aber die Art und Weise, wie sie es entwickeln und der politische Hintergrund dabei ist eine Strategie der Vereinnahmung der Volksbewegungen. Für den Sozialpakt ist der populistische Sozialdemokrat Mario Solórzano als Arbeitsminister eingesetzt worden, der unserer Einschätzung nach für Strategien wie die von Unternehmern unterstützte, gegen die Gewerkschaften gerichtete Solidarismobewegung eintreten wird.
Uns erscheint der Sozialpakt als unsinnige Parallelstruktur und Ablenkungsmanöver von dem tiefergehenden Dialogprozeß, innerhalb dessen bereits strukturelle gesellschaftliche Veränderungen angesprochen wurden. Verschiedene Volksorganisationen haben bereits erklärt, daß sie dieses Spiel nicht mitspielen werden. Es scheint, daß das Ziel des Sozialpaktes es ist, einerseits Arbeitsgruppen für Verhandlungen aufzubauen, um öffentliche Demonstrationen, den Kampf und Protest auf der Straße, zu verhindern und andererseits die eigentlichen Konfliktparteien, nämlich die Armee und die Guerilla aus der öffentlichen Auseinandersetzung herauszuhalten.
Wir Volksorganisationen haben deswegen folgendes vor: Wir werden den Sozialpakt zwar nicht ablehnen, aber nur in Verbindung mit dem nationalen Dialog zulassen, für dessen Fortsetzung als viel weitergehender politischer Diskussionsprozeß wir Druck ausüben wollen.

Frage: Wie sieht denn überhaupt die wirtschaftspolitische Orientierung der neuen Regierung aus?

Carmen: Serrano Elias wird mit der neoliberalen Strukturanpassungspolitik fortfahren müssen, die der IWF und die Weltbank für verschuldete Länder der Dritten Welt vorschreiben. Der Schuldendienst und der Etat des Verteidigungsministeriums für den internen Krieg werden weiterhin einen Großteil des Staatshaushaltes verschlingen.
Bis jetzt kann die Wirtschaftspolitik Serrano Elias’ allerdings noch nicht in allen Einzelheiten analysiert werden. Erst nach dem 2. Wahlgang ist seine Wirtschaftstruppe mit der ihn unterstützenden Allianz der Rechten, insbesondere dem CACIF (Unternehmerverband des Agrar-, Finanz- und Industriesektors) ausgehandelt worden. Der CACIF hat damit direkt die wirtschaftspolitischen Schlüsselministerien übernommen. Der CACIF hat bereits letztes Jahr einen Wirtschaftsplan ausgearbeitet, der unter dem Namen der Unternehmergruppe Piramide bekannt wurde. Der neoliberale Plan Piramide des CACIF sollte zunächst den Präsidentschaftskandidaten Jorge Carpio der UCN unterstützen, dem ca. 9 Millionen Quetzales angeboten wurden, falls er dem CACIF das Wirtschafts- und Finanzministerium überließe, wurde von diesem aber abgelehnt. Jetzt soll er unter Serrrano Elias verwirklicht werden.

Neuanfang studentischer Organisierung und der Aufbau von Frau¬engruppen

Frage: Wie habt ihr nach dem Massaker 1989 die Arbeit der AEU wieder aufgebaut und welche organisatorischen Veränderungen haben sich danach ergeben?

Otto: Die studentische Bewegung wurde mit verschiedenen Aktivitäten reorganisiert. Als erstes wurden 5 progressive studentische Gruppen zur Unidad Estudiantil zusammengeführt, die zusammen mit Resten der alten AEU die Arbeit aufrechterhielten. Innerhalb dieses Reorganisierungsprozesses wurden die Statuten und die Organisationsstruktur der AEU verändert und die AEU für neue Compañeros geöffnet. Im September 1990 gewann die Unidad Estudiantil die AEU-Wahlen und kann so seitdem die Arbeit innerhalb der Leitung der AEU weiterführen. Wir befinden uns heute in einem Prozeß der organisatorischen Umstrukturierung, der vor allem darauf abzielt, eine stärkere Partizipation und eine Verbreiterung der studentischen Basis der AEU zu erreichen. Dafür bieten wir vorzugsweise wissenschaftliche Arbeitsgruppen innerhalb von studentischen Forschungszentren, aber auch kulturelle und sportliche Aktivitäten an. Das Zentrum “Juventud Universitaria para la Paz” möchte z. B. im Rahmen des Studiums über den Friedensprozeß in Zentralamerika aufklären, das Centro de Promocion Estudiantil möchte die Aktivitäten und Forschung von StudentInnen im Bereich Umweltschutz, Menschenrechte, die Situation von Frauen, Educación Popular u.a. unterstützen. Wir wollen die Beteiligung an der StudentInnenbewegung über wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Themen fördern, weil nämlich die rein politische Beteiligung z. B. auf Demonstrationen und der traditionelle politische Diskurs wegen der großen Angst vor der Repression oftmals nicht angemessen ist, um die StudentInnen einzubeziehen. Im Rahmen dieser neuen Or¬ganisationsformen sind wir auch dabei, eine Volksklinik aufzubauen und haben eine Gruppe von MedizinstudentInnen, die bereit sind, dort zu arbeiten. Es gibt viele StudentInnen, die wir über solche Aktivitäten jetzt neu kennengelernt haben, und die dieselben Themen beschäftigen wie uns von der AEU, die diese Themen aber gern im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit behandeln möchten, die also gleichzeitig die Realität unseres Landes in ihrem Studium besser kennenlernen und an einem politischen Projekt studentischer Organisierung teil¬nehmen möchten.
Carmen: Ich möchte hinzufügen, daß diese neuen alternativen Formen der studentischen Partizipation nicht nur eine Strategie sind, um Fliegen auf eine andere Art und Weise für die politische Arbeit der AEU anzulocken, sondern daß sie aus dem Gefühl heraus entstanden sind, daß es der guatemaltekischen Jugend versagt ist, sich persönlich zu entwickeln. Guatemala ist eine kulturell sehr beschränkte und sehr repressive Gesellschaft, die über das individuelle Überleben hinaus keine menschliche Entwicklung zuläßt. Deswegen sollen die Leute eine Möglichkeit finden, sich der Realität dieses Landes nach ihren eigenen spezifischen Interessen anzunähern und ihre Fähigkeiten für den Aufbau einer demokratischeren Gesellschaft so zu entwickeln, daß sie sich damit identifizieren können. Wir wollen sie nicht ausnutzen, um sie auf eine subtilere Art und Weise für unsere Zwecke einzufangen. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe von ÖkologInnen, denen wir nie gesagt haben, sie sollten den Sitz der AEU mit Grünzeug schmücken, sondern die von uns unterstützt werden, ihre eigenen Projekte zu entwickeln, und die nicht unter dem Namen der AEU auftreten müssen, wenn sie nicht wollen. Es geht um eine breite Bewegung, die auch z. B. im Bereich von Kunst und Kultur die grundlegenden Probleme unseres Landes erkennt und zusammen mit den Volksorganisationen für demokratische Veränderungen kämpfen möchte. Jede/r StudentIn soll den Bereich finden, mit dem sie/er sich identifiziert und wo er/sie gerne mitmachen möchte.

Frage: Wie funktioniert das bei den neuen Frauengruppen, von denen du erzählt hast?

Carmen: Die Entwicklung der Frauengruppen ist eine ganz besonders wichtige Angelegenheit. Wenn mensch sich die Situation von Frauen in Guatemala und überhaupt in Latenamerika anschaut, wird klar, daß hier ein Schema der Unterdrückung und Ausbeutung reproduziert wird, das seit der Kolonisierung besteht, und außerdem von Frauen durch eine patriarchale Kultur und Sozialisation internalisiert wird, indem sie sich selbst als Sexualobjekt betrachten und sich minderwertig fühlen. Diese Kultur des Machismo setzt sich auch innerhalb der AEU fort; so bin ich in der Leitung der AEU die einzige Frau. In den anderen studentischen Organisationen sind noch einige mehr, aber auch nicht viele. Uns Studentinnen geht es aber nicht nur darum, einfach mehr Frauen an der AEU zu beteiligen, sondern wir wollen eine neue Perspektive zugunsten der Emanzipation von Frauen in die AEU hineintragen. Wir stoßen dabei jedoch auf viele Hindernisse nicht nur von Seiten der Männer, sondern auch vieler Frauen.
Wir haben zwei Frauengruppen, eine bei den Wirtschaftswissenschaften und eine bei den Agrarwissenschaften. Die Gruppe der Wirtschaftswissenschaftlerinnen entstand auf die denkbar antifeministischste Art und Weise, nämlich aus einem Schönheitswettbewerb heraus! Die studentische Vertretung hat nämlich nicht erlaubt, an eine Frauengruppe überhaupt nur zu denken. Sie sagten, daß eine Frauengruppe zur Spaltung der StudentInnenbewegung beitragen würde, einen Irrweg, ja eine Degeneration darstelle und den reaktionären Kräften an der Uni Vorschub leisten würde! So übernahmen ich und eine andere Frau die Leitung des Schönheitswettbewerbes, denn das fanden sie gut; ja sie hatten sogar vor, hübsche Frauen mit Miniröcken zur Werbung einzusetzen! Die Handhabung von Frauen als Sexualobjekt findet also selbst in den demokratischsten Gruppen der Volksbewegungen statt. Wir aber gaben dem Schönheitswettbewerb einige feministische Inhalte, nahmen Studentinnen der AEU in die Jury und riefen die Teilnehmerinnen dazu auf, ihr Konkurrenzdenken aufzugeben und untereinander solidarisch zu sein. Aus dem Schönheitswettbewerb entstand dann eine Gruppe von 15 Frauen, die sich seitdem zu Gesprächen und Diskussionen über Frauenbefreiung und ihren gesellschaftlichen Kontext trifft.

Frage: Welche feministischen Themen besprecht ihr in euren Gruppen und welche Aktionen habt ihr bisher gemacht?

Carmen: Wir sind noch in einem sehr embrionalen Stadium. Diese Gruppen sind noch nicht einmal 6 Monate alt und als aller erstes müssen die Studentinnen ein Selbstbewußtsein darüber erlangen, daß es berechtigt ist, ihre untergeordnete, gesellschaftliche Rolle als Frauen in Frage zu stellen. Sie müssem sich gegen Belästigungen der männlichen Mitstudenten zur Wehr setzen, die die Frauengruppen nicht akzeptieren. Ansonsten versuchen wir zur Zeit an den anderen Fachbereichen auch Frauengruppen aufzubauen. Als Aktionsformen haben z. B. die Agrarwissenschaftlerinnen verschiedene Theaterstücke entwickelt, die sie selbst geschrieben haben und aufführen und die von Vergewaltigung und Ausbeutung von Frauen, aber auch von ihrer Beteiligung an politischen Veränderungsprozessen handeln.
Insgesamt wollen wir von unseren konkreten, alltäglichen Erfahrungen ausgehen und uns von daher an allgemeine Zusammenhänge annähern. Die Frauen in den Gruppen sind noch sehr jung, aber sie haben alle schon auf Arbeitsplätzen, in der Uni usw. unter verschiedensten Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung gelitten.
Für uns muß es in einer so extrem gespaltenen Gesellschaft wie Guatemala drei gleichwertige grundsätzliche Ebenen gesellschaftlicher Auseinandersetzung geben: den Klassenkampf zwischen der extrem reichen herrschenden Oberschicht und den 70% unter der Armutsgrenze lebenden GuatemaltekInnen; die ethnische Problematik, da doch 70% und damit auch die am meisten diskriminierten und marginalisierten Frauen Indígenas sind; und den Geschlechterkampf für die Be¬freiung der Frauen, der in alle sozialen Auseinandersetzungen der Volksbewe¬gungen integriert werden muß.

Frage: Habt ihr Kontakt mit anderen Frauengruppen, wie z. B. der Witwenorganisation CONAVIGUA?

Carmen: Es gibt Kontakte zu CONAVIGUA. Aber wir haben uns gesagt, daß wir zunächst innerhalb der Uni als Studentinnen ein Bewußtsein für Frauenkampf schaffen müssen, um uns dann erst mit ganz anderen Frauenwelten auseinanderzusetzen. Denn die Studentinnen kommen meistens von der Mittelschicht, haben deren Werte verinnerlicht und leben eine ganz andere Realität als z. B. die direkt mit der Repression der Armee konfrontierten Indígenafrauen von CONAVIGUA, die meistens alleinstehende Mütter und Arbeiterinnen sind. Wir müssen von der konkreten Lebenssituation von Studentinnen ausgehen, denn wir erleiden eine spezifische Diskriminierung z. B. durch die Ausgrenzung von Arbeitsgruppen, durch die Minderbewertung unserer intellektuellen Fähigkeiten oder durch die Ausnutzung und Betrachtung als reines Sexualobjekt, wie es auch innerhalb der studentischen Organisationen geschieht. Auch dort gewähren viele Männer Frauen nur einen Aufstieg, weil sie attraktiv sind und versuchen immer wieder, sie sexuell zu mißbrauchen. Wir müssen erst von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen und uns darüber bewußt werden, um dann längerfristig für eine nationale Einheit von Frauen einzutreten. So als kleine Grüppchen wollen wir uns erst in der Uni formieren, bevor wir uns z. B. CONAVIGUA anschließen, die schon eine große, erfahrene und kämpferische Organisation ist.

Danke für das ausführliche Gespräch.


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Die Kommunistische Partei und die verhinderte “bürgerlich-demokratische Phase”

Gretchenfrage?

Die UDN (Nationalistische Demokratische Union) stellte Anfang Februar ihre Spitzenkandidaten für die kommenden Wahlen vor: Humberto Centeno, einer der bekanntesten Gewerkschaftler des Landes und Führungsmitglied im Gewerkschaftsdachverband UNTS ist der Kandidat der UDN für das Bürgemeisteramt von San Salvador. Marco Tulio Lima, ebenfalls Mitglied des UNTS-Vorstandes, strich dagegen heraus, daß die Entscheidung Centenos und anderer UNTS-GewerkschafterInnen rein persönlicher Art sei und nicht der Position der UNTS insgesamt entspräche. Die UNTS, betonte Tulio Lima, unterstütze keine der Parteien, die sich zur Wahl stellen. Ismael Merino von der Bauerngewerkschaft ADC dazu: “Solange wir in einer militarisierten Gesellschaft leben und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, solange können Wahlen das Problem nicht lösen, sondern es nur noch verschärfen”. Selbst das breite, von kirchlicher Seite initiierte “Permanente Komitee für eine Nationale Debatte”, CPDN, gibt dem Verhandlungsprozeß Vorrang vor den Wahlen und plädiert daher für eine Verschiebung des Urnengangs, bis die zentralen Probleme auf dem Verhandlungswege gelöst und ihre Einhaltung von der UNO kontrolliert und bestätigt worden sind.

