Eindrucksvolles Geisterhaus

Der Putsch in Chile ’73 war für Isabel Allende ein wichtiges Thema in ihrem Buch “Das Geisterhaus”. Das Buch, in viele Sprachen übersetzt, gehört zu den Weltbestsellern. Daß versucht wurde, diesen Bestseller zu verfilmen, kann als große Herausforderung betrachtet werden. Leicht ist es nicht, eines der erfolgreichsten Bücher der Welt zu einem gelungenen Spielfilm zu machen. Einen großen Vorteil hat die deutsch-dänische-portugiesische Produktion schon mit der Besetzung. Jeremy Irons, Meryl Streep, Glenn Close, Winona Ryder und Mambo King Antonio Banderas gehören derzeit zu den besten SchauspielerInnen der Welt. Zwei von Ihnen, Jeremy Irons und Meryl Streep haben sogar einen Oscar auf dem Nachtkästchen stehen. Ob dieser Film die Besucherzahl von Jurassic Park überholen wird, ist noch abzuwarten.
Die Geschichte erstreckt sich über drei Generationen, und fängt ganz harmlos, am Anfang des Jahrhunderts an und führt uns zu dem Haus einer Familie der chilenischen Oberschicht. Estéban Trueba (Jeremy Irons), ein hart arbeitender Bergmann, hat die Absicht, Rosa, die älteste Tochter der Familie del Valle, zur glücklichsten Frau der Welt zu machen. Mit der Hochzeit wird aber noch gewartet, weil der in den Minen des Norden arbeitende Estéban voller Hingabe nach Gold sucht. Seine Hingabe lohnt sich, als er auf die lang erwartete Goldader stößt. Aber leider ist seine geliebte Verlobte inzwischen ermordet worden. Ein Schluck von einem geschenkten Schnaps wurde ihr zum Verhängnis und vermutlich wurde der tragische Mordanschlag wegen der politischen Überzeugung ihres Vaters verübt. Der Tod war von der kleinen übersinnlich begabten Schwester, Clara, vorausgesehen worden. Nach dem Todesfall entschloß sie sich, nicht mehr zu sprechen.
Der enttäuschte Verlobte, Estéban, zieht voll Bitterkeit nach “Tres Marías” und wird mit “Hilfe” der einheimischen Bevölkerung ein erfolgreicher, aber jähzorniger, Viehzüchter. Der respekt- und morallose Estéban ist fest entschlossen, Karriere zu machen.
Wegen des Todes seiner Mutter kehrt er wieder heim und begegnet der jetzt erwachsenen Clara. Die beiden heiraten und ziehen zusammen sehr glücklich nach “Tres Marías”. Die bei Estéban nicht sehr beliebte Schwester Férula (Glenn Close) kommt mit und ist tagsüber als Hausfrau im Haus beschäftigt. Férula wird eine sehr gute Freundin von Clara und eine zweite Mutter für Blanca (Winona Ryder). Férula wird aber von dem eifersüchtigen Bruder aus dem Haus geschickt und stirbt unglücklich.
Estébans und Claras Tochter Blanca wächst in “Tres Marías” auf und freundet sich mit Pedro García, einem Bauernsohn, an. Pedro wird Revolutionär der People’s Party (sic!) und ist eine Gefahr für die Konservative Partei und dadurch auch für Estéban. Als er hört, daß Blanca und Pedro auch noch ein Liebespaar sind, treibt er die zwei gewalttätig auseinander. Clara zieht mit ihrer schwangeren Tochter in die Stadt und redet nie wieder mit ihrem Mann. Als Gutsbesitzer und Senator kommt Estébans politische Karriere zum Höhepunkt, als er zum Anführer der Konservativen ernannt wird.
Der politische Umschwung in Chile ereignet sich, als die People’s Party eine überzeugende Mehrheit bei den Wahlen erhält. Estéban, alt, grau und voller Narben, findet im Alter Trost bei seiner Frau, die aber trotzdem ihr Versprechen, nie wieder mit ihm zu reden, einhält. Statt die Enttäuschung ihres Mannes zu teilen, ist Clara mit der Sieg der People’s Party einverstanden. Viel Mitleid kann sie ihm leider nicht mehr geben, weil sie stirbt.
An dem Tag, an dem sie begraben wird, ziehen Panzer und Truppen in die Stadt und verhaften hemmungslos die Bürger. Der Putsch ’73 hat sich ereignet. Blanca, jetzt Mutter eines Kindes, wird verhaftet wegen ihrer Beziehung zu dem verschwundenen Pedro.
Blanca wird im Gefängnis peinlich an ihren Halbbruder, das uneheliche Kind ihres Vaters erinnert. Der Sohn Estébans, der mit finanzieller Unterstützung seines Vaters ein erfolgreicher Militär geworden ist, versucht, Pedros Versteck mit Hilfe von Folter und Gewalt zu erfahren. Als sie halb tot in ihrem Folterkeller liegt, besucht der Geist ihrer Mutter die Zelle und gibt ihr neue Hoffnung. Kurz danach kommt sie frei mit Hilfe einer “Freundin” ihres Vaters. Mit Tochter und Vater fährt sie zurück nach Tres Marías.
Von Anfang an hat man das Gefühl, daß der Regisseur in sehr kurzer Zeit alle Einzelheiten des Buches verfilmen will. Drei Generationen verfliegen und die HauptdarstellerInnen werden sehr schnell alt. Wenn man den abgerissenen Kopf von Claras Mutter nach einem Autounfall über die Leinwand fliegen sieht, zweifelt man an der Seriosität des Filmes. Doch machen die genialen Leistungen der SchauspielerInnen diesen Film zu einem großen Erfolg. Nicht nur die SchauspielerInnen, auch die Bilder zeigen die Professionalität der Filmemacher. Immer wieder interessante Charakterstudien der Menschen werden auch im Geisterhaus hervorragend gezeigt. Estéban Trueba, der Schreckliche, gegenüber der Freundlichkeit und Heiterkeit von Clara. Leider ist die politische Botschaft nicht sehr deutlich, aber trotzdem vorhanden. Die schrecklichen Folgen des Putsches werden mit militärischen Übergriffen und Folter eindrucksvoll gezeigt.

Das Zwei-Drittel-Register

Am 27. September schwärmte Präsident Cristiani vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York vom salvadorianischen Friedensprozeß. Trotz zunehmender Aktivitäten der Todesschwadronen in den letzten Monaten, die er in seiner Rede selbstverständlich nicht erwähnte, meinte der Präsident, daß der Friedensprozeß “die Grundlagen für das Entstehen einer Kultur der Toleranz und der Versöhnung” geschaffen habe. Auf der anschließenden Pressekonferenz versicherte er großzügig, daß auch ein Wahlsieg der FMLN “vom ganzen Land” – einschließlich der Armee – anerkannt würde. Und da es bei den Wahlen im März 1994 tatsächlich nicht mehr so leicht wie noch in den siebziger Jahren sein wird, die Ergebnisse nachträglich zu fälschen, versucht die Regierung einen Wahlsieg der Opposition schon vor den Wahlen zu verhindern.

FMLN-Basis im Abseits?

Nach den Zahlen des Zensus von 1992 gibt es zur Zeit ca. 2,8 Millionen Menschen im wahlfähigen Alter. Wahlberechtigt ist jedoch nur, wer über einen Wahlausweis verfügt. Ungefähr eine Million Menschen sind noch nicht registriert oder haben ihren Wahlausweis noch nicht bekommen. Die Prozedur, diesen zu erhalten, ist so angelegt, daß möglichst wenige Menschen, die bisher noch nicht gewählt haben, in Zukunft zur Wahl dürfen. Sie würden vermutlich mehrheitlich die Opposition, viele die FMLN wählen. Denn in der Mehrzahl sind es in den letzten Jahren ins Land zurückgekehrte Flüchtlinge, Kriegsvertriebene in den Elendsvierteln der Hauptstadt, oder BewohnerInnen der ehemaligen Konfliktgebiete, wo die FMLN über einen großen Rückhalt verfügt. Viele dieser Menschen haben weder Geburtsurkunde noch Personalausweis, die der Oberste Wahlrat (Tribunal Supremo Electoral, TSE) für die Registrierung fordert. In vielen Fällen ist ihnen nicht bekannt, wo sich die Registrierungsbüros befinden. Und oft ist der Weg dorthin, der auf dem Land nicht selten einen mehrstündigen Fußmarsch bedeutet, umsonst, da irgendwelche Formulare fehlen oder den AntragstellerInnen neue Dokumente abverlangt werden.
Selbst die Vereinten Nationen haben in einem Bericht einer BeobachterInnenmission deutliche Worte gefunden und festgestellt, “daß die bestehende Wahlregistrierung in schwerwiegender Weise ungenügend ist.” Und Peter Romero, Geschäftsträger der US-Botschaft, hatte vor einigen Wochen bekanntgegeben, daß die USA 35 Millionen Dollar an Wiederaufbauhilfe für El Salvador vorübergehend eingefroren haben, um Druck auf den Obersten Wahlrat auszuüben, die Registrierung zu beschleunigen. Regierung und TSE spielen auf Zeit und weigern sich bislang strikt, die Registrierung über den 20. November hinaus zu verlängern, was technisch überhaupt kein Problem wäre.

Auch die Toten dürfen wählen

Zur Zeit existieren noch mehrere Hunderttausend falsche Eintragungen im Wahlregister. War bei den letzten Wahlen ein Name im Personalausweis nicht völlig identisch mit der Eintragung auf der Wahlrolle, durfte die betreffende Person nicht abstimmen. Nach den Zahlen des letztjährigen Zensus sind knapp zwei Millionen Menschen in El Salvador im Besitz eines Wahlausweises, laut TSE gibt es jedoch weit über 2,3 Millionen Ausweise. Dies bedeutet, daß fast 400.000 Wahlausweise doppelt ausgestellt oder längst Verstorbene registriert sind. Noch heute sind mindestens 60.000 Tote wahlberechtigt. Es ist anzunehmen, daß wie in den 70er und 80er Jahren auch im nächsten Jahr mit diesen Ausweisen gewählt wird. Zur Bedeutung dieser Zahlen für einen Wahlbetrug: Bei den letzten Wahlen 1991 wurden lediglich 1,15 Millionen Stimmen abgegeben.
Als den Oppositionsparteien vor einigen Monaten eine Kopie des bestehenden Wahlregisters ausgehändigt wurde, um es auf Fehleintragungen zu untersuchen, fand ein Abgeordneter der Demokratischen Konvergenz seinen eigenen Namen nicht vor. Wahlberechtigt war jedoch Roberto d’Aubuisson, Gründer der ARENA-Partei und langjähriger Organisator der Todesschwadronen in El Salvador. D’Aubuisson ist seit Anfang 1992 tot.

Die Lateinamerika Nachrichten schließen sich dem Aufruf der Infostelle El Salvador zur Unterstützung der FMLN im Wahlkampf an.
Geld regiert die Welt – und wer zwar nicht die Welt, sondern nur das kleine El Salvador regieren will, braucht Geld. Zunächst mal für den Wahlkampf. Da fängt das Problem nämlich schon an mit den “freien und fairen Wahlen” im Kapitalismus. Für die Parteien der Geldsäcke – in diesem Fall die rechtsextreme ARENA – sind die Wahlen allemal frei und fair.

Feminismus -heraus aus dem Untergrund

LN: Welche Frauengruppen bereiten das VI. Frauentreffen vor und wer wird daran teilnehmen?
Mercedes Cañas: An der Vorbereitung sind verschiedene Gruppen beteiligt, in erster Linie die “Concertación (Zusammenschluss) für Frieden, Würde und Gleichheit”. Die “Concertación” wurde 1990 von Frauen aus EI Salvador gegründet, die an dem V. Treffen in Argentinien teilgenommen hatten. Wir suchten eine Alternative zu der herkömmlichen Frauenpolitik, die immer der Parteilinie und den Klasseninteressen untergeordnet war. Dagegen sind frauenspezifische Forderungen Schwerpunkt unserer Politik.
Wir möchten, daß die Frauen, die an dem Treffen teilnehmen, sich mit der feministischen Bewegung auseinandersetzen, sich gegen jede Form der Frauendiskriminierung und des Rassismus wenden und die Teilnahme am Treffen als Teil ihres Kampfes begreifen. Sie sollten die zentralen Ansichten der Feministinnen teilen.

Wenn nur Frauengruppen teilnehmen, die sich als feministisch begreifen,
schließt das nicht viele Frauen aus? Es nehmen keine Gruppen oder Organisationen teil. Bei einem feministischen Treffen ist die Teilnahme individuell. Jede Frau übernimmt für sich selbst die Verantwortung. Für den Feminismus einzutreten, heißt, sich ganz persönlich einzulassen.
Wir haben alle Frauengruppen angesprochen, auch solche, die sich nicht feministisch begreifen, denn in jeder gibt es Feministinnen, Natürlich wissen wir, daß viele Frauen sich noch nicht darüber klar sind, was Feminismus bedeutet; einige Frauen fühlen sich auch nicht als Feministinnen, und trotzdem nähern sie sich jeden Tag mehr an. Wir wollen, daß diese Frauen am Treffen teilnehmen.

Es gibt Kritik an der Organisation, zum Beispiel wegen der Teilnehmerinnenbegrenzung.
Wir bereiten ein Treffen für 1000 Frauen vor. Unsere Vorbereitungsgruppe der Frauen aus Zentralamerika hat sich für diese Teilnahmebegrenzung entschlossen, weil wir wollen, daß das Treffen effektiv verläuft.
In Argentinien kamen ungefähr 2500 Frauen; hinterher hieß es “Das Treffen des Nichttreffens” (siehe auch LN 199). Über 600 Argentinierinnen und Ca. 200 Frauen aus Uruguay nahmen teil. Das war kein lateinamerikanisches und karibisches Frauentreffen mehr, sondern ein südamerikanisches, an dem sich einige Frauen aus anderen Ländern beteiligten. Darum haben wir entschieden, für jedes Land eine Teilnehmerinnenbegrenzung zu setzen.

Ihr nennt Euch “Zentrum für feministische Studien” (CEF). Bedeutet nicht der Begriff Feminismus an sich schon eine Provokation, auch für viele Frauen?
Die feministische Bewegung in E1 Salvador ist noch sehr jung und entsprechend klein. Es gibt erst wenige Frauen, die wissen, was Feminismus heißt. Doch je länger wir den Feminismus im Untergrund halten, um so weniger lernen die Frauen ihn kennen. Für uns ist der Feminismus eine politische Option. So wie andere sich Sozialistinnen, Sozialdemokratinnen, Christdemokratinnen oder Nationalistinnen nennen, bezeichnen wir uns als Feministinnen. Und wir haben einen konkreten Vorschlag für die Zukunft. Wir wollen eine Demokratie für alle, und wir fordern von der Gesellschaft, Pluralität und Unterschiedlichkeit zu respektieren.
Das CEF hat eine Reihe von Aktivitäten durchgeführt, zum Beispiel zur selbstbestimmten Mutterschaft oder zur verantwortungsvollen Vaterschaft, damit die Gesellschaft die feministische Ideologie kennenlernt. Aber es gibt immer noch viele Leute, die erschreckt reagieren, die glauben, Feminismus sei Libertinage, sei Lesbianismus. Wir wollen die Gesellschaft mit unseren Vorschlägen vertraut machen. Nur wenn sie uns zuhören, können sie erkennen, daß unsere Vielfalt Freiheit bedeutet.

Wie sieht das Verhältnis zwischen der Frauen und der feministischen Bewegung aus?
Die feministische, die Frauenbewegung insgesamt ist eine der aktivsten Strömungen in unserer Gesellschaft. Und sie zeigt einen größeren Zusammenhalt als andere Bewegungen, trotz der vielen Widersprüche, die existieren. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung. In den Frauengruppen haben wir darum gekämpft, die wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Aus diesen Gruppen ist die feministische Bewegung entstanden. Das läßt sich nicht so genau abgrenzen, dort sind die Feministinnen und dort nicht. Trotzdem sind beide Bewegungen nicht identisch. Wir Feministinnen haben spezielle Frauenforderungen, z.B. die selbstbestimmte Schwangerschaft, den Kampf gegen Vergewaltigung, gegen Sexismus. Da gibt es Differenzen und Widersprüche.
Oder die Beziehung zu den Lesben. Es gibt in dem Sinn noch keine lesbische Bewegung in E1 Salvador. Aber nach dem Frauentreffen in Nicaragua (siehe LN 215) hat sich ein lesbisches Kollektiv “media luna” (Halbmond) gegründet. Die salvadorianischen Lesben hatten bei dem fünftägigen Treffen in Nicaragua die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen, sich zu identifizieren. Die Lesben sind Teil der feministischen und der Frauenbewegung. Auch wenn sie hier noch keine große Öffentlichkeit haben, und die patriarchalische Ideologie die Gesellschaft noch stark belastet. Doch es passiert etwas, was mich persönlich sehr freut. Das Lesbenkollektiv hat das zweite nationale Frauentreffen, das im Juli stattfand, mit vorbereitet und sich mit verschiedenen Aktivitäten in der Öffentlichkeit präsentiert. Wir haben begonnen, das Recht einzufordern, daß alle Frauen sich öffentlich ausdrücken können.