Differenzierungen in den 70er Jahren

Formal hatte die Kommunistische Partei (KP) den bewaffneten Kampf seit 1932 nie aufgegeben, faktisch konzentrierte sie sich in den 70er Jahren jedoch auf Wahlen. Sie ging dabei (wie andere Kommunistische Parteien des Kontinents) davon aus, daß es zunächst einer “bürgerlich-demokratischen Phase” bedürfe, um die Macht der Oligarchie und des Militärs zu brechen. Man erhoffte sich eine “Machtübernahme”der Industriebourgeoisie, die in eigenem Interesse Reformen gegen die unversöhnliche und reaktionäre Grundbesitzerclique befürworten müsse. Die UDN wurde 1969 gegründet und sollte die ‘Wahlfront” der KP bilden.

Innerhalb der KP gab es zu jener Zeit bereits eine Opposition gegen diese Haltung der Partei. Die These von der Wirksamkeit eines breiten Wahlbündnisses, unterstützt von einer reformwilligen Fraktion des Militärs, wurde von ihr abgelehnt. 1970 tauchte diese Gruppe unter der Führung des legendären Gewerkschaftsführers Cayetano Carpio unter. Sie begann, sich auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten: Die FPL, die Volksbefreiungskräfte, heute eine der fünf Organisationen der FMLN.
Bei den Präsidentschaftswahlen1972 trat die UDN in einem Bündnis mit der seit 1964 existierenden sozialdemokratischen MNR (Nationale Revolutionäre Bewegung) und der PDC (Christdemokratische Partei) an. Das Bündnis nannte sich U.N.O. (!) (Nationale Oppositionsvereinigung) und nominierte José Napoleon Duarte zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Die U.N.O. erhielt trotz erheblicher Behinderungen die Mehrheit der Stimmen, doch die regierende PCN (Partei der Nationalen Versöhnung) sicherte sich das Präsidentenamt durch offenen Wahlbetrug. Ein Putschversuch von reformwilligen Offizieren schlug fehl, und Duarte ging ins Exil nach Venezuela. Trotz des Scheiterns hielten alle Parteien des Bündnisses an der Vorstellung fest, daß der Weg über Wahlen der sicherste und schnellste sei, um zu einem Sieg der reformwilligen Kräfte zu gelangen. Sowohl die verschiedenen Guerilla-Gruppen, die im Laufe der 70er Jahre entstanden, als auch die mit ihnen verbundenen großen Massenorganisationen kritisierten den “rechten Opportunismus” und die “Weinbürgerlichen Illusionen” der KP. Trotz erheblicher Zerstrittenheit dieser Organisationen untereinander, gingen sie davon aus, daß eine “Nationale Bourgeoisie”, die in der Lage wäre, ein nationales Reformprojekt durchzusetzen, nicht existiert. Daraus folgte die Ablehnung der Wahlen und der Strategie der U.N.O.

Wahlbetrug und Terror

Die nächsten Präsidentschaftswahlen fanden 1977 in einer spannungsgeladenen und zugespitzten Situation statt. Die U.N.O. hatte anstelle von Duarte den in Armeekreisen angesehenen pensionierten Offizier Claramount als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Er schien für die reformbereiten Kreise der Oligarchie und des Militärs annehmbarer zu sein. Wiederum brachten die Militärs die Opposition um den Wahlsieg, indem sie schlicht die Wahlurnen verschwinden ließen. Den massiven Protest gegen den Wahlbetrug beantwortete das Regime mit Gewalt. Militär-und Polizeieinheiten schossen gezielt in die Massendemonstrationen. Dabei starben mehrere hundert Menschen. Dies war der Auftakt für eine beispiellose Terrorwelle. Die meisten Funktionäre der U.N.O. gingen ins Exil oder in den Untergrund, wurden verhaftet oder “verschwanden”. Das Wahlbündnis war damit faktisch nicht mehr existent, nur die KP bekräftigte noch im Mai 1979 ihre Unterstützung für die U.N.O. “Der bürgerlichdemokratische Weg zur Lösung der politischen Krise”, so hieß es in der Resolution des 7. Parteikongresses, “muß heute ein untrennbarer Bestandteil wesentlicher sozioökonomischer Reformen sein.” Auf dem gleichen Kongreß wurde allerdings ein folgenlos gebliebener Beschluß von 1977 bekräftigt, nach dem sich die Partei auf den bewaffneten Kampf vorzubereiten hätte.

Der Putsch

Angesichts der steigenden Mobilisierungen der Massenorganisationen und der faktischen Unregierbarkeit des Landes putschte sich eine heterogene Offiziersgruppe am 15.Oktober 1979 an die Macht. In der ersten Regierungsjunta waren drei Zivilisten vertreten, darunter Guillermo Ungo, Vorsitzender der MNR. Alle Parteien des ehemaligen U.N.0.-Bündnisses entsandten Minister in die Regierung. Die revolutionären Massenorganisationen hatten kein Vertrauen in diese Koalition von Offizieren, liberalen Technokraten und reformistischen Politikern; sie verstanden sie als einen Block der Mitte gegen die Linke. Die nächsten Wochen sollten ihnen recht geben. Die Zivilisten in der neuen Regierung konnten nicht verhindern, daß die Gewalt der Militärs gegen die Opposition immer schlimmere Formen annahm. Zunächst rechtfertigten die Zivilisten noch die Massaker, dann aber traten sie Anfang des Jahres1980aus der Regierung aus.

Einigung

Die Kommunistische Partei entschied sich jetzt sehr schnell und rief gemeinsam mit zwei der bestehenden Guerillaorganisationen zur bewaffneten Revolution auf. Im Oktober 1980 vereinigten sich die nunmehr fünf politisch-militärischen Organisationen zur Nationalen Befreiungsbewegung Farabundo Marti, FMLN. Die radikale Linke reagierte damit auf den entfesselten Staatsterror und die Beseitigung jeglichen Spielraums für Reformen.
Die Wahlprozesse der 80er Jahre waren zu sehr vom Bürgerkrieg und Ausnahmezustand geprägt, als daß linke Parteien oder Organisationen in ihnen eine Option für Frieden oder Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hätten entdecken können. Darüber hinaus waren die Wahlen offensichtlich das Produkt der von den USA konzipierten Kriegsführung der niedrigen Intensität, der Aufstandsbekämpfung, die darauf hinauslief, der FMLN auch politisch den Boden zu entziehen.
Die Situation veränderte sich erst wieder im Vorfeld der 89er-Wahlen. Anläßlich dieses Urnengangs gründeten hauptsächlich die Parteien (MPSC Sozialchristliche Volksbewegung, Linke Abspaltung der PDC) und MNR wiederum ein linkes Wahlbündnis, die Convergencia Democrática (CD). Die FMLN rief zum Boykott auf und brachte stattdessen den “Vorschlag zur Umwandlung der Wahlen in einen Beitrag zum Frieden” (dok. in LN 179)ein, in dem sie erstmals die Bedingungen definierte, unter denen sie bereit wäre, sich an Wahlen aktiv zu beteiligen. Es steht außer Frage, daß diese Bedingungen (u.a. Ende der Repression, Einkasernierung der Armee, Wahlrechtsreform) auch am 10. März keineswegs er-füllt sein werden.

Verhandlungen haben Vorrang vor den Wahlen

Auch diese Wahlen werden mit einer demokratischen Willensbildung so wenig zu tun haben wie alle vorangegangenen. Die Frage ist also, welche Ziele auf der einen Seite die Oppositionsparteien mit ihnen verbinden und was die FMLN auf der anderen Seite zu ihrer ambivalenten Haltung bewog. Es kann angenommen werden, daß über diese Frage innerhalb der FMLN lange debattiert wurde. Noch im Oktober 1990 schob Joaquin Villalobos, Chef des Revolutionären Volksheeres (ERP), einer weiteren Organisation innerhalb der FMLN,die Kontinuität dieser Wahlen im Rahmen der Aufstandsbekämpfung gegenüber den möglichen Chancen in den Vordergrund (Vgl. LN 198). Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Kontroverse im wesentlichen beigelegt ist. Klar scheint auch zu sein, daß sich die Kommunistische Partei von den Positionen der 70er Jahre entfernt hat und keinesfalls ein Ausscheren der KP aus der FMLN bevorsteht. Shafick Handal: “Demokratie, die demokratische Revolution, hat für die FMLN -und da gibt es eine unzweideutige Übereinstimmung aller Organisationen -tatsächlich eine strategische Bedeutung, eine Demokratie, die sich aber wesentlich von einer bloßen Wahldemokratie unterscheidet.”
Weder die Oppositionsparteien noch die FMLN selbst erwarten einen Wandel der Kräfteverhältnisse durch die Wahlen selbst. Ein Brechen der Parlamentsmehrheit von ARENA durch die PDC, CD und UDN wird allerdings als Instrument eingeschätzt, um dem stagnierenden Verhandlungsprozeß wieder neue Impulse zu geben. Dies ist auch dringend notwendig, da die USA offenkundig versuchen, die Grundlage des Prozesses
– die Vereinbarungen von Genf und Caracas (Vgl. LN 200) – zu untergraben. Ein Artikel in der New York Times diffamierte am 1. Februar unter Berufung auf Regierungsquellen den UNO-Vermittler Alvaro de Soto, warf ihm Inkompetenz vor, und versuchte so, den Verhandlungsprozeß insgesamt zu diskreditieren. Tatsächlich kann eine parlamentarische Mehrheit der heutigen Opposition in dieser Situation neue Wege gehen, um auch international mit größerem Druck und Legitimation auf reale Verhandlungserfolge zu drängen. Die Tatsache jedoch, daß diese Oppositionsparteien CD, UDN und die PDC sich nicht auf einen gemeinsamen Bürgermeisterkandidaten für San Salvador haben einigen können, verweist auf nicht unerhebliche inhaltliche Differenzen und Profilierungsgelüste. Diese könnten die gemeinsame politische Plattform, von der Shafick Handal spricht, durchaus gefährden (Vgl. Interview). Die PDC scheint zwar die Forderung nach einer Demilitarisierung als Grundlage von Demokratisierungsprozessen übernommen zu haben, doch gibt die Geschichte dieser Partei mannigfaltig Anlaß, ihr mit Mißtrauen zu begegnen.

Der Anschlag auf Diario Latino

In jedem Fall nehmen die Militärs die Entwicklungen der letzten Wochen als elementare Bedrohung wahr. Dies ist augenscheinlich die Ursache für die stark zunehmenden Menschenrechtsverletzungen in dieser Zeit. Die schlimmsten waren bisher die Morde von E1 Zapote, wo 15 Menschen regelrecht hingeschlachtet wurden und der Bombenanschlag auf die einzige noch verbliebene kritische Tageszeitung Diario Latino. In der Nacht zum 9. Februar explodierte in der Zeitung eine Brandbombe, die das dreigeschössigen Gebäude und die zur Herstellung der Zeitung notwendigen Geräte völlig zerstörte. (Wegen der großen Bedeutung dieses Anschlags für die Medienlandschaft E1 Salvadors hat das “Dritte-Welt-Haus” Frankfurt e.V. ein Spendenkonto eingerichtet: Postgiro 19991-604; BLZ 500 100 60; Stichwort: “Diario Latino”). Die Journalisten der selbstverwalteten Zeitung haben bereits angekündigt, daß sie das seit 100 Jahren existierende Blatt weiterführen werden. Daneben gibt es jedoch eine ganze Reihe von Bombenanschlägen gegen die Volksorganisationen und Morde an AktivistInnen der Oppositionsparteien.

Repression und Wahlboykott?

Die Repressionswelle beweist noch einmal den ungebrochenen Willen der Militärs, sich keinen Zipfel ihrer Macht entreißen zu lassen und gleichzeitig die Notwendigkeit, genau dies zu tun. Die Menschenrechtsverletzungen haben ihren Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht. Das Ziel der Hardliner im Militär ist dabei klar auszumachen: Sie wollen die Wahlen, so, wie sie derzeit konzipiert sind, verhindern. Ihre bewährte Methode war in der Vergangenheit, entweder ein Massaker zu veranstalten oder eine bekannte Persönlichkeit der (gemäßigten) Opposition umzubringen. Es mehren sich die Warnungen der Parteien – einschließlich der PDC -, daß ein Rückzug aus den Wahlen durchaus denkbar ist, wenn die Anschläge fortgesetzt werden. “Selbstverständlich”, so Shafick Handal, “würde die FMLN die Oppositionsparteien in einem solchen Fall unterstützen.” Und das auf ihre Weise.


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“Wir werden unseren Namen nicht ändern”

Frage: Die FMLN wird die Wahlen nicht boykottieren. Heißt dies,daß sie die Convergencia aktiv in ihrem Wahlkampf unterstützen wird? Die UDN wird sich ebenfalls an den Wahlen beteiligen. Ist das nicht eine Zersplitterung der Linkskräfte? Warum konzentriert man sich nicht auf ein Bündnis?

Tatsächlich hat sich die FMLN entschieden, die Wahlen nicht einseitig zu boykottieren. Die Teilnahme der UDN ist keine Zersplitterung der Linken in E1 Salvador. Die Oppositionsparteien haben eine einheitliche Plattform vereinbart. Eine Plattform, die eine Demokratisierung auf der Grundlage der Demilitarisierung propagiert, und die im wesentlichen mit den Forderungen der FMLN übereinstimmt. Warum also keine formale Koalition? Nach dem bei uns herrschenden Wahlsystem werden die kleineren Parteien, wenn sie eine Listenverbindung eingehen, benachteiligt. Es gehen in dieser Form bei der Auszählung Parlamentssitze verloren. (Anders sieht es bei den Präsidentschaftswahlen aus.) Es gibt also einen gemeinsamen Block der Opposition, aber keine Einheitsliste.