Wie ist Euer Verhältnis zu den linken Volksorganisationen und zur FMLN?
Ich muß vorausschicken, daß die meisten von uns aus diesem Spektrum kommen. Ich selbst war Militante in einer der FMLN Organisationen. Doch die Mehrheit der Feministinnen hat diese Gruppen verlassen. Ich bin bereits 1990 aus der FMLN ausgetreten, nach 10 Jahren Mitgliedschaft. Als Parteimitglied arbeitete ich in einer Frauengruppe mit. Als ich mehr Autonomie forderte, verweigerte die Partei mir dies. Sie wollten mir meine Schritte immer vorschreiben; das erschwerte mir die Arbeit oft. Mir wurden so Handlungsmöglichkeiten genommen, Türen verschlossen, deshalb dachte ich, es ist besser zu gehen.
Diesen Prozeß haben viele von uns durchgemacht, auch ganze Gruppen wie z.B. die “dignas” (“Mujeres por la dignidad y la vida”, Frauen für die Würde und das Leben), die sich nach schwierigen internen Auseinandersetzungen von der “resistencia nacional” (Nationaler Widerstand, eine der fünf FMLN-Organisationen) löste.
Als wir die Ergebnisse der Friedensverhandlungen lasen, fühlten wir uns hinweggefegt aus der Geschichte, unsere Situation wurde nicht berücksichtigt. Es wurden auch andere Bereiche der Gesellschaft außer acht gelassen, aber wir sind nicht irgendein Bereich, wir sind die Mehrheit der Bevölkerung. Auch im nationalen Wiederaufbauplan, den die FMLN und die Regierung vorlegte, kommen wir nicht vor. Das einzige Mal, wo wir in den Abkommen von New York erwähnt werden, ist bei der Beteiligung an der neuen “Zivilen Nationalpolizei”. Also wir sehen nicht, daß die FMLN unsere Interessen vertritt.

‘Wir sehen nicht, daß die FMLN uns vertritt’

Allerdings will ich nicht übergehen, daß immer mehr Compañeras der FMLN sich mit der Frauenbewegung identifizieren und innerhalb der Partei um ihren Platz in der Hierachie kämpfen und die Interessen der Frauen verteidigen. Zum Beispiel entstand vor gut einem Jahr die Gruppe “Melida Anaya Montes” (MAM), ein Zusammenschuß von Frauen der FPL, die innerhalb ihrer Organisation versuchen, mehr Autonomie zu erlangen und gleichzeitig hinter den Forderungen der feministischen Bewegung stehen.
Die FMLN als politische Partei weist viele Strukturen auf, die sie an anderen Organisationen kritisiert: Hierarchie, autoritäres Verhalten, die Unterordnung von Sektoren, die keine Macht besitzen, obwohl sie vielleicht sogar Mehrheiten in der Bevölkerung stellen.
Während des Krieges verpflichtete die FMLN die Frauenorganisationen, mit denen sie zusammenarbeitete, darauf, ihre Interessen und Forderungen dem revolutionären Prozeß unterzuordnen. Während der Friedensverhandlungen hieß es, nach dem Frieden, jetzt sagen einige, nach den Wahlen ’94, und so wird die Frauenfrage immer vertagt. Doch wir Frauen machen das jetzt nicht mehr mit.

‘Ohne den Krieg könnten wir uns nicht organisieren’

Eine andere Sache ist, daß in der Geschichte E1 Salvadors die FMLN ganz klar eine Alternative zu den traditionellen Bewegungen war. Es muß auch gesehen werden, was die FMLN durch den Kampf in fast 12 Jahren Krieg erreicht hat. Wir wissen, daß es ohne den Krieg keine Möglichkeit gäbe, sich frei zu organisieren. Das ist ein großer Erfolg, Ergebnis des Krieges, dem wir 75.000 Tote und über 10.000Verschwundene geopfert haben. Die Institutionen, die gegründet wurden, zum Beispiel die neue “Zivile Nationalpolizei” (PNC) sind Hoffnungen für die Demokratisierung des Landes, die Verteidigung der Menschenrechte, all das negieren wir nicht. Wir kennen den historischen Prozeß, und wir wissen, welchen Terror wir hinter uns haben.
Doch auch die FMLN hat während des Krieges ihre Macht mißbraucht und in einigen Fällen die Gewehre statt für den Aufbau der Demokratie dazu benutzt, unbequeme Leute zu liquidieren, wie Roque Dalton oder Melida Anaya Montes, aber auch in nicht so bekannten Fällen. Wenn die FMLN sich nicht wirklich verändert in ihrem Denken und ihrer täglichen Politik, könnte sich einiges wiederholen.
Trotzdem finden wir es wichtig, daß die FMLN an den Wahlen teilnimmt; das ist Teil des Demokratisierungsprozesses.Aber wir haben ein kritisches Bewußtsein entwickelt, wir fragen, was ist wirkliche Demokratie.
Das ist meine persönliche Meinung. Es gibt Compañeras, die noch immer in der FMLN sind, die daran glauben, und ich haben keinen Grund, sie zu disqualifizieren.

Letzte Meldung

Anfang Oktober hat die salvadorianische Rechte eine Hetzkampagne gegen das Frauentreffen gestartet. In der rechtsextremen Tageszeitung “Diario de hoy” wurden Anzeigen veröffentlicht, in denen behauptet wird, daß der Kongreß im Auftrag der FMLN stattfände und unmoralisch sei, weil Homosexualität thematisiert wird und und lesbische Frauen nicht von der Teilnahme am Treffen ausgeschlossen werden. Mittlerweile ist die Durchführung des Kongreß gefährdet, da der Besitzer des Tagungshotels in Costa del Sol und umliegende Gästehäuser die Verträge mit der Vorbereitungskoordination gekündigt haben.