Diesmal geht es – vielleicht…

Zurück zum Anfang der Frage; warum boykottiert die FMLN die Wahlen nicht, was unterscheidet diese von all den vorangegangenen Wahlen? Nicht etwa, daß diese Wahlen frei und demokratisch seien. In der aktuellen Konjunktur hat sich ein breiter Zusammenschluß oppositioneller Strömungen ergeben. Wie auch immer das Regime sich dazu verhalten wird und ob sich die Oppositionsparteien im letzten Augenblick noch dazu entschließen, sich aus dem Wahlprozeß zurückzuziehen oder nicht, dieses Zusammengehen der Opposition wird die Kräfteverhältnisse in E1 Salvador nachhaltig verändern. Es handelt sich bei der augenblicklichen Konjunktur um eine große politische Schlacht, und die Aufgabe der FMLN ist es natürlich, sie zu fördern, nicht sie zu behindern. Wollte man in dieser Situation fragen, ob diese Wahlen nicht die Gefahr in sich bergen, das Regime zu legitimieren oder ob sie demokratisch sind oder nicht, würde man von der realen und konkreten Konjunktur abstrahieren. Die Antwort müßte zweifelsohne dazu führen, die Wahlen zu boykottieren. Die FMLN wird dies nicht tun, um sich der aktuellen politischen Mobilisierung und dem Zusammenströmen der Kräfte nicht in den Weg zu stellen.
…trotz tiefgreifender Kritik

Gleichzeitig hält die FMLN eine sehr tiefgreifende Kritik an dem herrschenden Wahlsystem und diesen Wahlen aufrecht. Die politische und soziale Opposition verfährt in diesem Punkt genauso. Sie säen keine Illusionen und falsche Hoffnungen, was den Charakter der Wahlen angeht. Gleichzeitig hat die FMLN beschlossen, nicht dazu aufzurufen, die eine oder andere Partei zu wählen. Wenn sich je doch die Parteien entschließen sollten, von einer Wahlteilnahme abzusehen, wird die FMLN diese Entscheidung mittragen. Und so kann es zu einem Boykott kommen, der mehr ist, als ein rein militärischer Boykott. Festzuhalten bleibt, daß wir auf keinen Fall unsere Meinung geändert haben und nun proklamieren, daß die Wahlen der Weg zur Demokratie sei. Es geht vielmehr darum, alle Formen des Kampfes möglichst optimal zu kombinieren, so daß alle je nach ihren Möglichkeiten zu diesem Kampf beitragen können.

Frage: Noch vor kurzem vertrat die UNTS die Meinung, daß sie sich nicht an den Wahlen beteiligen werden. Sie gingen sogar so weit zu sagen, daß wenn sich Linksparteien zur Wahl stellen, wäre dies ein CIA-Projekt. Jetzt sind zwei Führungspersonen der UNTS auf der Kandidatenliste der UDN. Hat es da einen Meinungswechsel gegeben?

Es hat über diese Frage in allen Organisationen – auch der FMLN – Debatten gegeben. Was Du sagst ist richtig, aber diese Phase ist mittlerweile überwunden. Die UNTS unterstützt inzwischen die gemeinsame Vorgehensweise, die ich eben
skizziert habe.

Kommunikationsprobleme

Frage: Es gibt also keine gemeinsame Liste, sondern eine gemeinsame Plattform. Gibt es denn Absprachen über gemeinsame Kandidaturen, damit über die Verteilung der Bürgermeisterämter keine Konkurrenzen auftreten? Konkret: Wieviel Kandidaten gibt es für das Bürgermeisteramt von San Salvador?

Was konkret den Kandidaten für das Bürgermeisteramt von San Salvador angeht, gab es bis zum letzten Augenblick gewaltige Anstrengungen, einen Einheitskandidaten der Opposition aufzustellen, weil hier eine sehr wichtige Auseinandersetzung mit ARENA stattfinden wird. Als dann eine Regelung gefunden wurde, war die gesetzlich festgelegte Frist bereits verstrichen.

Frage: Was heißt das nun? Gibt es jetzt vier Kandidaten?

Einschließlich des ARENA-Kandidaten werden es vier sein.

Frage: Wenn beim wichtigsten Kandidaten die Convergencia und die UDN
zwei verschiedene Personen gegeneinander aufstellen, kann es sich doch nicht um ein gemeinsames Vorgehen handeln, sondern offensichtlich um zwei getrennte Wege. Das hört sich doch verrückt an?

Klar, das wäre logisch und wünschenswert, aber die Sache ist nun einmal so, wie
ich sie geschildert habe. Eine Übereinkunft ist in dieser Frage nicht zustandegekommen. Es hat tatsächlich große Anstrengungen gegeben. Die PDC ist vorgeprescht mit einer Kandidatur und erhob so ihren Anspruch. Man hatte sich kurz vorher schon fast auf die der PDC nahestehende Amanda Viliatoro geeinigt, aber die PDC machte da nicht mit und stellte Frau Azcúnaga auf. Dann gab es den Versuch, wenigstens einen Kandidaten für UDN und Convergencia zu nominieren, aber das hat dann auch nicht geklappt. So sieht es aus. In anderen Orten ist es jedoch gelungen, einheitliche Kandidaten der Opposition aufzustellen.

Frage: Ist die Teilnahme der Opposition an den Wahlen dahingehend zu interpretieren, daß sie nun in Zukunft mehr auf den zivilen Weg setzt, als auf den militärischen? Es gibt da das Beispiel Kolumbien.

Keine Änderung der Strategie

Für die FMLN kann ich versichern, daß wir nicht vorhaben, unsere politische Strategie zu verändern. Was das kolumbianische Beispiel angeht, so wird die Demobilisierung zweier Guerillaorganisationen gerne als Ergebnis der internationalen Ereignisse interpretiert. Das sehen wir nicht so. Sie hat viel früher eingesetzt, als die Veränderungen in Osteuropa und haben damit zu tun, daß es diesen Organisationen in ihrem jahrelangen Kampf nicht gelungen ist, sich in der Bevölkerung hinreichend zu verankern und von daher seit einiger Zeit angefangen haben, nach anderen Strategien Ausschau zu halten. Richtig ist sicherlich, daß die Ereignisse im Osteuropa die Erosionsprozesse beschleunigt haben. Eine ähnliche Situation liegt bei der FMLN nicht vor.

Frage: Wird es für die in den von der FMLN kontrollierten Zonen lebenden
Menschen möglich sein, zur Wahl zu gehen?

Wir haben dazu folgende Position: Es wird keine Wahlen in den Konfliktzonen geben. Aber wir werden nichts unternehmen, um die Menschen daran zu hin- dem, in den jeweiligen Provinzhauptstädten zu wählen. Die Wahlen finden im offenen Krieg statt, und damit sind sie immer auch in einer militärischen Logik und als militärischer Vorgang zu sehen. Wir können nicht erlauben, daß es militärische Operationen in den von uns kontrollierten Zonen stattfinden. All dies natürlich nur unter der Voraussetzung, daß die Parteien bis zum Schluß dabei bleiben, an den Wahlen teilnehmen zu wollen.

Frage: Gibt es in der KP unterschiedliche Einschätzungen zur Sowjetunion?

Eigenen Kopf benutzen!

Innerhalb der PCS gibt es keine großen Meinungsverschiedenheiten über die Entwicklung der SU und der jüngeren Entwicklung. Wir sind uns einig darüber, daß es im Grunde nie um ein sozialistisches Modell ging. [..I. Worüber es eine große Debatte in unserer Partei gibt, ist die Frage nach der Erneuerung des sozialistischen Denkens. Wir müssen in dieser Frage unseren eigenen Kopf benutzen und aufhören, uns Modelle aus anderen Teilen der Welt überzustülpen. Wir nehmen aktiv teil an der Diskussion der gesamten lateinamerikanischen Linken. Im letzten Jahr gab es ein sehr wichtiges Treffen linker Organisationen und Parteien – nicht nur von kommunistischen Parteien – in Sao Paulo; im Mai dieses Jahres wird ein weiteres in Mexiko stattfinden.
Wir salvadorianischen Kommunisten sind der Auffassung, daß es jetzt nicht darum gehen kann, eine neue Art der Kommunistischen Internationale in Lateinamerika aufleben zu lassen. Wir sind für einen breiteren Ansatz, für einen .Austausch der verschiedenen linken – auch nicht-kommunistischen Kräfte. Die Übernahme des sozialistischen Modells aus der Sowjetunion hat eine Art kirchliches Sektierertum hervorgerufen, mit dem wir in El Salvador schon in den 70er Jahren gebrochen haben. Unseren Namen werden wir jedoch nicht ändern.

Frage: Offensichtlich werden die Perspektiven des Sozialismus in E1 Salvador mit unterschiedlichen Stoßrichtungen, einschließlich sozialdemokratischer Orientierung diskutiert. Kannst Du näher erläutern, welche Positionen in der FMLN und in der KP besprochen werden?

Demokratische Revolution und Sozialismus

Wir sagen, daß wir uns in der Etappe der demokratischen Revolution befinden, wobei wir darauf beharren, daß die demokratische Revolution eine Etappe auf dem langen Weg zum Sozialismus ist.’ Wir verzichten nicht auf das sozialistische Projekt. Wir gehen davon aus, daß für Lateinamerika und für die gesamte sogenannte Dritte Welt keine Alternativen innerhalb des kapitalistischen Systems zur Verfügung stehen. Im allgemeinen werden in der lateinamerikanischen Linken die Entwicklung in Osteuropa nicht als Triumph des Kapitalismus verstanden, sondern in erster Linie als Niederlage des Sozialismus, genauer gesagt als Niederlage einer bestimmten Interpretation des Sozialismus. Das ganze Elend, das wir in Lateinamerika täglich erleben, hat untrennbar etwas mit der kapitalistischen Ordnung zu tun. Wir halten die Vorstellung, nach der es möglich sei, unsere Form von Kapitalismus in eine andere umzuwandeln, eine Form, wie sie beispielsweise in Westeuropa existiert, für außerordentlich naiv. Es hat in diese Richtung in der Vergangenheit viele Anstrengungen gegeben, die alle gescheitert sind. Es gibt für uns keine Möglichkeit, die Dritte Welt zu verlassen und Teil der ersten Welt zu werden. Es handelt sich dabei nicht um Entwicklungsstufen, die nacheinander zu durchlaufen sind. Es ist unmöglich, daß dieser abhängige Kapitalismus aufhört, als solcher zu existieren. Er funktioniert nur im Rahmen des weltweiten kapitalistischen Systems. Die logische Schlußfolgerung daraus ist, daß eine Entwicklungsperspektive für unsere Länder nur durch einen Bruch mit dem kapitalistischen System von Zentrum und abhängiger Peripherie denkbar ist. Unsere Meinung nach ist dies keine ideologische Frage, sondern eine praktische. Wir müssen freilich einräumen, daß die Realisierung eines neuen Modells, das weder kapitalistisch noch staatssozialistisch ist, zur Zeit nicht auf der Tagesordnung steht.

Frage: Welche Vorstellungen gibt es bei der FMLN bezüglich einer neuen Wirtschaftsordnung in El Salvador?

Gemischte Wirtschaft muß erkämpft werden

Wir haben natürlich keine fertigen Rezepte, keine bis ins Detail ausgearbeitete Pläne. Dennoch gibt es einige Elemente einer neuen Ordnung. Nach unseren Vorstellungen ist die Pluralität verschiedener Formen des Eigentums an Produktionsmitteln ein Bestandteil der demokratischen Revolution. Eine derartige gemischte Wirtschaft setzt allerdings tiefgreifende Eingriffe in der Eigentumsfrage voraus. An erster Stelle ist hier die Agrarreform zu nennen.
Ein weiteres Element ist die Suche nach alternativen Formen der Integration in den von den kapitalistischen Zentren beherrschten Weltmarkt, die Suche nach Spielräumen oder Marktlücken. Weiterhin müssen die Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern Lateinamerikas ausgebaut werden, Stichwort Süd-Süd-Kooperation. Eine Abkopplung vom Weltmarkt wird es nicht geben. Das bedeutete Autarkie. Nein, das ist unmöglich. Die Frage ist, wie wir uns in den Weltmarkt integrieren. Die Antwort auf diese Frage ist außerordentlich schwierig, und zur Zeit weiß wohl kaum jemand, wie dies genau zu bewerkstelligen ist.
Das Wirtschaftsmodell muß die Entwicklung der Produktivkräfte, eine Modernisierung der Technologie, sicherstellen. Natürlich müssen wir bei diesen Überlegungen von der aktuellen Realität ausgehen, und zwar so, daß wir die produktiven Fähigkeiten des ganzen Volkes zugunsten einer tatsächlichen Entwicklung kombinieren. Oder wie es die Chinesen zu Beginn ihrer Revolution ausdrückten; Der Gang mit einem traditionellen und einem modernen Bein.
Demokratische Partizipation gegen die Armut

Wir sind davon überzeugt, daß der Schlüssel für eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung darin liegen muß, die Partizipation der Massen in einem höchst- möglichen Maße zu garantieren. Um diese Partizipation zu erreichen, muß die Revolution ein Interesse an den Alltagsproblemen zeigen und ihre Fähigkeit beweisen, die Menschen in diesen Problembereichen zu organisieren. Ich beziehe mich dabei auf die brennenden Probleme des Massenelends, also die Mangelernährung, mangelnde Gesundheitsversorgung, Ausbildung und Wohnungen. Der einzige Weg, diese Probleme zu lösen ist die Beteiligung aller. Es handelt sich dabei um ein Modell des Übergangs hin zu einer Produktionsweise und einer Gesellschaft, die den Bedürfnissen der Menschen gerechter wird als die derzeitige.

Frage: Es ging vorhin um die Etappe der demokratischen Revolution. Ist das das strategische Konzept oder ein Übergangsmodell?

In dieser Konzeption hat die Demokratisierung tatsächlich ein strategisches Gewicht. Es handelt sich aber nicht um die Fortsetzung des bürgerlichen Wahldemokratie und der Gewährung bestimmter Freiheiten. Es geht um eine in jeder Hinsicht basisnahen Demokratie. Die Demokratisierung, die demokratische Revolution, ist nicht nur für die aktuelle Phase eine strategische Kategorie, sondern auch für alle zukünftigen Phasen, in denen die Massen, das Volk, zu bestimmen haben werden. Das scheint uns der richtige Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft.