“Townley-Bazillus” legt das chilenische Kabinett lahm

ein ins Fettnäpfchen tretender Präsident,
ein kranker Minister,
ein sich vernachlässigt fühlender Minister
diverse betroffene Politiker,
ein gefeuerter sowie mehrere sanktionierte Journalisten.
(Prolog) Nach etlichen Querelen im Vorfeld der Ausstrahlung konnte der staatliche Fernsehsender TVN am Montag dem 16. August mit einer Sensation aufwarten: Ein über zweistündiges Interview mit Michael Vernon Townley, dem Mann, der im Auftrage des ehemaligen Geheimdienstes der Militärdiktatur DINA am 19. September 1976 die Autobombe unter dem Wagen des ehemaligen Außenministers Orlando Letelier installierte, die diesen zwei Tage später mit seiner Mitarbeiterin Ronni Moffitt mitten in Washington in die Luft sprengen sollte. Allerdings hätte das Interview eigentlich schon fast zwei Wochen zuvor, am 4. August, gesendet werden sollen, wurde aber kurzfristig durch ein Unterhaltungsprogramm ersetzt. Was war geschehen?
(1. Auftritt: P. Rojas, Krauss, Correa, ein Telefon.)
Montag zuvor: Das Telefon klingelt beim chilenischen Staatspräsidenten Aylwin: Es ist sein Verteidigungsminister Patricio Rojas, der ihm nahelegt, die Ausstrahlung des Townley-Interviews irgendwie zu verschieben und es nicht gerade 24 Stunden nach seiner mit Spannung erwarteten Ansprache über das weitere Verfahren mit den in Menschenrechtsverletzungen verwickelten Militärs oder Carabineros über die Bildschirme laufen zu lassen. Zudem befinde sich das Verfahren gegen den damaligen Auftraggeber und DINA-Chef Manuel Contreras gerade in einer entscheidenden Phase. Der Urteilsspruch werde in wenigen Wochen erwartet, eine Ausstrahlung zum jetzigen Zeitpunkt und dazu noch durch einen staatlichen Sender könne als offene Einflußnahme gewertet werden. Überhaupt sei es besser, die Beziehungen zwischen Militärs und Regierung möglichst nicht zu strapazieren. Der Christdemokrat dachte offenbar an den “boinazo” vom vergangenen Mai (vgl. LN 229/30), als Pinochet seine militärische Macht demonstrierte und dabei so nebenbei auch die Machtlosigkeit des Verteidigungsministers selbst offenlegte. Allerdings fühlte sich Rojas nicht erst seit diesem Zwischenfall von seinem Präsidenten vernachlässigt. Neidisch mußte er miterleben, wie sein Kabinettskollege von den Sozialisten, der Regierungssekretär im Ministerrang Enrique Correa im Hause Aylwin zunehmend die besseren Karten hatte. Dementsprechend war es wohl ein auch für ihn unerwarteter Erfolg, als er zusammen mit dem Innenminister und Parteifreund Enrique Krauss seinen Chef von seinen Argumenten überzeugen konnte, und zwar entgegen Correas Auffassung, man solle die Entscheidungsgewalt von TVN nicht antasten. Correa bekam dann prompt die unangenehme Aufgabe, dem Fernsehsender TVN den “Wunsch” des Präsidenten zu übermitteln. Fernsehdirektor Jorge Donoso veranstaltete eine Blitzumfrage bei seinen Direktoriumskollegen und die einstweilige Verschiebung der Ausstrahlung des Interviews wurde mit 5:1 beschlossen.
Mittlerweile meldete sich Correa in schlechter Vorahnung erst einmal für ein paar Tage bei Innenminister Krauss krank. Dieses Mal ließ sich Krauss von der Klugheit seines Kollegen überzeugen und fügte 24 Stunden später gleich seine eigene Krankmeldung hinzu. Der “Townley-Bazillus” breitete sich im Kabinett aus. (Correa und Krauss ab.)
Die weise Voraussicht Correas sollte sich auszahlen. Ein Mitglied des für das Interview verantwortlichen Journalistenteams von Informe Especial hatte die Nachricht von der Zensur durch den Präsidenten an seine KollegInnen von der Presse weitergegeben.
(Auftritt: Aylwin.) Im Hause Aylwin brach daraufhin der Erklärungsnotstand aus. In seiner Not verfiel dieser schließlich darauf, seine Intervention als “Petition” zu verkaufen, die immerhin das Recht jeden Staatsbürgers sei. (Er tritt ins Fettnäpfchen.) So recht überzeugen konnte er damit allerdings niemanden und vor allem nicht die JournalistInnen, die sich mittlerweile in immer größerer Zahl mit ihren zensierten Kollegen solidarisch erklärt hatten. Sie konterten mit dem Argument, daß die “Petition” des höchsten Würdenträgers des Staates schwerlich mit der eines gewöhnlichen Bürgers vergleichbar sei.
2. Auftritt (Pinochet, Contreras)
Unterdessen schlug die Polemik bezüglich des Interviews immer höhere Wellen. “?Cuánto le pagaron? – Wieviel haben sie ihm gezahlt?” wollte der Ex-Diktator Pinochet wissen. “Alles Lügen” behauptete der von Townley hauptsächlich beschuldigte Begründer und ehemalige Chef der DINA Manuel Contreras, in dessen Auftrag jener seine Verbrechen begangen hatte. Townley sei ein Feigling und überhaupt arbeite er heute wie damals im Auftrage des nordamerikanischen Geheimdienstes CIA, um den chilenischen Staat und seine Streitkräfte zu unterminieren. Contreras kündigte an, notfalls seine DINA-Informanden zu nennen, von denen in jeder Partei und in den höchsten Kreisen der Regierung viele zu finden seien.
(Jorge Schaulsohn stürzt auf die Bühne.) Genau in diesem Augenblick sah der Abgeordnete der PPD (Partei für die Demokratie in der Regierungskoalition) Jorge Schaulsohn seine Stunde gekommen und schaltete sich in das Geschehen ein: Momentan noch auf Profilsuche für die kommenden Wahlen, verkündete er, daß entgegen den Beteuerungen der Regierung ein Angehöriger derselben das volle Interview von insgesamt 8 Stunden Länge zusammen mit dem Programmdirektor von TVN Jorge Navarrete angesehen habe. Zufällig sei dieser Jemand der Staatssekretär des Verteidigungsministers, Jorge Burgos, dessen Chef wiederum der ist, der um die Verschiebung des Programms gebeten hatte. Spekulationen tauchten auf, daß von Townley in Zusammenhang mit anderen Attentaten benannte Personen sich in höchsten Regierungskreisen befänden und deshalb ungenannt bleiben sollten (allgemeines Getuschel).
Auf Spekulationen war man angewiesen, denn Townley hat in der gezeigten Zwei-Stunden-Version eigentlich nichts Neues offenbart. Vielmehr hat er nur das wiederholt, was er bereits in Miami zwei Vertretern der chilenischen Justiz gegenüber ausgesagt hatte und was in einem BBC-Interview bereits im britischen Fernsehen gezeigt worden war.
3. Auftritt (Correa gegen Contreras)
Unterdessen war Enrique Correa auf das Spielfeld zurückgekehrt. Offen bezeichnete er die DINA als kriminelle Vereinigung. Contreras’ Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Correa sei ein Feigling und obendrein ein unverbesserlicher Marxist, der die Bedeutung des Wortes “Demokratie” immer noch nicht verstanden habe. Die DINA wäre einzig und allein aus Angehörigen der Streitkräfte gebildet worden, was allein sie schon über jeden Zweifel erhaben mache. Die Ehre der Armee wollte nun auch kein anderer Politiker besudeln lassen: Selbst der Sohn des ermordeten Letelier, der Abgeordnete der Sozialisten Juan Pablo Letelier, beeilte sich, die völlige Unabhängigkeit der DINA und ihrer Verbrechen von der Armee zu betonen. Der Name Pinochet wurde von niemandem erwähnt, obgleich er in seiner Eigenschaft als Staatspräsident die Finanzen zu bewilligen hatte, die die DINA für die “Neutralisierung der Hauptwidersacher im Ausland” brauchte. In dem Finanzierungsantrag wurden auch die einzelnen Länder genannt, in denen die Agenten tätig waren. So zum Beispiel Italien, wo ebenfalls im Jahre 1976 der Christdemokrat und ehemalige Stellvertreter von Präsident Frey, Bernardo Leighton schwerverletzt ein Attentat überlebte. Oder Mexiko, wo der Kommunistenchef Volodia Teitelboim und der Ex-Präsidentschaftskandidat Carlos Altamirano einem Mordanschlag nur deshalb entgingen, weil sie für ihre Killer unauffindbar waren. Auch Argentinien wurde genannt, wo ein Jahr zuvor der Vorgänger Pinochets im Oberkommando der Streitkräfte, Carlos Prats, ermordet wurde.
4. Auftritt (Townley: Monolog)
Immer wieder taucht jedoch ein Name auf: Michael Townley. Er gibt zu, Leighton in Italien überwacht zu haben sowie dem Mordkommando in Mexiko angehört zu haben. Das Attentat gegen Prats streitet er nach wie vor ab, obwohl die Beweise eindeutig gegen ihn sprechen. Ändern werden all diese Geständnisse allerdings für ihn persönlich ohnehin nicht mehr viel. Nach fast vier Jahren in einem nordamerikanischen Gefängnis (wegen dem Mord an Leteliers amerikanischer Mitarbeiterin) kam er Anfang der 80er Jahre mit Hilfe der Kronzeugenregelung frei. Offensichtlich versprachen sich die Amerikaner Insider-Informationen über die Exil-Kubaner-Szene in den USA, mit denen Townley nicht nur bei dem Anschlag mitten in der Hauptstadt zusammengearbeitet hatte – und sie dabei ziemlich schlecht aussehen ließ.
Epilog: Zwei Wochen nach der Ausstrahlung des Interviews sind die Wogen schon wieder etwas geglättet, die Schuldigen der ganzen Polemik endlich ausfindig gemacht worden: Der Chef des Informe Especial-Teams ist gefeuert, seine Mitarbeiter sind mit harten Sanktionen bedacht worden. Der Vorwurf: Interna von TVN an die Presse weitergegeben zu haben. Seine KollegInnen von Informe Especial haben sich mit ihm solidarisiert und erwägen rechtliche Schritte. Offensichtlich hat auch der staatliche Sender die Transitionsphase hin zur Demokratie noch nicht abgeschlossen. (Der Vorhang fällt.)