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Eskalation der Armut – Versagen der Politik

Die Entwicklung der 80er Jahre

Die Ausschreibung freier Wahlen war sicherlich auch ein Erfolg der immer stärker werdenden Volksbewegung, die 1977 in einem erfolgreichen Generalstreik vorläufig kulminierte. Doch selbst die Solidaritätsbewegung war sich bewußt, daß das Militär auch deshalb auf die Macht verzichtet hatte, weil es keine politischen Konzepte zur Sanierung der “ruinierten” Wirtschaft besaß. Im demokratischen Spektrum boten sich drei Grundströmungen an, die allerdings stark zersplittert waren: eine aus einer Vielzahl von Parteien bestehende Linke (später IU), eine mit großer Vorsicht als sozialdemokratisch zu bezeichnende Mitte (Apra), und eine populistische, neoliberale Rechte (AP und PPC). Alle drei Gruppierungen waren in der Wählergunst etwa gleich stark. Zur allgemeinen Überraschung gewann die Präsidentschaftswahl von 1980 der 12 Jahre vorher in einem unblutigen Putsch aus dem Regierungspalast gejagte Belaúnde Terry von Acción Popular (AP).
Belaúnde Terry tat nicht viel anderes als sein diktatorischer Vorgänger, nähmlich die rigurosen Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF anzuwenden. Durch die Streichung von Subventionen und die schrittweise Anhebung der Preise für zentrale Güter (z.B. Benzin) auf Weltmarktniveau sollte die Wirtschaft konkurrenzfähig werden. Eine Reduzierung der Inlandsnachfrage war gewünschter Bestandteil des Modells, wobei die Rezession die Inflation bremsen sollte. Belaúnde erreichte weder die Umstrukturierung der Wirtschaft noch eine Eindämmung der Inflation, die vielmehr von rund 30% Ende der 70er Jahre auf 100% im Jahr 1985 geklettert war. Das einzige, was er erreichte, war eine tiefgreifende Rezession mit gleichzeitiger Umverteilung der ohnehin verminderten Einkommen von unten nach oben. Bis 1985 wurde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung auf den Stand von 1969, dem ersten Jahr der peruanischen Revolution, gesenkt.
Bei diesen verheerenden Resultaten einer weltmarktorientierten Politik war es kein Wunder, daß bei den Präsidentschaftwahlen von 1985 die AP in der Versenkung verschwand. Die APRA unter Alan García konnte die Massen hinter sich bringen mit ihrem Programm zur Erhöhung der Inlandsnachfrage und Beschäftigung bei gleichzeitiger Reduzierung der Schuldendienstleistungen. Die Vereinigte Linke (IU) wurde zweitstärkste politische Kraft.
Die Regierung Belaúndes hatte das Land derartig ruiniert, daß der Journalist Victor Hurtado den Satz prägte, daß jede folgende Regierung zwangsläufig besser sein wird. Er täuschte sich. Nach zwei Jahren staatlich stimulierten Wirtschaftswachstum zeichneten sich der schleichende Bankrott des Staates und der beschleunigte Verfall der Wirtschaft ab.
Daß es nicht übertrieben ist, inzwischen vom völligen Zusammenbruch von Staat und Wirtschaft zu sprechen, mögen folgende Daten belegen: 1988 und 1989 sank das BIP pro Kopf um jeweils rund 12% und liegt nun bei dem Stand von 1961, allerdings bei wesentlich ungleicherer Verteilung der Einkommen. Die Hyperrezession war verbunden mit einer Hyperinflation von rund 3.000 %, 1990 gar von 10.000 %. Die Staatsreserven waren vollständig aufgebraucht und die Steuereinnahmen lagen nur noch bei 4% des BIP (USA und BRD rund 25%). 40% der Landstraßen sind nicht mehr befahrbar und weitere 30% sind in sehr schlechtem Zustand. Das Elektrizitätssystem wird nicht nur durch die beständigen Angriffe von Sendero Luminoso, sondern auch durch die staatliche Politik selbst beschädigt. Die Investitionen sanken von 2% des BIP 1985 auf 0,6%, und die staatlichen Strombetriebe haben einen Verlust von 600 Mio. US$ eingefahren. Die Agrarbank, die trotz Hyperinflation zinslose Kredite gegeben hat, ist ruiniert und inzwischen liquidiert. Die Ausgaben für Gesundheit sanken von 6% des Staatshaushalts auf 3,5%. Dies sind nur einige Beispiele, die sich endlos fortsetzen ließen.

Szenarium der Armut

Einer der wichtigsten Indikatoren für eine Veränderung der Situation der Armen ist die Entwicklung des Mindestlohns. Dieser, der schon 1980 nur ein Überleben in gewöhnlicher Armut erlaubte, sank bis 1989 auf nur noch 23,2% des Wertes von 1980 (vgl. Graphik). Wer nun glaubt, daß viele Beschäftigte zwei oder drei Mindestlöhne verdienen, irrt leider. Das Gegenteil ist der Fall: 33,5% Erwerbsbevölkerung Limas erhalten nur ein Drittel des offiziellen Mindestlohnes!
Laut Angaben der UNICEF leben heute 60% der Bevölkerung in kritischer Armut mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen pro Person von 15,5 US$. Im ländlichen Raum sinkt dieser Wert noch auf 12,3 US$, und 83% der Landbevölkerung sind extrem arm.
Eine Vorstellung von der extrem ungleichen Verteilung der Einkommen, und somit auch des inzwischen auf den Wert von 1961 gesunkenen BIP, mögen folgende Zahlen verdeutlichen: Die 10% reichsten Haushalte konzentrieren 37,3% der nationalen Einkommen auf sich, während die 10% Ärmsten nur über 0,45% der Einkommen verfügen, und die reichsten 2% verdienen das 24-fache von den zwei Drittel Armen. Für die Kinder stellt sich diese Situation noch schlimmer dar: 89% der Kinder unter fünf Jahren leben in Armut (Caretas 1140).

Ein Beispiel der Überlebenswirtschaft: städtische Schweinezüchter

Der größte Teil der Armen sucht sein Überleben durch sogenannte informelle Wirtschaftsformen zu sichern. Es handelt sich meist um Kleinbetriebe, die zum Teil auch mit Lohnarbeitern wirtschaften. Die Arbeitsverhältnisse sind “ungeschützt”, es bestehen keine schriftlichen Arbeitsverträge, es werden keine Sozialabgaben bezahlt und es gibt keine gesetzlichen Sicherheiten. Der neue Staatspräsident Fujimori sieht in ihnen eine aufkommende Schicht von Kleinunternehmern.
Wie prekär das informelle Wirtschaften ist, zeigt sich an einer Gruppe dieser Kleinunternehmer, städtischen Schweinezüchtern des Großraums von Lima. Am Strand Oquendo in Callao, vor den Mauern der chemischen Fabrik El Pacífico, halten 80 “Kleinbetriebe” ingesamt 4.000 Schweine. Sie kaufen illegal den Abfall der “städtischen” Müllabfuhr aus den Vierteln der Wohlhabenden. Jede Fuhre wird zunächst nach wiederverwertbarem Material durchsucht. Metall, Plastik, Textilien, Glassplitter und Altpapier werden aussortiert und an ebenfalls informelle Kleinhändler verkauft. Anschließend werden die Schweine in der Müllhalde “geweidet”.
Die gesundheitlichen Gefahren dieser Art von “Überlebenswirtschaft im Abfall” sind natürlich sehr groß. Auch die Kinder “spielen” im Müll und freuen sich gelegentlich über einen Bonbon, den sie finden. Die Leute sind sich der Gefahren zumindest ansatzweise bewußt. Sie versuchen ständig, die Kinder vom Müll fernzuhalten. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Situation ist auch die Sterblichkeitsrate unter den Schweinen sehr hoch. Die “SchweinezüchterInnen” impfen deshalb nach Angaben der Zeitung „El Peruano“ diejenigen Schweine gegen Cholera, die das Überlebenskapital darstellen, gegen Cholera.
Schon vor Ausbruch der Cholera-Epidemie versuchte die Regierung, diese Abfallwirtschaft zu unterbinden. Sie drohte den Leuten mit Vertreibung und stellte die Lieferung von Abfall unter Strafe. Das einzige Resultat ist eine Verschlechterung der ohnehin prekären Situation der “Schweinezüchter”, weil seitdem nur noch wenige LKWs als “Blokadebrecher” in das Elendviertel kommen.
Daß die Leute sich gegen ein Verbot ihrer Abfallwirtschaft wehren, liegt nicht nur an ihrer verzweifelten ökonomischen Situation. Eine viel größere gesundheitliche Gefahr birgt für sie die chemische Fabrik, vor deren Mauern sie leben. Hochgiftige Abwässer laufen unmittelbar an ihrer Siedlung ungeklärt vorbei ins Meer, und die Bewohner sind ständig auf der Hut, Tiere und Kinder von den tödlichen Abwässern fernzuhalten. Außerdem läßt die Fabrik immer wieder Chlorgas in die Luft ab. Das Gas kriecht dann am Boden durch die Siedlung zum Meer. Um sich vor diesem Giftgas zu schützen, haben die Leute ein Haus aus Zement gebaut – alle anderen Häuser sind aus Abfallstoffen – und dieses hermetisch abgedichtet. Läßt die Fabrik Gas ab, so stürzen alle in diesen “Bunker”. Wenige Tage bevor die regierungsamtliche Zeitung EL Peruano die zitierte Reportage erstellte, schaffte es ein alter Mann nicht mehr rechtzeitig und starb auf halber Strecke (EP 2-12-90).
Dieses sicherlich extreme, aber durchaus glaubwürdige Beispiel der Überlebenswirtschaft der Armen verdeutlicht hoffentlich, was es heißt, wenn innerhalb nur eines Jahrzehnts das ohnehin niedrige Bruttosozialprodukt per capita um 25% und der Mindestlohn gar um 77% gefallen sind. Vor diesem Hintergrund scheint es nur verwunderlich, daß die Cholera-Epidemie nicht schon früher ausgebrochen ist.

Die gegenwärtige Krise ist offenbar nicht konjunturell, sondern Resultat einer 15-jährigen kontinuierlichen Abwärtsentwicklung, von ein- bis zweijährigen Boomphasen abgesehen. Fujimori war angetreten, mit der Politik seiner Vorgänger zu brechen, auf die Wirtschaftskraft der Informellen zu vertrauen und die staatlichen Funktionen wiederherzustellen. Weil er jedoch Peru in das internationale Finanzsystem zurückführen will – dies ist sein wichtigstes politisches Ziel für 1991, so Fujimori in einer programmatischen Rede zum Jahreswechsel -, ist er gezwungen, die Politik des IWF zu übernehmen. Zwar sind einzelne Silberstreifen am Horizont zu erkennen, wenn man sich jedoch vor Augen hält, daß die bislang noch nicht erfolgreich abgeschlossenen Bemühungen um einen 800 Mio. US$ Überbrückungskredit vornehmlich dazu dienen, die seit letztem Jahr überfälligen Zinsen an internationale Finanzorganisationen zu zahlen, so scheint die massive Verelendung ungebrochen weiterzugehen.


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Anti-Imperialismus und Diplomatie

So richtig verstanden hatte es wohl niemand, als in der gespannten Zeit der rechtsextremen Offensive im Oktober/November vergangenen Jahres ausgerechnet der wichtigste Repräsentant der FSLN, der Ex-Präsident Daniel Ortega nicht im Lande war. Doch Ortega reiste in Friedensmission durch die Golfregion, während in Nicaragua ein Bürgerkrieg auszubrechen drohte. Angesichts der internen Probleme Nicaraguas wurde die Krise in der Golfregion erst relativ spät zum Hauptthema der Berichterstattung der nicaraguanischen Medien. Nur in “UNIVISION, einer in den USA produzierten spanischsprachigen Nachrichtensendung, die über den mittlerweile reprivatisierten Kanal 2 des nicaraguanischen Fernsehens allabendlich ausgestrahlt wird, erschienen schon seit Beginn der US-Truppenstationierung in Saudi-Arabien Bilder von Latino-US-Soldaten in der Wüste, die in die Kamera ihre Familie grüßten.
Doch zur echten, auch innenpolitischen Auseinandersetzung über den Golf-Konflikt kam es auch in Nicaragua erst, als der Ablauf des UN-Ultimatums kurz bevor stand. Während die Regierung Vorbereitungen traf, um möglichst schnell die nicaraguanischen Erdölreserven aufzustocken, reiste Daniel Ortega am 8.Januar erneut nach Jordanien und Bagdad, um wie andere internationale Politiker einen letzten Versuch zu einer Friedensinitiative zu starten. Landesinterne Begründung für die intensive Reisetätigkeit des Ex-Präsidenten war der Versuch, das im Esquipulas-Friedensprozeß und im Prozeß der Regierungsübergabe nach den nicaraguanischen Wahlen im Februar 1990 gewonnene internationale Prestige für den Frieden in die Waagschale zu werfen. “Auf den Spuren Carlos Andres Peres’,” so ein anderer Kommentar, sei Ortega unterwegs, um über diplomatische Aktivitäten die Aufnahme der FSLN in die Sozialistische Internationale vorzubereiten. Dafür sprechen die häufigen Treffen Ortegas mit Bonner SPD-Politikern wie Wischnewski und Brandt während seiner Reise.
Anders lesen sich hingegen die nach Kriegsbeginn veröffentlichten Stellungnahmen sowohl der FSLN als auch ihrer Parteizeitung, der Bamcada. In der Zeitung hieß es in einem Leitartikel: “Es ist ein verfluchter Krieg, weil er beschämend und ungerecht ist, sogar skandalös wegen der wirtschaftlichen, zahlenmäßigen und zerstörerischen Überlegenheit der Angreifer; weil er unmoralisch und zynisch ist, denn die niederträchtigsten wirtschaftlichen und politischen Interessen werden als das gemeinsame Wohl der ganzen Menschheit ausgegeben. Durch nichts ist der unbarmherzige Charakter und die doppelte Moral dieses Krieges so deutlich zum Ausdruck gekommen wie durch die Erlaubnis des Sicherheitsrates der UNO für die Aggression gegen Irak, weil er Kuwait besetzte, ein Land, das eine Erfindung der Ölgesellschaften auf irakischem Territorium ist.” (zit. nach ANN, 23.1.91)So versucht dieser Artikel, durch die Übernahme der irakischen Version von der historischen Zugehörigkeit Kuwaits zum Irak den offensichtlichen Konflikt zwischen zwei Grundprinzipien der sandinistischen Revolution zu umgehen: nationale Souveränität und Anti-Imperialismus. Beide Prinzipien haben in Zentralamerika einen natürlichen Feind, die USA. So ist die Tatsache, daß es diesmal die Führung des von Daniel Ortega zum “Brudervolk” erklärten Irak war, die mit der Besetzung Kuwaits ganz offensichtlich die nationale Souveränität eines Nachbarlandes verletzte, im politischen Diskurs einer zentralamerikanischen Befreiungsbewegung zumindest schwer unterzubringen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund?
Die Nationalleitung der FSLN gibt in ihrer ersten offiziellen Stellungnahme vom
18. Januar wesentlich differenziertere und moderatere Töne von sich. Es wird betont, daß dieser Krieg ums Öl besonders die Länder der “Dritten Welt” trifft, die weitere Steigerungen des Ölpreises nicht verkraften können. Das Volk Nicaraguas sei wie alle anderen Völker der Welt zur Geisel dieses Krieges geworden.
Die FSLN verurteile die Invasion des Irak in Kuwait genauso wie die US-Invasionen in Panama, Grenada und Nicaragua selbst. Es seien nicht alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden, daher müsse sofort ein Waffenstillstand geschlossen werden, um die Suche nach einer politischen Lösung doch noch einmal zu ermöglichen.
Doch wer das Wechselspiel zwischen Barricada-Kommentaren und Nationalleitungserklärungen in Nicaragua über längere Zeit verfolgt hat, wird einschätzen können, daß die Solidarisierung mit dem Irak dem politischen Gefühlsleben der antiimperialistisch-radikalen FSLN-Basis weit mehr entspricht als die diplomatischen Formulierungen der Nationalleitung.
Anders die konservative und regierungsnahe PRENSA, die voll auf US-Kurs steht und Hussein als ein von seinen Eltern verlassenes Kind charakterisierte, daß in jedem Lebensalter Beweise für seine Grausamkeit erbracht habe. Stolz werden in den USA lebende NicaraguanerInnen gezeigt, die als Soldaten der US Armee im Golf eingesetzt sind.
Bereits während der zweiten Jahreshälfte1990 waren die Benzinpreise in Nicaragua auf den vorher unerreichten Stand von 2´5US$ gestiegen. Der Verbrauch ging um 20% zurück und die Inflation kletterte weiter -der Benzinpreis hat eine Leitwirkung für die anderen Preise.


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Ein Jahr Demokratie – geht es uns jetzt besser?

Im ersten Jahr nach den ersten demokratischen Wahlen seit 20 Jahren war es unsere Hauptaufgabe, den Demokratisierungsprozess in das alltägliche Leben der Menschen einzubringen.Stadtverwaltungen und Nachbarschaftsorgansiatioen waren noch von der Diktatur eingesetzt und zum Teil wurden auch Räumlichkeiten und Geldmittel nur für die Anhänger Pinochets zur Verfügung gestellt. Aber, um ehrlich zu sein, die Erfahrung von 17 Jahren autoritärem Regime hat auch in vielen Organisationen sehr undemokratische Strukturen hervorgebracht, Vorsitzende, die sich als Alleinherrscher gebärden, Vetternwirtschaft und gönnerhafte Manieren – und viel autoritäres Gehabe.
Das heißt, wir müssen noch vieles verändern und wir müssen lernen, uns und unser Handeln kritisch zu betrachten und in Frage stellen zu lassen. Und wir müssen die Volksorganisationen entmystifizieren, mit denen wir zusammenarbeiten.
Noch viel schwieriger ist die wirtschaftliche Lage: der Verarmungsprozess der untersten Klassen hat sich 1990 nicht verlangsamt, das Jahr endete mit der hohen Inflationsrate von über 30% (“Inflationsrate der Armen” auf der Basis der 64 wichtigsten Konsumgüter, die die Ärmsten benötigen). Die Arbeitslosenrate sank keineswegs, doch die Löhne sind real niedriger als im Vorjahr.
Bei unserer täglichen Arbeit mit den pobladores in Santiago stellen wir fest, daß es den Leuten schlechter geht als vor einem Jahr: Ende November führten wir eine kleine Umfrage durch bei den Frauen der Volksküchen von Renca/Hirmas. Sie und ihre Familien haben – wenn sie alle Einkünfte aus allen unterschiedlichen Tätigkeiten aller Familienmitglieder, der Erwachsenen, Jugendlichen und Kinder, zusammenzählen und die kleine Unterstützung durch die Stadtverwaltung dazuzählen – ein monatliches Einkommen von $ 19 000 (=ca 100 DM). Der staatlich festgelegte Mindestlohn liegt derzeit bei $ 26 7oo.
Vor einem Jahr, ebenfalls Ende November, machten wir die gleiche Umfrage bei fast den gleichen Leuten. Damals war das Ergebnis, daß sie pro Familie monatlich über ca. $ 16 300 verfügten. Wenn wir die Preissteigerungen für die Hauptnahrungsmittel der Armen und ihre sonstigen wichtigsten Ausgaben (Busfahrten, Schulkosten, Elekrizität, Wasser, Gas) mit nur 35% ansetzen – in Wirklichkeit ist die Verteuerung für die meisten noch höher -, können wir sagen, daß die Familien in Renca monatlich $ 22 005 bräuchten, um unter den gleichen armseligen Bedingungen wie in den letzten Monaten der Diktatur weiterleben zu können – aber sie verfügen nur über durchschnittlich $ 19 000 monatlich.
Die Gruppe Gesundheitserziehung von KAIROS, die die Kinder des Kindergartens in San Luis betreut, alarmierte uns mit der Information, daß fast 80 % der untersuchten Kinder Symptome der Unterernährung, Untergewicht und Entwicklungsstörungen aufweisen. In anderen Worten: Sie bezahlen den Preis für den Hunger, den sie in den ersten Lebensjahren erleiden.
Die schreckliche soziale Schuld bedeutet, daß es 5,5 Millionen (5 500 000) “Arme” in Chile gibt, 44,4 % der Gesamtbevölkerung (1970 betrug der Prozentsatz der “Armen” im Land rund 20 %). Die Forscher von CEPAL, die diese Zahlen vorgelegt haben, nennen als schlimmstes Resultat dieser Verarmung des chilensichen Volkes die Zahl von 16,8 % der Bevölkerung, die in “extremer Armut” leben – d.h., diese Menschen können nicht einmal die Grundernährung von 2 187 Kalorien pro Tag sichern.
Es wäre ungerecht, der “Regierung des Übergangs” von Patricio Aylwin die Schuld an dieser dramatischen Entwicklung zu geben – sie ist ein Erbe der “goldenen Jahre” des ökonomischen Modells der Diktatur, das Erbe einer neoliberalen Politik – und man kann manchmal die Klage hören, daß das alte Regime der neuen Regierung noch nicht mal die schwarze Kasse für die Briefmarken überlassen hat.
Aber es ist uns wichtig, festzustellen, daß neben dem begrenzten politischen Wandel, der in Chile stattfand, das hoch gelobte “Entwicklungsmodell” der neuen Regierung im Makrobereich “Fortschritte” erzielt, Rekordzahlen bei der Ausfuhr von Rohstoffen, Obst, ganzen Wäldern und den letzten Meeresfrüchten und Fischen. Heute können wir stolz sein, außerordentliche Gewinnspannen zu haben in einem Land, in dem es pro Kopf die gleiche Anzahl Farbfernseher gibt wie in den USA und eine beeindruckende Anzahl von Autos und Videogeräten. Wir können stolz sein, daß jeder mittlere Angestellte einer Bank oder eines Betriebes, der sich für wichtig hält, und sogar Kollegen von Hilfsorganisationen, mit drahtlosen Telefonen herumlaufen … aber gleichzeitig ist die Verarmung ebenso beeindruckend wie die “Entwicklung”, das neue Elend ist die arme Schwester des strahlenden Zwillings.
Und bis jetzt sehen wir weit und breit keine Vorschläge oder auch nur den Willen der Verantwortlichen in der Regierung, – und natürlich erst recht nicht bei den Protagonisten des derzeitigen ökonomischen Modells-, ein alternatives Entwicklungsmodell zu fordern und zu fördern – ein Modell, das es wirklich ermöglichen würde, die Armut zu überwinden.


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Wechselnde Konjunkturen im “Vormärz”

Erst Reformen – dann Waffenstillstand

Zur Erinnerung: Im April 1990 vereinbarten die beiden Konfliktparteien in Genf, politische Reformen in den Bereichen Armee, Menschenrechte, Verfassungs-, Justiz- und Wahlsystem sowie Veränderungen der sozialen und ökonomischen Lage zu beschließen. Dabei sollte der UNO-Generalsekretär bzw. sein Vertrauter Alvaro de Soto eine “sehr aktive Rolle” spielen. Neu in der Kette der erfolglosen Verhandlungsrunden seit 1984 war auch die Übereinkunft, daß die oppositio­nellen Parteien und Organisationen sich an dem Verhandlungsprozeß beteiligen sollten. Erst nach diesen Übereinkünften – so die Vereinbarung von Genf – könne es zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand und die Integration der FMLN in das legale politische Leben des Landes kommen. Diese Reihenfolge wird von de Soto in einem Beitrag für die Wall Street Journal vom 11. Januar besonders unterstrichen: “Selbstverständlich ist ein Waffenstillstand vor der Verabschie­dung tiefgreifender Veränderungen wenig wahrscheinlich.”
Schon nach den ersten Zusammenkünften wurde deutlich, daß die Militärs und die Regierung nicht die geringste Bereitschaft zeigten, in dem zentralen Punkt der Säuberung der Armee einzulenken. Im Oktober, als nicht mehr zu verheimli­chen war, daß die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen und Hintermänner des Mordes an den Jesuiten im Sande verlaufen würden, verkündete die US-Regierung die Kürzung der Militärhilfe um 50% auf 42,5 Mio US-$. Einen Monat später lancierte die FMLN eine begrenzte militärische Offensive, in der sie sich auf militärische Ziele in wenig besiedelten Regionen konzentrierte um zu ver­hindern, daß die Armee die Zivilbevölkerung als Faustpfand benutzt, wie sie es mit den Bombardierungen von San Salvador im November 1989 getan hatte. Dabei setzte die FMLN erstmals Boden-Luft-Raketen ein, die die absolute Luft­hoheit der Armee empfindlich einschränkten. Ziel der FMLN-Aktivitäten ein Jahr nach den Jesuitenmorden war die Bestrafung der Militärs und ein verstärkter Druck zugunsten eines Verhandlungsfortschrittes noch vor den Wahlen. Das dahinter stehende Kalkül war durchaus plausibel: Immerhin hatte die 1989er Offensive den Weg für die Verhandlungen unter UNO-Aufsicht geebnet.

Teilnehmen oder nicht?

Die Verknüpfung der Verhandlungen mit den Märzwahlen tritt seit Monaten immer stärker in den Vordergrund. In der Frage Teilnahme der Opposition oder nicht scheiden sich jedoch die Geister (Vgl. LN 198). Die KP-nahe Oppositions­partei UDN kündigte bereits ihre Wahlteilnahme an, während verschiedene Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände betonen, daß die Wahlen in der aktuellen Situation keinerlei friedensstiftende Funktion haben könnten. Auf der anderen Seite geben einzelne Funktionäre des von den Christdemokraten (PDC) gegründeten Gewerkschaftsverbandes UNOC und einer weiteren ArbeiterInnen­vertretung (CTS) bekannt, daß sie auf der Liste der PDC kandidieren werden, was die Zusammenarbeit mit der Mehrheit der Gewerkschaften gefährdet. Diese befürchten wie die FMLN, daß die bescheidenen Reformen des Wahlrechtes (z.B. Erhöhung der Parlamentssitze von 60 auf 84, verstärkte WählerInnenregistrie­rung, begrenzte Wahlpropaganda) kaum ausreichen werden, um das Klima des Terrors zu beseitigen. Darüber hinaus ist auch kaum zu erwarten, daß die Regie­rungspartei ARENA sich an all die Vereinbarungen halten wird. So beklagten die wichtigsten Oppositionsparteien (PDC, UDN und das linke Wahlbündnis Con­vergencia Democrática – CD -) bereits Anfang Januar den vereinbarungswidrigen frühen Beginn der Wahlkampagne durch ARENA.
Um wählen zu können, müssen die Wahlberechtigten im Wahlregister stehen. Wer registriert ist, kann einen Wahlausweis beantragen, der erst die Stimmab­gabe ermöglicht. Gemeinsam mit ARENA ist beschlossen worden, daß alle, die lediglich im Wahlregister stehen, wählen können, wenn die Differenz dieser Gruppe zu jenen, die bereits über einen Wahlausweis verfügen, am 17. Februar mehr als 10% ausmacht. Ob sich die Regierungspartei am 17. Februar noch an diese Vereinbarung erinnern möchte, darf ebenfalls bezweifelt werden. Mögli­cherweise ist der Bruch dieser Übereinkunft die letzte Klippe, an der die Opposi­tion (gemeinsam oder einzelne Parteien?) aus dem Wahlprozeß aussteigen kön­nen, um diesem Urnengang insgesamt seine Legitimation zu entziehen.
Mittlerweile haben PDC und CD (am 19. Januar) in einer gemeinsamen Erklä­rung verbreiten lassen, daß die Auflösung aller paramilitärischen Gruppen die Mindestbedingung für ihre Teilnahme an den Wahlen sei. Ob diese – unter den gegebenen Bedingungen – unrealistische Forderung einen Ausstieg dieser Par­teien vorbereiten soll, darf allerdings angesichts der wankelmütigen PDC in Frage gestellt werden. Mit wachsender Spannung wird darauf gewartet, daß die FMLN ihre Position zu den Wahlen definiert.