Das Recht auf trial and error in einer Welt ohne Beispiele und Bezugspunkte

“Reform oder revolutionäre Theorie und Praxis in Lateinamerika und Europa” lautete der Titel eines Internationalen Kongresses, den der Verein Monimbó aus Dietzenbach/Hessen in Zusammenarbeit mit Buntstift und der Stiftung Umverteilen organisiert hatte. Ein sowohl vom Alter als auch von den Nationalitäten ziemlich gemischtes Publikum von ungefähr 400 Leuten fand sich am 2. und 3. Oktober in der Frankfurter Uni ein.
Auf dem Podium des Hörsaals V1 saßen und referierten führende Vertreterinnen verschiedener linker Parteien und (ehemaliger) Guerillaorganisationen aus Brasilien, Cuba, Argentinien, Venezuela, E1 Salvador, Guatemala, Nicaragua und Chile. Einer der zentralen Diskussionspunkte war: Ist eine grundlegende Demokratisierung möglich, oder sind die formalen Demokratien, die in den letzten Jahren nach Abdankung der Militärs in Ländern wie Chile, Argentinien, Paraguay oder Brasilien entstanden sind, Fortsetzung der Diktatur mit anderen Mitteln?
Der argentinische Journalist Miguel Bonasso brachte die Fragestellung auf den Punkt: “Die sechziger Jahre waren die Zeit der revolutionären Bewegungen. In den siebziger Jahren kamen die Militärdiktaturen, die in den Achtzigern von formalen Demokratien abgelöst wurden. Was werden die neunziger Jahre bringen? Kommt jetzt wieder eine Phase der autoritären Staatsformen á la Fujimori in Peru, oder gibt es Möglichkeiten für linke Reformprojekte?” Die Kompetenz der lateinamerikanischen ReferentInnen konnte nicht über eine grundlegende Schwäche des Kongresses hinwegtäuschen: Die Zusammensetzung des Podiums spiegelte nicht gerade die Vielfalt der lateinamerikanischen Linken wieder, sondern nur deren parteipolitische Variante. Abgesehen von der Diskussionsleiterin Dorothee Piemont und Monica Baltodano von der FSLN waren Frauen lediglich in ihrer klassischen Funktion als Übersetzerinnen präsent.

Chance vertan: Soziale Bewegungen und Beiträge des Publikums waren kaum erwünscht

Auf die Anwesenheit von VertreterInnen sozialer Bewegungen war offenbar kein Wert gelegt worden, obwohl gerade diese in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika entscheidende Impulse für eine Erneuerung linker Programmatik gegeben haben. Und so blieb es einer Lateinamerikanerin aus dem Publikum vorbehalten, darauf hinzuweisen, daß es mittlerweile auf kontinentaler Ebene zahlreiche Treffen und Zusammenschlüsse von Frauengruppen, Umweltverbänden, Bauernorganisationen, Schwarzen und indigenas gibt, die ja nicht zuletzt in der Kampagne gegen die offiziellen 500 Jahr-Feiern im vergangenen Jahr eine entscheidende Rolle spielten.
Was die Stimme der bundesdeutschen Linken auf dem Kongreß anging, war es fast schon grotesk, mit Wolf-Dieter Gudopp vom “Verein Wissenschaft und Sozialismus” einen Vertreter ausgerechnet jener orthodoxen, kopflastigen und verknöcherten Variante von Sozialismus eingeladen zu haben, die an der ideologischen Krise der Linken einen entscheidenen Anteil hat.
“Auch ich bin von der Begeisterung für Dinosaurier angesteckt.”Dieses modische Lippenbekenntnis Dorothee Piemonts bezog sich auf ihre These, daß der Kapitalismus auf Dauer nicht überlebensfähig sei. Mindestens genauso gut hätte dieser Satz jedoch auf das anachronistische Gestaltungskonzept des Kongresses gepaßt: An zwei Tagen wurde vor vollem Hörsaal eine Frontalveranstaltung sondergleichen abgezogen: Die meisten Redebeiträge lagen dem Publikum als deutsche Übersetzung vor. Aus “Zeitmangel” wurden fast alle Referate ohne Direkt-Übersetzung auf Spanisch abgelesen -eine Methode, die auf einen Teil des Publikums einschläfernd wirkte, während andere frustriert und wütend reagierten: “Da hätte ich mich ja besser mit dem Reader zuhause hinsetzen können.”
Für den Dialog mit der Basis blieb -“leider, leider” -wie die Diskussionsleitung immer wieder bedauerte -so gut wie keine Zeit. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Chance vertan, die Perspektiven der lateinamerikanischen Linken in größerer Runde zu diskutieren. Auch die gegenwärtige Krise der bundesdeutschen Linken -und eventuell vorhandene Erneuerungskonzepte -wurde kaum reflektiert, geschweige denn diskutiert.

Revolutionärer Pragmatismus: Drei Mahlzeiten täglich für alle

Die lateinamerikanische Linke sieht sich zur Zeit mit politischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die neben einer langfristigen Perspektive auch ein konkretes Handeln erfordern: Ein Blick auf die politische Landkarte des Subkontinentes zeigt, daß die Situation in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich ist, daß es schwerfällt, allgemeine Prognosen zu treffen. Von einer Entwicklung sind allerdings fast alle Staaten betroffen: Mit dem rigiden Durchsetzen neoliberaler Wirtschaftsprogramme hat sich die Situation für den Großteil der Bevölkerung weiter verschlimmert und die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Das Kürzen öffentlicher Ausgaben im sozialen Sektor und im Bildungsbereich und die Privatisierungen staatlicher Unternehmen haben immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Heute ist es für viele Basisbewegungen in Ländern wie Peru oder Brasilien eine zentrale Forderung, den Hunger und das Massenelend zu beseitigen.
Wenn in seinem Land durchgesetzt werden könnte, daß die gesamte Bevölkerung dreimal täglich zu essen bekäme, so Nildo Domingos von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT), wäre dies angesichts der jetzigen Situation schon eine revolutionäre Errungenschaft. Gleichzeitig sieht auch er die Gefahr, sich in tagespolitischen Forderungen aufzureiben: “Die Linke war bis vor kurzem zu dogmatisch. Nun ist sie zu pragmatisch.”
Mit dem Vorwurf eines zu großen Pragmatismus, der “Sozialdemokratisierung”, wurde auf dem Kongreß in Frankfurt insbesondere der Vertreter der FMLN aus E1 Salvador, Shafik Hándal, konfrontiert. Die ehemalige Guerilla, die Anfang letzten Jahres nach zwölfjährigem Kampf einen Friedens-und Demokratisierungsvertrag mit der Regierung aushandelte, hat gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden März die Regierung zu übernehmen. Das Programm, mit dem die FMLN antritt, konzentriert sich auf eine grundlegende politische Demokratisierung und Entmilitarisierung der salvadorianischen Gesellschaft. Es sieht eine Stärkung genossenschaftlicher Eigentumsformen vor, will jedoch gleichzeitig die Marktwirtschaft erhalten. Gegenüber KritikerInnen betonte Handal: “Ob die Demokratie sich am Ende als eine bürgerliche, rein formale, oder als eine substantielle herauskristallisieren wird, ist eine offene Frage. Wir von der FMLN bestehen auf unserem grundlegenden Recht auf die Methode des trial and error in einer Welt, die uns weder Beispiele noch Bezugspunkte bietet.”
Neben der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit ist ein anderes zentrales Problem in vielen Ländern die Rolle des Polizei-und Militärapparates als Repressionsorgan und die Existenz paramilitärischer Todesschwadrone. Gerade die aktuelle Entwicklung des Friedensprozesses in E1 Salvador läßt daran zweifeln, ob sich diese Kräfte tatsächlich mit friedlichen Mitteln entmachten lassen -von einer systematischen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen ganz zu schweigen.

Der ‘Geist Bolivars’ -Trugbild oder politische Vision?

Auf dem Kongreß wurde deutlich, daß die meisten linken Parteien Lateinamerikas zur Zeit in erster Linie damit beschäftigt sind, Perspektiven auf nationaler Ebene zu entwickeln -mit unterschiedlichen Konsequenzen. Zwar wurde immer wieder die Notwendigkeit beschworen, sich auf kontinentaler Ebene zusammen-zuschließen und auch mit linken Bewegungen aus Afrika oder Asien zu kooperieren. Der “Geist Simón Bolivars”, des antikolonialen Befreiungskämpfers aus dem vorigen Jahrhundert, schwebte nicht nur in Form eines riesigen bemalten Transparentes über den Köpfen der Diskutierenden. Es wurde betont, daß es allein schon aufgrund der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und der Interventionspolitik der westlichen Industriestaaten nicht möglich sei, den “Sozialismus in einem Land zu realisieren -siehe die Beispiele Kuba und Nicaragua. Durch den Niedergang des “realexistierenden Sozialismus” haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren weiter verschlechtert. Dazu Eleuterio Huidobro von der ehemaligen Guerilla und jetzigen Partei der “Tupamaros” aus Uruguay: “Früher sahen wir die Alternativen Sozialismus oder Faschismus. Heute ist eine dritte Alternative aufgetaucht, die sich besonders in einigen afrikanischen Ländern oder in Osteuropa zeigt: das Chaos.”
Trotzdem war die Stimmung auf dem Kongreß von Optimismus gedämpften Optimismus gekennzeichnet: Immerhin haben in einigen Ländern Lateinamerikas linke Projekte in den letzten Jahren an Boden gewonnen und deren VertreterInnen könnten in absehbarer Zeit Regierungsaufgaben übernehmen, beispielsweise in E1 Salvador, Brasilien oder Uruguay. Ein anderes sehr interessantes Projekt -in Deutschland bisher noch recht unbekannt -ist die “Causa R in Venezuela (vgl. LN 226):Diese Bewegung versucht, dem staatlichen Establishment eine dezentrale, basisdemokratische Gegenmacht entgegenzusetzen. Mit beachtlichem Erfolg: Mittlerweile stellt die “Causa R” unter anderem den Bürgermeister der Hauptstadt Caracas.
Was die politischen Programme angeht, sind die LateinamerikanerInnen zwar bereit, auch mit deutschen Linken zu diskutieren, wehren sich aber gegen Bevormundung. Dazu Huidobro aus Uruguay: “Es wäre wünschenswert, wenn sich die Deutschen mehr um ihre Probleme hier kümmern. Wir würden auch gerne in Lateinamerika ein Kommitee zur Unterstützung der Revolution in Deutschland gründen.”