Wechselwirkungen

Das Problem liegt auf der Hand: Aller Voraussicht nach werden die Wahlen stattfinden. Sie werden keinesfalls frei und gleich und vermutlich noch nicht einmal geheim sein (Vgl. LN 191). Dennoch wird der Ausgang der Wahlen erhebliche Rückwirkung auf den Verhandlungsprozeß haben, wenn die Opposi­tionsparteien teilnehmen und damit grundsätzlich ihr Einverständnis dokumen­tieren. Gewinnt ARENA, wird sie mit einem Hinweis auf das Wahlergebnis wei­terhin Verhandlungsfortschritte torpedieren. Gewinnt trotz aller Behinderungen und Einschüchterungen die Opposition in der einen oder anderen Konstellation, könnte eine neue und durchaus vielversprechende Dynamik in diesem Prozeß entstehen.
In diese außerordentlich schwierige Situation fielen nun im Januar einige bemer­kenswerte Ereignisse:
– Mit dem nicaraguanischen Raketendeal, der nur durch die offene Kollaboration der Sowjetunion mit den USA an die Öffentlichkeit geraten konnte, bekommen die USA das erste Mal den langersehnten Beweis, daß nicaraguanische Stellen (Einzelpersonen?) die FMLN mit Waffen versorgten.
– Am 2. Januar schoß eine FMLN-Einheit einen Hubschrauber ab, in dem sich drei US-Militärberater befanden. Wie die FMLN inzwischen zugab, überlebten zwei von ihnen den Absturz; sie wurden später im Widerspruch zu den Genfer Konventionen zur Behandlung von Kriegsgefangenen getötet.
– Baker und Schewardnadse gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie – eindeutig gegen den Geist der vereinbarten Verhandlungslogik – einen Waffen­stillstand noch vor den Wahlen fordern.
Die Ereignisse wurden weidlich ausgeschlachtet, um die FMLN als politische Kraft zu marginalisieren. Natürlich fragt niemand, was die US-Berater im Hub­schrauber taten; natürlich schweigen die USA zu den Folterungen an FMLN-Angehörigen in den salvadorianischen Kerkern, niemand erinnert sich mehr an die Aussagen ehemaliger Angehöriger der salvadorianischen Sicherheitskräfte, nach denen US-Militärberater bei Folterungen zugegen waren, diese sogar ange­ordnet und geleitet haben. Die Zeichen stehen auf Sturm; Schadensbegrenzung ist angesagt. Die FMLN hat bereits ein unabhängiges Gerichtsverfahren ange­kündigt, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit die zwei mutmaßlichen Mörder der Militärberater verurteilt werden. Diese schnelle Reaktion wird von vielen Seiten positiv aufgenommen, zumal am 9. Januar zwei Staatsanwälte, die mit dem Fall der Jesuiten befaßt waren, zurückgetreten sind. Sie begründeten ihren Schritt mit der Unmöglichkeit, die Ermittlungen gegen den Widerstand des Generalstabes zu führen. Nur die Militärs besäßen den Schlüssel zur Enthüllung der Hintergründe des Massakers.

Kein “Jesuitenfall der FMLN”

Erzbischof Rivera y Damas und Oppositionspolitiker lobten den Rücktritt der Staatsanwälte als sehr mutig und strichen die Unterschiede bei den Ermittlungen im Fall der Jesuiten und der Militärberater heraus. Mit diesen Äußerungen traten sie auch Vorwürfen entgegen, die FMLN habe nun in ihren eigenen Reihen einen “Jesuitenfall” produziert und damit jede Legitimation verwirkt, Menschenrechts­verletzungen der Armee anzuklagen.

Die Einsamkeit der “Dritten Welt”

Die angekündigte Wiederaufnahme der vollen Militärhilfe durch US-Außenmi­nister Baker aufgrund der obengenannten Vorkommnisse stieß in El Salvador und in Washington auf Protest und Besorgnis. Die Washington Post warnte am 8. Januar davor, kurz vor den Wahlen eine so eindeutige Wahlkampfunterstützung für ARENA zu leisten wie es die Wiederaufnahme der Hilfe wäre. Repräsentan­ten des Gewerkschaftsdachverbandes UNTS und anderer Einzelgewerkschaften betonten, daß die Wiederaufnahme der Militärhilfe lediglich die Jesuitenmörder ermutigen und stärken würde und eine politische Lösung des Konfliktes in weite Ferne rücken würde. Allerdings ist die Entscheidung noch einmal bis nach den Wahlen vertagt worden. Das Signal an die FMLN ist deutlich: “Wenn Ihr die Wahlen boykottiert, wird das Geld wieder zu 100% ausgezahlt werden”. Darüber hinaus wird die FMLN implizit aufgefordert, innerhalb der nächsten 60 Tage einem Waffenstillstand zuzustimmen – unabhängig vom Verlauf der Verhand­lungen. Falls es in dieser Frist zu keinen substantiellen Verhandlungsfortschritten kommt, widerspräche ein Waffenstillstand Geist und Buchstabe des UNO-Ver­handlungsprozesses, den sowohl die USA wie die Sowjetunion vorgeben zu unterstützen.


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Rechtsstaat und Revolution

Aufgeflogen war die Raketenlieferung an die FMLN, nachdem das salvadorenische Militär Reste einer von der FMLN abgefeuerten SAM 14-Rakete gefunden und an die USA weitergeleitet hatte. Die Sowjetunion identifizierte auf Anfrage der USA die Rakete anhand ihrer Fabrikationsnummer als Teil einer Raketenlieferung an Nicaragua aus dem Jahre 1986.
In ungewöhnlich scharfer Form verurteilte die Generalkommandatur des Sandinistischen Volksheeres die eigenmächtige Raketenlieferung durch vier ihrer langgedienten Offiziere. Deren Vorgehen stelle einen Angriff auf den revolutionären Prozeß in Nicaragua und den Frieden Zentralamerikas dar. Ex-Präsident Daniel Ortega warf den inkriminierten Offizieren Unverantwortlichkeit vor und befürchtete, daß die USA nunmehr die Sowjetunion dazu drängen werde, alle Raketen aus Nicaragua zurückzufordern..
Das sowjetische Militär entsandte wenige Tage nach Bekanntwerden der Waffenlieferung eine Kommission nach Nicaragua: laut Vertrag durften die von der Sowjetunion an Nicaragua gelieferten Waffen nicht weitergegeben werden.

Die Entpolitisierung des EPS

Die Raketenaffaire lieferte den USA und der ultrarechten Fraktion in der regierenden Rechtsallianz U.N.O. (Nationale Oppositions-Union) um den Vizepräsidenten Godoy neue Argumente in ihrem Versuch, den sandinistischen Ex-Verteidigungsminister Humberto Ortega von der Spitze des EPS abzulösen und eigene, von ihnen selbst kontrollierte Einheiten aufzubauen.
An der integrität der nach der Revolution aufgebauten Streitkräfte hat die FSLN naturgemäß ein vitales Interesse. Die ‘Professionalisierung” des EPS, d.h. sein Charakter als nationales, “unpolitisches”, Verfassung und Regierung verpflichtetes Militär, stand laut Humberto Ortega sogar unabhängig von der sandinistischen Wahlniederlage des vergangenen Februars auf der politischen Tagesordnung. Kürzlich konnte die FSLN zwei Erfolge im ständigen Tauziehen um das EPS erringen: Bei der Haushaltsdebatte Ende letzten Jahres wollten die Abgeordneten der U.N.O.-Parteien drastische Mittelkürzungen für das EPS verfügen, scheiterten aber am Veto der Präsidentin Violeta Chamorro und einer neuerlichen Abstimmung, die die Militärkürzungen in erheblich geringerem Umfang vornahm. Zudem wurde die gesamte EPS-Führung von der Präsidentin in ihren Ämtern wieder bestätigt, das Verteidigungsministerium bleibt weiterhin von der Präsidentin selbst verwaltet.
Während die Attacken von Verbänden der ehemaligen Contra in verschiedenen Landesteilen anhalten und die Kriminalitätsrate weiterhin steigt, schreitet die nach den Wahlen zwischen neuer Regierung und FSLN vereinbarte Reduzierung des EPS voran. Von 90.000 im Januar 1990 ist das EPS nun auf 28.000 Mitglieder. und zur kleinsten Armee Zentralamerikas geschrumpft. Zudem geben viele PolizistInnen ihren Dienst in der Sandinistischen Polizei auf, da die Gehälter kaum zum Überleben reichen.

Revolutionäre Prinzipien im Wandel der Zelten

Trotz der nach wie vor gespannten Situation im Land und der permanenten Versuche von seiten der Ultrarechten, die Sicherheitskräfte zu destabilisieren, wurde die Verhaftung der 4 Offiziere. die die Raketenlieferung an die FMLN mit revolutionären Prinzipien begründeten, vor allem aber der verurteilende Ton des entsprechenden EPS-Kommuniqués von Teilen der FSLN scharf kritisiert. Die “Sandinistische Jugend solidarisierte sich mit den Verhafteten und berief sich auf das Verfassungsgebot der internationalen Solidarität. Arián Meza, der Rechtsberater der sandinistischen Gewerkschaft CST,erlaubte sich den Hinweis, daß auch der Befreiungskampf der FSLN illegal war, und verwahrte sich gegen die moralische Disqualifizierung der Verhafteten, wie sie das EPS-Kommuniqué nahegelegt hatte. Auch innerhalb des EPS rührt der Waffentransfer an zweifelsohne bestehende Meinungsverschiedenheiten, die mit der Entlassung
des dem radikalen Flügel der FSLN zuzurechnenden Luftwaffenchef Pichardo im vergangenen Jahr (vgl. LN 196) ihren Höhepunkt erfahren hatten. Pikanterweise zählt mit dem schon im September in Ruhestand versetzten Ex-Major Odell Ortega einer der engsten Vertrauten Pichardos zu den Verhafteten. “Im EPS bekennt niemand mehr Farbe”, machte Odell seinem Unmut über die Entpolitisierung des EPS Luft.
Einig waren sich die meisten KommentatorInnen darin, daß die Unterstützung der FSLN für den Befreiungskampf E1 Saivadors in der Forcierung einer Verhandlungslösung bestehen müsse. Die Waffenlieferungen seien ein Verstoß gegen das Abkommen von Esquipulas, der nicht damit begründet werden könne, daß sich außer Nicaragua kein Land der Region, am wenigsten die USA an Esquipulas gehalten hätten.

Antiimperialismus und Soziale Marktwirtschaft -Die Programmdebatte in der FSLN

Die Diskussion um den Raketentransfer wird vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Neuorientierung sandinistischer Politik geführt, die -wenige Monate vor dem Programmkongreß der FSLN -zunehmend an Tempo und Scharfe gewinnen. Manche Kommentare konstatierten in den vergangenen Wochen eine tiefe Identitätskrise der FSLN, andere fanden gerade in der Gegensätzlichkeit der Positionen Positives.
Victor Tirado, Mitglied der nunmehr 7-köpfigen Nationalleitung der FSLN, erklärte den Antiimperialismus mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus für gestorben und sah in freien Wahlen, der sozialen Marktwirtschaft und regionaler Zusammenarbeit den derzeitigen Rahmen für die Politik Nicaraguas. “Was wir in der Vergangenheit als bürgerlich und reaktionär einschätzten, müssen wir heute als Mittel des revolutionären Kampfes im Rahmen der internationalen Legalität betrachten.” Nationalleitungs-Kollege Luis Carrión widersprach Tirados These vom verblichenen Antiimperialismus entschieden: “Der Antiimperialismus verliert erst dann seine Gültigkeit,. wenn der Imperialismus aufhört, Imperialismus zu sein.”
Die Raketenaffaire hat jedenfalls weiteren Zündstoff in die programmatischen Diskussionen der FSLN gebracht.
Die FMLN äußerte sich sehr zurückhaltend zum Waffentransfer. In einem Kommuniqué wies sie die Aussage der verhafteten nicaraguanischen Militärs zurück, FMLN-Kommandant Villalobos sei direkt an der Abwicklung des Geschäftes beteiligt gewesen: vielmehr hätten mittlere Führungskader in der Angelegenheit auf eigene Faust gehandelt.
Immerhin bedeuten die Boden-Luft-Raketen, wie die FMLN mit ihrer Offensive vom vergangenen November bewies, einen enormen militärischen Trumpf. Ein beträchtlicher Teil der SAM-Raketen stammt übrigens nicht aus Beständen des EPS, sondern -wie FMLN-Kommandant Facundo Guardado in einem Interview betonte -von den USA: die hatten die Raketen an die Contra geliefert, welche sie dann an die FMLN verkaufte.
Das Verhalten der UDSSR, die den USA bereitwillig bei der Identifizierung der Raketen zur Hand ging und sich nur sehr zurückhaltend zur US-Politik in E1 Salvador. und Zentralamerika äußerte, wurde in Kommentaren der sandinistischen Presse als unangenehmer Nebenaspekt der Raketenaffaire bewertet. Der Rechtsberater der Nationalen Arbeiterfront (FNT) Augusto Zamora schrieb in Barricada: “Was die UDSSR gemacht hat, zeigt, wie einsam wir jetzt in der Dritten Welt sind. Mit Bestürzung erleben wir die Kollaboration der Mächtigen, bei der wir, die Schwachen, die Verlierer sind.”
Diese Bitterkeit war in den meisten Kommentaren zu spüren; gerade auch in jenen, die keine Alternative zum Vorgehen der EPS-Führung sahen in einer Situation, da die Stabilität des nicaraguanischen Militärs, abhängig von seiner Loyalität zu Verfassung und Regierung, unabdingbar für die Stabilität Nicaraguas ist.


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Wirtschaft: Enormer Rückschritt und keine Hilfe aus dem Ausland

LN: Wie läßt sich die derzeitige wirtschaftliche Situation Nicaraguas charakterisieren?

Rosa María Renzi: Ich würde sagen, daß die Wirtschaft dieses Jahr einen enormen Rückschritt erfahren hat. Das wichtigste Problem ist der hyperinflationäre Prozeß. Wir glauben, daß die Inflation dieses Jahr mit Ca12.300 Prozent abschließen wird. Das bedeutet im Jahresdurchschnitt49% Inflation monatlich. Das läßt den Aufbau einer stabilen internen ökonomischen Situation nicht zu. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einige sind objektiv gegeben: Das Staatsdefizit betrug 1989 5% des Bruttoinlandsproduktes (BIP);1990 könnte es bei 10-12% liegen. Das hebt den Inflationsdruck extrem an.
Dennoch glaube ich, daß es einige subjektive Gründe gibt, die schwerer wiegen, und das ist die Erwartung der Bevölkerung im allgemeinen. Es gab keine klaren Signale, kein Programm, widersprüchliche Aussagen in punkto Wirtschaft, große Unsicherheit über das Erlangen ausländischer Hilfe…

Die Inflation in den Köpfen.

LN: Warum ist Nicaragua zur Zeit das teuerste Land Zentralamerikas?
Warum hat auch der Dollar so rapide an Kaufkraft verloren?

R.M.R.: Zuerst die Überbewertung des alten Cordoba: Das hat dazu geführt, daß die nationalen Produkte gegenüber den Importen teurer sind. Zweitens hat die Dollarisierung des Landes die Menschen jeglichen Maßstab verlieren lassen, das Preisgefüge ist durcheinander. Die Existenz mehrerer Währungen -eines alten Cordobas, der ständig abgewertet wird, eines neuen Cordobas, der immer noch nicht eingeführt ist -die Zweifel, ob er nun eine 1:1-Parität zum Dollar haben wird oder nicht, bewirken, daß die Inflationserwartung der Bevölkerung sich auf die neue Währung und sogar auf den Dollar überträgt. Weil die Bevölkerung sich vor zukünftigen Abwertungen schützen will, die es auch für den Gold-Cordoba geben könnte, erhöhen sie auch die Preise in Gold-Cordoba ständig. Die Leute wissen, daß es keine Reserven gibt, um die 1:1-Parität aufrechtzuerhalten. Die wenigen, die Gold-Cordoba erhalten, wechseln sie sofort in Dollar, denn sie wissen, daß das die einzige Währung ist, die einigermaßen den Wert behält. Es ist praktisch eine “Panamaisierung”Nicaraguas, was den Geldumlauf angeht.

Vom Versagen der staatlichen Steuerungsinstrumente

LN: Als ehemalige Mitarbeiterin des Planungsstabes kennen Sie die Instrumente sehr genau, die dem Staat zur Steuerung der Wirtschaft zur Verfügung stehen. Welche Instrumente könnten jetzt benutzt werden, und mit welcher Zielsetzung?

R.M.R.: Das Problem ist, daß viele Instrumente nicht die gewünschten Ergebnisse zeigen. Die sandinistische Regierung hat 1989 eine sehr dynamische und aktive Wechselkurspolitik betrieben. Dennoch ist die Inflation während des gesamten Jahres weniger gestiegen als die Abwertung, so daß es eine reale Abwertung gegeben hat und die Exporte gesteigert wurden. In diesem Jahr, in dem die Regierung das Gleiche tun wollte, hat die Inflation die gesamten Gewinne, die durch die Wechselkurspolitik erzielt werden sollten, aufgefressen.
Das hängt also nicht nur von der Benutzung der Steuerungsinstrumente ab. Die Maßnahmen können noch so rigide sein, aber wenn sie die soziale Stabilität in Gefahr bringt, sind sie kontraproduktiv. Es muß ein Mittel gefunden werden, um wirtschaftliche Stabilität und gleichzeitig positive soziale Effekte zu erreichen, damit nicht eine soziale Destabilisierung die wirtschaftliche Entwicklung in Gefahr bringt.

International ins Abseits gedrängt

LN: Obwohl es in Nicaragua einen politischen Wechsel im Sinne der kapitalistischen Industrieländer gegeben hat, stellt sich die Situation der Finanzhilfe überaus schwierig dar. Welche Bedeutung haben in diesem Sinne die Veränderungen in Osteuropa?

R.M.R.: Große. Einerseits, weil die Hilfe der sozialistischen Länder vor allem in den letzten fünf Jahren für die Stabilität Nicaraguas -wenn man davon überhaupt sprechen kann -entscheidend war. Die Erdölversorgung war komplett von der UdSSR und den anderen sozialistischen Länder garantiert, und Rohstoffe, Maschinen, Ersatzteile und andere Materialien kamen zu sehr günstigen Bedingungen aus diesen Ländern.
In diesem Jahr waren bereits einige Auswirkungen zu spüren, allerdings noch in geringerem Ausmaß. Von allen Hilfen war die sowjetische die wichtigste, und diese war bis zum Jahr 1990 vertraglich festgelegt. Dieses Jahr wurden 300.000 t Rohöl importiert. Die restlichen Länder trugen nicht mehr zur Versorgung bei, aber die aus der UdSSR gelieferte Menge bedeutet 40-50% der benötigten Jahresquote. Und auch die anderen Waren sind -mit einigen Schwierigkeiten -eingetroffen. Es wird sehr schwierig sein, für das nächste Jahr die gleichen Bedingungen zu erhalten.
Außerdem konzentrieren sich die Interessen der Welt auf die Länder des Ostens, die aufgrund ihrer Strukturen eine schnelle Amortisierung von Investitionen garantieren.

LN: Die “Konzertierte Aktion”ist hier oft halb im Scherz als “nicht-traditionelles Exportprodukt” bezeichnet worden, um dem Ausland vorzuführen, es gebe in Nicaragua soziale und politische Stabilität. Durch die Aktionen der Contra im November 1990 ist sehr deutlich geworden, daß das nicht so ist. Wie sehen Sie also jetzt die Wirkung der “Konzertierten Aktion” auf mögliche ausländische Geldgeber?

R.M.R.: Obwohl zunächst die “Konzertierte Aktion” tatsächlich im Hinblick auf ihre Außenwirkung initiiert wurde, um irgendein Papier zu unterschreiben und damit hausieren zu gehen, hat die Praxis den Inhalt verändert. Wenn Du Dich erinnerst: An der ersten Sitzung nahmen die FSLN, bzw. ihre Organisationen, nicht teil. Dann gab es einen Prozeß der Annäherung und der Verhandlung und schließlich dauerte der ganze Vorgang, den man auf eine Woche geplant hatte, mehr als einen Monat. Ich würde sagen, daß das Endprodukt schließlich nicht mehr nur das Papier fürs Ausland ist, sondern tatsächlich der erste Schritt, um ein wenig ein Klima der politischen und sozialen Stabilität in diesem Land zu schaffen. Die Bevölkerung hat hier seit dem Amtsantritt der neuen Regierung praktisch nicht eine Woche Ruhe gehabt, wo jemand hätte sagen können: “Gut, jetzt an die Arbeit”. Ich glaube, daß die “Konzertierte Aktion” hier einen Spielraum geschaffen hat.
Trotzdem beweist das Treffen der Geberländer in Paris, daß das Ausland nicht wegen der “Konzertierten Aktion” plötzlich Antworten bereit hält. Sie wollen zunächst einmal sehen, ob es funktioniert. Der Konflikt in der V.Region (s. LN 198)war nicht sehr hilfreich. Für Paris wurde ein Wirtschaftsprogramm verlangt, und bevor sie nicht klare erste Resultate gesehen haben, werden sie gar nichts geben. Deshalb glaube ich, daß die wirtschaftliche Situation im nächsten Jahr sehr kritisch wird, vor allem in der ersten Jahreshälfte, denn wenn die nächste Konferenz im März stattfindet, wird kaum vor Juni Geld hier eintreffen. Es gibt andere, die auf neue Mechanismen mit der Weltbank für neue Kredite vertrauen. Das ist natürlich Quatsch, denn wenn man sich diese Kredite anschaut, dann sind sie alle für die Schuldentilgung da.

FSLN -noch kein Wirtschaftskonzept

LN: Die internationalen Bedingungen sind objektiv gegeben, für jede nicaraguanische Regierung. Was wäre denn das Wirtschaftskonzept einer FSLN-Regierung nach gewonnenen Wahlen gewesen?

R.M.R.: Tatsächlich ist es so, daß unser Konzept noch auf einer nicht so stark veränderten Weltsituation aufbaute. Die Ereignisse in Osteuropa sind in so schneller Abfolge eingetreten, wie sie niemand jemals vorausgesehen hätte. Die FSLN wußte -die Perestroika hatte ja schon begonnen -daß wir in einen schwierigen Prozeß eintreten würden. Aber wir glaubten, daß die Anpassungsmaßnahmen des Jahres 1990 wie eine Visitenkarte gegenüber der internationalen Gemeinschaft und gegenüber den internationalen Finanzorganisationen wirken würden.
Wir glaubten, obwohl wir den Marktmechanismen mehr Gewicht gaben, daß der Staat nach wie vor eine wichtige Rolle spielen müsse: ein orientierender und steuernder Staat, der sich vor allem um die ärmsten Sektoren kümmert. Wir dachten an ein kombiniertes Modell.

LN: Hat sich die Diskussion innerhalb der FSLN über die Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren verändert oder gab es bis zum Schluß die gleiche Fraktionierung einer sozialistischen Orientierung nach altem Schema auf der einen und eines “pragmatischen” Flügels auf der anderen Seite? Die Ergebnisse dieser Differenzen waren ja auch, daß die Anpassungsprogramme von 1985 und 1988 nie radikal durchgeführt, sondern ziemlich halbherzig angegangen wurden.
R.M.R.: Es gab tatsächlich einen Sektor der Frente, der ein Modell á la Cuba oder á la UdSSR wollte, also gemäß den bekannten alternativen Wirtschaftsmodellen. Wir -die “PragmatikerInnen”-sagten, daß wir nicht den reinen Kapitalismus, aber ein Zwischenstadium versuchen müßten.
1985 begannen sich die Probleme deutlich zu zeigen, die durch eine sehr ausgedehnte Subventionspolitik, kombiniert mit einem Krieg und dem Wirtschaftsboykott entstanden waren. Es mußte ein Anpassungsprogramm angegangen werden, aber verbunden mit dem Versuch, die Folgen für die Bevölkerung so klein wie möglich zu halten. Dieses Programm war also halbherzig, hart auf der einen Seite, abfedernd auf der anderen, ein Gemisch, das schließlich nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte.
1988 gab es diese Elemente zwar auch, aber die Anwendung der Maßnahmen machte offensichtlich, daß es soziale Sektoren mit direkt entgegengesetzten Interessen gab. Der Druck dieser verschiedenen Interessengruppen hat nicht zugelassen, daß das Programm wie vorgesehen durchgeführt werden konnte. Das war kein Problem der unterschiedlichen Konzeptionen der Führung mehr, sondern ein Ausdruck der Basis der verschiedenen sozialen Sektoren. Und Ende 1988 gelangte die Wirtschaft dann durch den Hurrikan in die absolute Krise. Eine Durchführung des Programms war nicht mehr möglich. All diese Elemente und die Auswertung der Erfahrungen brachten uns 1989 zu einem viel rigideren Programm, im Bewußtsein, daß es ernste Konsequenzen haben würde.

LN: Vor kurzem gab der Comandante Victor Tirado ein Interview, in dem er sich geradezu als Apologet der sozialen Marktwirtschaft präsentiert. Glauben Sie, da8 das ein realistisches Konzept für Nicaragua sein könnte?

R.M.R.: Die revolutionären oder progressiven Kräfte dieses Landes müssen als Ziel haben, daß es eine Verteilung des vorhandenen Reichtums mehr in einem Maße gibt, wie es z.B. in den skandinavischen Ländern erreicht worden ist. Trotzdem sind wir uns darüber bewußt, daß das eine Utopie bleibt, solange es keinen wirtschaftlichen Fortschritt gibt. Ich habe kein klares Modell im Kopf, aber ich denke, daß das nicht nur in Nicaragua so ist, sondern eine Krise ganz Lateinamerikas. Der Kapitalismus in Reinform oder der Sozialismus in der bisher praktizierten Form sind beide nicht gut. Also muß eine Zwischenform gefunden werden.

Privatbanken gegen Schlamperei -Subventionen für Grundnahrungsmittel

LN: Zur Zeit werden die Türen für ein neues Finanzsystem unter Einschluß des Privatsektors geöffnet. Welche Effekte kann das haben? Einer der ersten Schritte sandinistischer Wirtschaftspolitik war die Verstaatlichung der Banken. War es ein Fehler, diese Verstaatlichung aufrechtzuerhalten?

R.M.R.: Die Idee der Verstaatlichung der Banken und des Außenhandels war, die oligarchisch konzentrierte Macht über den nationalen Reichtum zu brechen, und die Dienstleistungen des Finanzwesens sowie die Gewinne des Außenhandels im Interesse der Mehrheit zu nutzen. Das war richtig, umso mehr während des Krieges, denn die wenigen Devisen konnten nicht einfach den Marktmechanismen ausgesetzt werden.
Wir haben bereits 1989 die Notwendigkeit einer größeren Öffnung des Finanzwesens formuliert. Es sollte eine Konkurrenz geschaffen werden, damit die Verfilzung, Verbürokratisierung und Schlamperei innerhalb des Finanzwesens aufhört. Wir wollten das Finanzsystem dynamischer machen. Wir hatten die Ziele bereits definiert, nur die Maßnahmen noch nicht, z.B. ob wir Privatbanken zulassen sollten.
Ich sehe es nicht prinzipiell als negativ an, wenn in einem Land Privatbanken aktiv werden. Voraussetzung ist allerdings, daß es eine übergeordnete Instanz gibt, die auf die Wahrung der nationalen Interessen achtet. Die staatlichen Banken müssen effizienter werden, um nicht zu verschwinden. Wenn das nicht geschieht, sehe ich die Konsequenzen sehr negativ. Es wird vielleicht keine Wiederholung der Vergangenheit, aber doch etwas sehr ähnliches geben: Daß die Banken sich in ein Instrument weniger Reicher verwandeln, die Kredite nur an die mit ihnen liierten Sektoren vergeben und die kleinen und mittleren Produzenten vergessen.