Die Revolution ist von jeglichem Idealismus geheilt

LN: Am 26. Juli wurde der Dollarbesitz für Kubaner offiziell erlaubt. Fidel Castro sprach bei der Verkündigung dieser Maßnahme nicht mehr von der Rettung des Sozialismus und des Vaterlandes, sondern nur noch von der Bewahrung der Errungenschaften der Revolution. Können nur kapitalistische Maßnahmen Kuba aus der schwersten Krise seiner Geschichte retten?
Abel Prieto: Diese Änderung des politischen Diskurses hat selbstverständlich etwas mit den derzeitigen Umwandlungen zu tun, und mit dem sozialen Preis, den einige unserer Maßnahmen mit sich bringen werden. Fidel hat in seiner Rede vom 26. Juli einen Begriff benutzt, den es bisher in der kubanischen Revolution nicht gegeben hat, das Wort Konzession. Die Devisenfreigabe ist eindeutig auf die Leute ausgerichtet. Das ist eine der Ursachen für die Glaubwürdigkeit des politischen Diskurses der Revolution, daß offen mit den Leuten geredet wird, daß offen gesagt wird, daß es sich dabei um ein Zugeständnis handelt. Und das ist gleichzeitig das Drama im Augenblick. Wir haben nur einen Weg: entweder wir kapitulieren oder wir versuchen, mit Zugeständnissen, Tricks und kapitalistischen Rezepten die Errungenschaften des Sozialismus, die Gleichheit so weit wie möglich zu bewahren.

Wie können also die Errungenschaften der Revolution bewahrt werden, wenn die Mittel, die Kuba derzeit zur Verfügung stehen, derart beschränkt sind? Es gibt viele Ärzte, aber es fehlt an Medizin. Womit sollen die Schulbildung und die Gesundheitsversorgung für alle finanziert werden?
Wir wollen auf den Gebieten weitermachen, auf denen wir angefangen haben und die bekannt sind: Tourismus, Biotechnologie, pharmazeutische Industrie, Nickel, Suche nach eigenen Ölvorkommen, traditionelle Exportgüter wie Zucker, Tabak usw. Durch eine möglichst gerechte Verteilung der Einnahmen aus den herkömmlichen wie aus den neuen Wirtschaftsbereichen wollen wir erreichen, daß eben diese Errungenschaften am wenigsten Schaden nehmen. Das ist unsere Idee, und das widerspricht natürlich einer Schocktherapie oder einer drastischen Anhebung der Preise. Wenn wir das Problem des öffentlichen Personenverkehrs dadurch lösen, daß wir in Übereinstimmung mit dem Ersatzteil- und Benzin
mangel die Preise erhöhen – wen treffen wir damit? Das Problem ist z.B. auch, daß es auf der Straße viel Geld gibt, das aber nicht gleichmäßig verteilt ist. Es wird von 11 Monatslöhnen gesprochen, die auf der Straße zirkulieren und für die es kein Angebot gibt. Das ist aber überhaupt nicht gleichmäßig verteilt, es gibt Leute mit sehr niedrigem Einkommen. Es ist also große Vorsicht geboten. Die Unterstützung der politischen Führung beruht im wesentlichen darauf, daß die Leute merken, daß das Wenige, was es in diesem Land z.Zt. gibt, gerecht verteilt ist.

Aber wird nicht gerade das Prinzip der gleichmäßigen Verteilung, eins der Grundprinzipien der kubanischen Revolution, durch die neue Dollarpolitik unterhöhlt?
Der Dollar war ja illegal bereits im Umlauf. Durch die Legalisierung des Dollarbesitzes kannst du erreichen, daß die Leute mehr schicken. Die Gleichheit, ein Campesino lebt beispielsweise nicht
genauso wie jemand in der Stadt. Es gibt Campesinos, die ½ Million Pesos auf der Bank haben, zwei oder drei Autos, einen LKW, sie haben immer Benzin, denn sie kaufen es auf dem Schwarzmarkt, wo sie alles kaufen können. Wir haben bereits mit einer gewissen Ungleichheit gelebt. Ich bin mit der Einschätzung einverstanden, daß die jüngsten Maßnahmen größere Unterschiede hervorrufen werden. Unsere Herausforderung ist, entweder zu kapitulieren bzw. alles, was wir geschafft haben, dem Sturm der Revanchisten in Miami zu überlassen, den Faschisten, die es auch gibt und deren Ziele in ihrem Diskurs offensichtlich werden, oder mit diesen Zugeständnissen zu leben: Oder glaubst du, der Tourismus ist unter diesen Bedingungen nicht hochgradig schädlich für die Bevölkerung? Glaubst du, das hat nicht seinen Preis? Die ganzen Auslandsinvestitionen, all das hat seinen Preis.

Das bedeutet letztlich, daß zwar einige Errungenschaften des Sozialismus zu retten sind, aber der Sozialismus als System kaum Überlebenschancen hat. Heißt das, zu einem möglichst sozialen Kapitalismus zurückzukehren?
Wir werden beispielsweise nicht auf den Staatsbesitz an den wichtigsten Produktionsmitteln verzichten. Wir gründen zwar joint-venture-Unternehmen, aber wir werden keinen Ausverkauf des Landes zulassen. Wir werden Privatisierungen vornehmen, das Gesetz des Marktes anwenden, wir werden andere Wege im vorgegebenen Rahmen suchen. Die andere Alternative wäre die Kapitulation. Die Dichotomie, die sich uns bietet, ist so einfach, daß sie brutal, hart, extrem hart ist. Entweder wir retten ein Projekt, das abgeschliffen werden kann, das an einigen Stellen entarten kann, oder wir kapitulieren. Mit der zweiten Alternative würden wir alles verlieren, die Alternative der Kapitulation bedeutet einen abhängigen Kapitalismus in diesem Land.

Bis jetzt haben wir über wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen geredet. Nun kommen wir zur rein politischen Ebene. Manche Beobachter vergleichen Kuba mit China, weil es sehr wohl eine ökonomische Liberalisierung gibt, die allerdings nicht von einer gleich schnellen politischen Liberalisierung begleitet ist. Stimmt dieser Vergleich zwischen beiden Ländern, abgesehen von den unübersehbaren Unterschieden, die es natürlich gibt?
Ich war in China. Das war eine hochinteressante Erfahrung, was die Chinesen machen. Sie sind auf wirtschaftlichem Gebiet nicht wesentlich weiter. Ich glaube, der Vergleich hinkt aus vielen Gründen. U.a. gibt es in Kuba noch eine historische Führung, nämlich die der Revolution, während es in China nur noch ein paar Überlebende der historischen Führung gibt. Wir führen alle Veränderungen mit der historischen Führung durch, mit einer Partei, deren Vorstand aus mehreren Generationen zusammengesetzt ist. Es ist interessant zu sehen, wie hier in Kuba versucht wurde, die Präsenz verschiedener Generationen in der Führung der Staatspartei zu gewährleisten.

Trotz dieser aus mehreren Generationen zusammengesetzten poltischen Führung hat einer großer Freund der kubanischen Revolution, Eduardo Galeano, vor kurzem gesagt: “Die kubanische Revolution erlebt eine zunehmende Spannung zwischen den in ihr enthaltenen verändernden Energien und ihren versteinerten Machtstrukturen.” Was halten Sie von dieser Einschätzung?
Diese Kritik kommt zwar von einem großen Freund der kubanischen Revolution, aber ich glaube nicht, daß die Machtstrukturen versteinert sein können. Das hat sich zum Beispiel gerade in der Nationalversammlung gezeigt, in den Veränderungen, die dort stattgefunden haben, in ihrem neuen Arbeitsstil.

Was bisher eher ein Versprechen denn die Realität ist.
Ich denke, das ist schon Wirklichkeit. Die Nationalversammlung wird natürlich kein Erdöl finden. Wenn die Nationalversammlung schließlich Öl finden würde, wäre das vielleicht eine solche Realität? Es ist kein Wunder geschehen, aber es handelt sich um einen neuen Arbeitsstil, die Führungs- und Arbeitsstile haben sich auf Regierungs- und Kommunalebene sehr wohl gewandelt. All dies, diesen veränderten Arbeitsstil, sieht man deutlicher auf kommunaler Ebene und v.a. außerhalb von Havanna als in der globalen Politik. Ich glaube nicht, daß man da nicht von einer versteinerten Macht- und Regierungsstruktur sprechen kann. Unter den jetzigen Bedingungen des Drucks und der Feindseligkeiten von außen können wir allerdings, und ich glaube, Galeano weiß das sehr genau, die Einheit nicht opfern, das können wir nicht auf’s Spiel setzen. Jede Veränderung zur Verbesserung des politischen Systems in Kuba, damit es besser läuft, damit es eine wirksamere Mitbestimmung gibt, muß erfolgen, ohne diese Einheit zu gefährden. … Wir müssen sehr vorsichtig agieren, sowohl auf ökonomischem als auch auf politischem Gebiet. Wir können uns keine Krise erlauben.

Aber die wirtschaftliche Krise ist schon da …
Ja, wir dürfen uns keine politische Krise erlauben. Wir dürfen den Amerikanern keinen Vorwand liefern, sonst drücken sie uns eine humanitäre Invasion auf. Wir müssen hart daran arbeiten, daß die Leute die Situation verstehen, unsere Maßnahmen nachvollziehen können. Die Leute werden zu dem Schluß kommen, daß sich einige tatsächlich bereichern können, aber in dem Maße, wie sich die Wirtschaft erholt, auch die große Mehrheit der Bevölkerung Nutzen davon haben wird. Um auf die Frage zurückzukommen, man muß mit Vorsicht, Intelligenz, Weisheit vorgehen, denn wir dürfen keine Anarchieäußerung zulassen, hier darf es keine Anarchie geben. Dieser Prozeß muß sehr vorsichtig und umsichtig erfolgen.

Die erste Konzession der kubanischen Revolution seit 1959!
Nein, sie wird nur zum ersten Mal im politischen Diskurs angewendet.

Dann zumindest das weitestgehende Zugeständnis, das die kubanische Revolution jemals gemacht hat.
Es ist zumindest eins der deutlichsten, der schmerzhaftesten Zugeständnisse, weil damit offiziell – inoffiziell war das ja schon so – zwei Klassen von Kubanern anerkannt werden. Es gibt jetzt zwei Kategorien von Kubanern. Das bewirkt einen moralischen Schaden, dafür müssen wir einen moralischen Preis bezahlen. Es entsteht eine neue Form der Ausrichtung, einerseits auf den Konsum und andererseits auf den Mangel. Das führt dazu, daß sich die Leute auf ganz verschiedene Arten prostituieren, nicht nur so wie die Prostituierten auf der Va Avenida, es gibt auch eine Art intellektueller ‘jineteros’, die auch die Hotelhallen belagern, um an Einladungen heranzukommen, um aus dem Land herauszukommen oder ein paar Dollars zu verdienen. Der einzige Ausweg ist die Überwindung der Krise.

Carlos Lage sagt, er sieht noch kein Licht am Ende des Tunnels. Können Sie Licht erkennen?
Wir wissen bisher noch nicht, wie lang der Tunnel ist. Ich glaube sehr wohl, daß wir aus ihm herauskommen werden. Ich weiß weder wann, noch auf welchem Weg. Aber wir werden wieder herauskommen. Zunächst ist die kubanische Revolution von jeglichem Idealismus geheilt. Wir wissen nun, daß der neue Mensch bedauerlicherweise in weiter Ferne ist.

Bei den Wahlen vom Februar, die eher ein Plebiszit waren, zeigte sich, daß es eine Gruppe von DissidentInnen im Land gibt, die z.B. für keine/n der KandidatInnen und damit gegen das System gestimmt haben. Welche Rolle kann diese Gruppe in der kubanischen Gesellschaft spielen? Wenn die Kommunistische Partei die nationale Partei ist, was geschieht dann mit denjenigen, die nicht innerhalb dieser Partei sein möchten oder können? Welchen Spielraum haben die DissidentInnen in Kuba?
Im Augenblick keinen, sie haben keinen Spielraum.

Das bedeutet aber, daß ein Teil der Bevölkerung, wenn auch ein kleiner, nämlich rund 10%, ausgeschlossen bleibt.
Erstens bieten diese Leute keine Lösung. Zweitens ist es eine kleine Minderheit, die es aber sehr wohl gibt.

Bei den letzten Wahlen in Deutschland stimmte ein ähnlich großer Teil der Bevölkerung, nämlich rund 10%, für systemkritische Parteien, d.h. Kommunisten, Sozialisten, Grüne, der ganze Rest wählte die Parteien, die uneingeschränkt für das System stehen.
Diese Leute haben dieselbe Chance wie ein Kommunist, der in den USA Präsident werden will. Was hätte er für eine Chance mit einem kommunistischen Projekt? Keine! Diese Gruppe hat die reelle Chance, sich als Kandidat für die Delegierten der Basis aufstellen zu lassen. Diesmal haben sie sich nicht einmal aufstellen lassen. Wenn diese Minderheit einen politischen Spielraum fordert, dann müssen sie es nach unseren Spielregeln tun. Und unter diesen Spielregeln werden sie schwerlich Chancen haben. Es ist eben nicht alles darauf vorbereitet, daß Elizardo in die Nationalversammlung einzieht. Dazu muß er viele Hindernisse überwinden, denn unser politisches System ist ausgehend von der Vorstellung entworfen worden, daß die Revolutionäre die Situation beherrschen.

FMLN-KandidatInnenkürmarathon

Am 5. September gab es nach langer Zeit mal wieder etwas zu feiern für die Linke in El Salvador. Die FMLN präsentierte auf ihrem ersten nationalen Kongreß ihre KandidatInnen für die Wahlen am 20. März nächsten Jahres. Schön bunt und laut war es, die Musik gut und die Stimmung der ca. 10.000 Anwesenden prächtig. Vergessen war – zumindest für einen Tag – die innere Zerstrittenheit der noch vor kurzem größten Guerillabewegung Lateinamerikas. Es wurde Einigkeit demonstriert.

Der holprige Weg zur Kandidatenkür

Umso beschwerlicher war der Weg zu diesem Wahlkongreß, der mehrmals verschoben wurde. Begonnen hatte der Streit, nach dem die FPL, die größte der fünf Mitgliedsorganisationen, im Mai offiziell ihre Unterstützung für Rubén Zamora bekanntgegeben hatte und aus den eigenen Reihen für Facundo Guardado als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft Werbung machte. Rubén Zamora ist Vizepräsident des salvadorianischen Parlaments und Vorsitzender der Sozialchristlichen Volksbewegung (MPSC), der größten Partei der Dreierallianz Demokratische Konvergenz (CD), die ihn bereits als eigenen Präsidentschaftskandidaten nominiert hatte. Der Kandidatur von Zamora und Guardado lag die Idee zu Grunde, eine eindeutig linke Alternative zur Präsidentschaftskandidatur des rechten Hardliners der Regierungspartei ARENA, Armando Calderon Sol, zu präsentieren.
Vor allem ERP und RN, die beiden FMLN-Organisationen, die seit einiger Zeit einen klaren Bruch mit dem marxistischen Ursprung der FMLN vollzogen haben, protestierten gegen eine Kandidatur Zamoras, da er als ehemaliger Verbündeter der FMLN als Linker verschrien und so für viele Wähler und Wählerinnen nicht akzeptabel sei. Stattdessen präsentierte das ERP den Christdemokraten Abraham Rodriguez als eigenen Wunschkandidaten. Rodriguez verfügt zwar als Mitglied der Ad-Hoc-Kommission, die im letzten Jahr im Auftrag der Vereinten Nationen die von den Militärs im Krieg begangenen Menschenrechtsverletzungen untersucht hatte, über moralische Autorität, unterlag jedoch bei der Kandidatenwahl der Christdemokratischen Partei (PDC) am 23. Mai dem PDC-Vorsitzenden Fidel Chavez Mena. Damit waren Abraham Rodriguez’ Chancen auch innerhalb der FMLN gesunken.