LN: Es gab dieses Jahr bereits große Probleme mit der Finanzierung gerade der kleinen und mittleren Produzenten und der Kooperativen. Durch die Dollarisierung der Kredite verloren zahlreiche Kleinproduzenten viel Geld. Ist es in einem Land mit einer derartigen Produktionsstruktur möglich, eine Kreditpolitik ausschließlich nach dem Kriterium der Rentabilität zu machen?
R.M.R.: Zum einen gibt es in diesem Land tatsächlich einige rentable Produktionszweige. Das Problem ist die Transparenz; darin liegen auch Ineffizienzen der alten Regierung: Man untersuchte nicht genau, welche Sektoren rentabel sind. Das wäre mein Konzept: Eine staatliche Bank kann effizient sein, indem sie den rentablen Unternehmen hohe und reale Zinsen für die Kredite abverlangt. Und damit könnten Präferenzbedingungen für Kleinproduzenten finanziert werden. Das ist eine Form.
Die andere Form wäre, daß alle nach Rentabilitätskriterien und mit realen Zinsen vergeben werden, es aber eine direkte staatliche Subvention gibt. Diese muß dann allerdings sehr gezielt, sehr punktuell und mit einem zeitlich absehbaren Ende stattfinden, eine Art finanzieller Anschub, der die Leute befähigt, selbständig aus der Situation herauszukommen. Ich glaube, daß die objektive strukturelle Rückständigkeit unserer Produktion kein massives Wachstum der Produktion ohne gezielte Subvention zuläßt.


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Fragmente einer Reise

Brasilien im Januar
—– Der 10.000 Cruzados-Schein wurde durch einen Stempel zu 10 Cruzados Novos. Nach der derzeitigen Währung ist er 10 Cruzeiros wert (ca.10 Pfennig). Zum 1.1.91 wurde der Schein durch eine Münze ersetzt, ist aber noch im Umlauf. “Deus seja louvado” (Gott sei gelobt), steht auf dem Geldschein.
—– Die Reklame eines Motels in Rio: “Faça amor, nao faça guerra.” (Mache Liebe, mach nicht Krieg.) – Eine Annonce für Eigentumswohnungen in Búzios: “Hussein, deixe disso… vá pra Búzios!” (Hussein, laß das doch… geh nach Bú­zios!) – Ein kleiner Junge quengelt auf der Straße. Sein Vater droht ihm: “Wenn du nicht gleich aufhörst, schicke ich dich an den Golf!”
—– Im Nordosten herrscht auch in diesem Sommer eine Dürrekatastrophe. Schon im Dezember verteilte Collor Notpakete mit Grundnahrungsmitteln in den ärmsten Gebieten. Jetzt besuchte er ein Bewässerungsprojekt in Pernambuco. Dabei gab er bekannt, daß die Regierung 5,1 Milliarden Cruzeiros für Bewäs­serungs-, Strom- und Wohnungsbauprojekte zur Verfügung stellen will. In der Zeitung ein Bild vom fotogensten und sportlichsten aller Präsidenten. Diesmal fährt Collor allerdings nur einen Traktor.
—– Boom der Caipira-Musik, der brasilianischen “Country-Musik”: “Chitaozinho e Xororó” haben bereits 1,7 Mio. ihrer Platte “Meninos do Brasil” verkauft. “Legiao Urbana”, eine der bekanntesten brasilianischen Rockgruppen, dagegen nur 610.000 Exemplare ihrer Platte “Que país é este?” Die Platte “Purple Rain” von Prince wurde nur 150.000 mal verkauft. Der Star des diesjährigen Sao Paulo Country Festivals ist Almir Satter, Sänger und Held der gerade neu begonnenen Telenovela im Fernsehen.
—– Wenn jemand Fragen zu Deutschland stellt, dann entweder zur Situation nach dem Fall der Mauer, oder zum deutschen Fußball. Der Rückblick 1990 der “Isto é” (einer der größten Zeitschriften) beginnt mit einem Interview mit Elmar Altvater zu den Problemen des vereinten Deutschland.
—– Die Dengue-Epidemie greift um sich. Fast 40.000 Menschen sind schon von dem Virus infiziert, der von Mosquitos übertragen wird und im schlimmsten Fall bis zum Tod führen kann. In einer nationalen Kampagne zur Vernichtung der Mosquitos werden vor allem in Rio, dem Krisenherd, Springbrunnen und Wasser­löcher mit Sand zugeschüttet und große Mengen Insektizide versprüht.
—– Wenn am Kiosk oder im Laden kein passendes Wechselgeld vorhanden ist, gibt es stattdessen Bonbons oder Kaugummis. In der Apotheke darf ich mir als Wechselgeld eine kleine Packung Pillen aussuchen.
—– Die Preiserhöhungen in der ersten Januarwoche waren die höchsten seit Be­ginn des Plano Collor. Die Grundnahrungsmittel wurden durchschnittlich 12,7 % teurer; Bus- und Benzinpreise steigen. Es wird befürchtet, daß die Inflation in diesem Monat auf 22 % ansteigt. Wegen des Krieges und der steigenden Ölpreise, behauptet Ibrahim Eris, Chef der “Banco Central”. Das Wirtschaftsprogramm Collors hat auf der ganzen Linie versagt, behauptet die Opposition. Zélia Cardoso de Mello, die Wirtschaftsministerin, weiß die Lösung: Die Inflation wurde bisher falsch gemessen, jetzt müsse das richtige “Thermometer” gefunden werden.
—– Eine Bekannte erzählt, sie habe vor zwei Wochen nach einer Fete ein Taxi nach Hause genommen. Unterwegs hielt der Taxifahrer an, bedrohte sie mit einem Messer und vergewaltigte sie auf dem Rücksitz. Die Angst davor, bedroht und ausgeraubt zu werden. gehört zum Alltag. Über Vergewaltigungen wird normalerweise nicht gesprochen.
—– Die PT (Arbeiterpartei) gibt derzeit ein klägliches Bild ab. Sie ist aus der öffent­lichen Diskussion fast ganz verschwunden. Das Projekt einer “Parallelregierung” unter Lula ist gescheitert; bei den Gouverneurswahlen im Dezember konnte sie keinen einzigen Kandidaten durchbringen. Während der Gouverneurswahlen in Sao Paulo hat sie sich über der Frage zerstritten, ob sie sich dem Anti-Maluf Bündnis anschließen oder die Wahlen boykottieren sollte. Die Resignation und Orientierungslosigkeit der Linken nach der Wahlniederlage gegen Collor und dem “Ende des Sozialismus” dauert an.
—– Ergebnisse einer Umfage der “DataFolha” am 14.Januar: Sind Sie für oder ge­gen die Entsendung von brasilianischen Truppen in die Golfregion? 82 % sind dagegen, 16 % dafür. Davon befürworten 12 % den Einsatz der Truppen gegen den Irak; 4 % wollen auf der Seite des Iraks kämpfen.
—– “Vestibulares” in Sao Paulo: Aufnahmeprüfungen für die staatlichen und privaten Universitäten und Schulen. Auf einen Studienplatz bewerben sich teil­weise über 80 KandidatInnen. Die Polizei sperrt ganze Straßenzüge ab, damit die BewerberInnen an den Ort der Prüfung gelangen können (Wer kann, fährt in Sao Paulo mit dem Auto). In den Tageszeitungen werden auf Sonderseiten die Prüfungs­aufgaben und die Lösungen veröffentlicht.
—– Die Spekulationen über einen möglichen Kriegsbeginn im Golf veranlassen viele Menschen zu Hamsterkäufen. Es werden vor allem Gasflaschen gekauft, die in den meisten Haushalten zum Kochen verwendet werden. Schon nach zwei Tagen verkaufen Jungen die Gasflaschen am Straßenrand zum dreifachen Preis.
—– Ana arbeitet für ein von der Stadtsverwaltung unterstütztes Videoprojekt. In einem Video-Kino-Bus zeigt sie in Vororten Sao Paulos Videos zu Themen wie Erziehung, Hygiene, Probleme der Wasserversorgung, Umweltverschmutzung und Aids. Ihr Mann Roberto arbeitet bei TV Cultura. TV Cultura versucht als einziger Sender, ein ‘kulturell orientiertes Gegenprogramm’ zu den großen Kommerz-Sendern zu machen (Einschaltquote: 2 %). Roberto und Ana würden nach ‘Berliner Verhältnissen’ zum weiteren Umfeld der Alternativ-Szene gehö­ren. Am letzten Abend des Ultimatums frage ich sie, ob sie von Demonstrationen gegen den Krieg gehört haben. Sie schauen mich ver­wundert an. “Auf der Ave­nida Paulista haben wohl einige Leute ein paar Flug­blätter verteilt”, meint Ana. Roberto sagt: ” Wir Brasilianer haben ein anderes Verhältnis zur Straße als ihr in Deutschland. Jeder wirft bei uns seinen Müll auf die Straße. Die Straße gehört den Armen. Alleine hier in Sao Paulo leben 150.000 Menschen auf der Straße. In einer Situation wie dieser bleiben die Leute zuhause und sehen fern.”
—– Rock in Rio II. Zehn Tage Rockspektakel im Maracana, dem größten Stadion Rios. Neben brasilianischen MusikerInnen und Gruppen wie Lobao, Roupa Nova, Gilberto Gil, Elba Ramalho, Titas und Capital Inicial präsentieren sich inter­nationale Größen, z.B. Prince, Joe Cocker, Santana, Billy Idol, Guns N’Roses, Judas Priest und Deee-Lite.
—– Guilherme, Diplomchemiker, hat seinen Job bei einer brasilianischen Firma in Rio verloren. Dagmar sucht schon seit Monaten nach Arbeit. Während der kurzen Zeit in Brasilien höre ich immer wieder von Entlassungen. – Im Süden Brasiliens werden DeutschlehrerInnen gesucht. Seit letztem Jahr steigt in Rio Grande do Sul die Nachfrage nach Deutschunterricht an staatlichen und privaten Schulen.
—– Überschwemmungen durch anhaltende Regenfälle. In Sao Paulo stehen mehrere Stadtviertel unter Wasser. Einige Bundesstraßen mußten gesperrt wer­den. In Minas Gerais sind 30.000 Menschen obdachlos geworden.
—– Die Wirtschaftsrezession bewirkt eine Expansion des Videomarktes (ohnehin schon an fünfter Stelle weltweit), denn Video ist eine der billigsten Formen, sich zu unterhalten. – Die “außerehelichen Beziehungen” nehmen dagegen mit stei­gender Rezession ab. Der Umsatz von Motels in Sao Paulo sank um 20 %, die Prostituierten verzeichneten einen “deutlichen Rückgang” des Geschäftes. – Nach Untersuchungen von SoziologInnen der USP (Universität Sao Paulo) führten Massenentlassungen in einem Vorort Sao Paulos zu einer stark vermehrten An­zahl von Schwangerschaften und zu erhöhtem Konsum von Telenovelas.
—– Das Ende des Ultimatums erlebe ich mit einigen FreundInnen vor dem Fern­seher. Ich habe das ungute Gefühl, daß ein wenig Enttäuschung mitschwingt, als nach dem Countdown nichts passiert. Auf Manchete wird diese Nacht “Stranger than Paradise” gezeigt, ständig unterbrochen von der Nachricht, daß der Krieg noch nicht begonnen hat.
—– Im Dezember verweigerte Orestes Quercia, Gouverneur von Sao Paulo, den Angestellten im Öffentlichen Dienst ihr 13.Gehalt. Das Geld hat er für die Wahl­propaganda seines Nachfolgers Fleury verpraßt, wird gemunkelt. Nach massiven Protesten zahlte Quercia wenigstens die erste Hälfte des 13.Gehaltes aus. Nun soll aber die Zahlung des Januar-Gehalts um einen Monat verschoben werden.
—– Xuxa, der beliebteste (Kinder-)Fernsehstar, verliert immer mehr an Popula­rität. Auf fast allen Programmen gibt es inzwischen Xuxa-Imitationen. Überhaupt sieht es für den Mediengiganten Globo derzeit gar nicht gut aus. Im Telenovela-Kampf hat ihm der Sender Manchete mit der Novela “Pantanal” Teile seines Stammpublikums abjagen können. – “Brasileiros e Brasileiras” vom Sender SBT, die angeblich brasilianischste Novela, in der nur die Unterschicht vertreten ist, war ein Flop. – An den ersten beiden Abenden nach Beginn des Krieges fallen sämtliche Novelas wegen der Kriegs-Sonderberichterstattung aus. Auf allen Programmen wird CNN übertragen, mit brasilianischer Direktübersetzung. Auch die Tageszeitungen bringen täglich Extrabeilagen oder Sonderausgaben zum Golfkrieg.
—– Am Morgen nach Kriegsbeginn spielen die Kinder auf der Straße vor dem Haus. Sie spielen Krieg: Amerika gegen Irak.
—– In einer Sondersitzung beschließt die Regierung ein Notprogramm zum Ein­sparen von Brennstoffen. Die Versorgung der Tankstellen mit Benzin und Öl wird um 10 % gedrosselt; Gaslieferungen werden um 22 % gekürzt. Tankstellen bleiben ab sofort von 20 Uhr bis 6 Uhr und an Sonn- und Feiertagen geschlossen. Die Gasflaschen enthalten statt 13 Kilo nur noch 10 Kilo; es darf nur noch eine Gasflasche pro KonsumentIn verkauft werden.In einer Live-Ansprache im An­schluß an die Krisensitzung versucht Collor, die Bevölkerung zu beruhigen. Die Öl- und Gasvorräte würden für einige Monate reichen, so daß kein Anlaß zu Pa­nik bestünde. Collor warnt davor, die Gasflaschen zuhause zu horten. In der letzten Nacht ist eine Bar in die Luft gegangen, in der Gasflaschen gelagert waren.
—– Die ersten Auswirkungen des Golfkriegs auf den Karneval in Rio: Der “Clube Monte Líbano”, in der Südzone Rios, wird nach 31 Aufführungen den Namen seines Galatanzes ändern, mit dem er in der Stadt bekannt geworden ist: “Uma noite em Bagdá” (Eine Nacht in Bagdad). Die Aufführung heißt jetzt: “Baile de Gala do Monte Líbano” (Galatanz des Bergs Libanon).
—– Natürlich ist auch Brasilien in das Geschäft mit Rüstungsexporten ver­wickelt. Von 1982 bis 1989 lieferte Brasilien Waffen für 3120 Millionen Dollar in Länder der sog. Dritten Welt und belegte damit den elften Platz in der Welt­rangliste der Waffenexporteure. Der Irak hat vor allem Panzerfahrzeuge und Raketen von Brasilien erhalten. Aber das erfahre ich erst in Deutschland.


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