Eine Explosion in Nicaragua erschüttert El Salvador

Am selben Tag legte die Explosion in einer Autowerkstatt in Managua ein riesiges Waffenlager der FPL frei und begrub die mögliche Kandidatur von Facundo Gardado. Nachdem die FPL erst einmal ihre Verantwortung für das Waffenversteck leugnete und Facundo Guardado zusammen mit dem FPL-Vorstandsmitglied Salvador Samayoa die Wogen in Managua zu glätten versuchte, mußten sie nach einer Woche kleinlaut dann doch zugeben, daß die Waffen ihrer Organisation gehörten. Die Rechte im US-Senat setzte einen Stop der Finanzhilfe für Nicaragua durch, da in diesem Land der internationale Terrorismus gefördert würde – was unter anderem aus angeblich in der Autowerkstatt gefundenen Dokumenten hervorgehen soll -, und die Regierung in Managua, einschließlich des sandinistischen Armeechefs Humberto Ortega, versuchte sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie über die FMLN/FPL herfiel und Anklage gegen Guardado und Samayoa erhob. Mittlerweile hat die nicaraguanische Regierung sogar einen Auslieferungsantrag an die salvadorianische Regierung gegen die beiden FPL-Vertreter gestellt.

Die UNO leistet der Regierung Wahlkampfhilfe

Die salvadorianische Regierung war natürlich heilfroh über die Explosion in Managua, da nun endlich auch einmal die FMLN sich eines schweren Verstoßes gegen den Friedensvertrag schuldig gemacht hatte und sie von ihren Verstößen ablenken konnte – was ihr auch vorzüglich gelang, zumal sie Schützenhilfe vom UN-Generalsekretär Boutros Ghali bekam, der das Waffenlager “als bisher schwersten Verstoß gegen den Friedensprozeß” brandmarkte. Daß dies offensichtlicher Unsinn ist, schmälert die propagandistische Verwendung seitens der ARENA-Regierung keineswegs.
Doch zurück zur KandidatInnenwahl bei der FMLN. Der Streit, wer denn der/die “richtige” KandidatIn sei, zog sich noch mehrere Wochen hin und machte den Riß, der durch die FMLN geht, immer deutlicher. Während sich ERP und RN völlig auf Rodriguez fixiert hatten, mochte die FPL nicht von Zamora lassen. Der Versuch einer Konsenslösung scheiterte, nachdem sich zwar alle fünf Organisationen auf den parteiunabhängigen Héctor Dada Hirezi (vgl. das folgende Interview) einigten, dieser jedoch ablehnte. Erst nach der einstimmigen Entscheidung für ihn war bei der FMLN jemand auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, ob er überhaupt bereit sei, für das höchste Amt im Staate zu kandidieren. Blieben nur noch Zamora und Rodriguez als mögliche Kandidaten. Mittlerweile hatten sich mit der Kommunistischen Partei (PCS) und der PRTC die anderen beiden FMLN-Organisationen auf Zamora festgelegt, und so kam es zu einer knappen Mehrheitsentscheidung von drei zu zwei zugunsten von Rubén Zamora. Zumindest hatten sich alle fünf Organisationen bereits vorher dazu verpflichtet, die Entscheidung zu akzeptieren.
Doch damit waren die internen Rangeleien noch nicht beendet, galt es schließlich noch die Vizepräsidentschaftskandidatur und die sicheren Listenplätze für die Parlamentswahlen festzulegen. Jede der fünf Organisationen wollte möglichst viele eigene Kandidaten und Kandidatinnen auf den vorderen Plätzen unterbringen. Zwischenzeitlich forderte das ERP als Ausgleich für die verlorene Abstimmung von Abraham Rodriguez die Hälfte der Abgeordneten für sich ein. Bei der Auswahl war dementsprechend manchmal das Proporzdenken wichtiger als fachliche Kompetenz und persönliche Ausstrahlung.

Ein Christdemokrat kandidiert für die FMLN

Mit der Aufstellung des 76jährigen Fancisco Lima für die Vizepräsidentschaft ist der FMLN auf jeden Fall eine Überraschung gelungen. Francisco Lima hatte dieses Amt bereits von 1962 bis 1967 unter dem Oberst Julio Rivera ausgeübt und ist heute einer der bekanntesten und angesehensten Anwälte El Salvadors. Zuletzt hatte er die Verteidigung von Facundo Guardado und Salvador Samayoa wegen der Explosion in Managua übernommen. Daß er der gemeinsame Kandidat von FMLN und CD würde, war jedoch kaum zu erwarten. Lima war erst vor einigen Monaten der Christdemokratischen Partei beigetreten, um seinen Freund Abraham Rodriguez bei den parteiinternen Vorwahlen zu unterstützen. Nach dessen Niederlage hatten die Anhänger von Rodriguez der “Parteimafia” um Fidel Chavez Mena Wahlbetrug vorgeworfen, Francisco Lima zog sich enttäuscht aus der Politik zurück. Nun muß er erst einmal das Parteibuch der PDC wieder zurückgegeben, das salvadorianische Wahlgesetz erlaubt nämlich keine Kandidatur bei anderen Parteien, wenn es nicht zu einer Wahlallianz kommt.
FMLN und CD erhoffen sich von Francisco Limas Kandidatur Stimmen aus dem Zentrum, die sie auch dringend brauchen, wollen sie bei den Wahlen im März eine Chance haben. Diese wahltaktische Überlegung könnte aufgehen, da Lima sicher von den wenigsten verdächtigt wird, ein Linker zu sein und allgemein als unbestechlicher Anwalt gilt. Lima hat denn auch auf dem Kongreß der FMLN angekündigt, “die Bekämpfung der Korruption” zu einer seiner Hauptaufgaben zu machen. Dementsprechend verschreckt reagierte die Regierungspartei: der ARENA-Abgeordnete Mario Valiente urteilte über Lima: “Er war schon immer als Anwalt der Subversiven bekannt.”
Abgesehen vom wahltaktischen Vorteil birgt Francisco Limas Kandidatur jedoch die Gefahr eines weiteren Identitätsverlustes für die FMLN, die nun gänzlich auf eine eigene Kandidatur verzichtet hat, wie es von mehreren FMLN-VertreterInnen noch im August gefordert wurde. Auch wenn die FMLN mittlerweile auf weitgehende Forderungen zur Umgestaltung der salvadorianischen Gesellschaft verzichtet hat, wird es ihr nun noch schwerer fallen, ein eigenes Profil zu entwikkeln und sich als reale Alternative für die Menschen in El Salvador zu präsentieren.
Vor allem an der Basis der FMLN wurde in letzter Zeit die Unzufriedenheit über “die da oben” in der Partei immer deutlicher. Einerseits hatten sie den monatelangen Streit um Personen satt, andererseits fordern sie zu Recht ein, daß die Partei mehr für die Belange der eigenen Leute tun sollte.

Die Regierung verhindert die Landverteilung

Der Friedensprozeß geht gerade in der Frage der Versorgung der Ex-KämpferInnen besonders langsam voran. Die Regierung verzögert bewußt die Übergabe von Land an die FMLN-Mitglieder und die Zivilbevölkerung in den Konfliktgebieten. Bis August waren noch nicht einmal zehn Prozent des Landes, das zwischen FMLN, Regierung und Vereinten Nationen ausgehandelt worden war, verteilt. Dazu kommt, daß in letzter Zeit die Todesschwadronen wieder verstärkt agieren und bereits einige FMLN-Mitglieder ermordet wurden, die FMLN-Spitze aber entweder gar nicht, oder wie bei der Ermordung von Oscar Humberto Grimaldi am 19. August eher zaghaft reagiert. Es steht zu befürchten, daß die Todesschwadronen, deren Strukturen in der Armee durch den Friedensprozeß nicht aufgelöst wurden, im Wahlkampf noch mehr Morde und Attentate begehen werden – auch, um wie schon früher ein Klima des Terrors zu erzeugen und der Bevölkerung klarzumachen, daß es für sie sicherer ist, wenn der Ultrarechte Calderon Sol neuer Präsident des Landes wird. Begünstigt wird dieses Klima, da die Ergebnisse der Wahrheitskommission (Vgl. LN 226) weitgehend vergessen sind und das Militär wieder aus der Defensive gekommen ist (siehe Kasten).

Kasten:

Wer zuletzt lacht, lacht am besten!

Die Säuberung der salvadorianischen Armee fand nicht statt

Ende Juni wurden 18 wichtige Posten in den Streitkräften neu besetzt. Die Säuberungen, die im Friedensvertrag festgelegt worden waren, gelten damit als abgeschlossen. Die meisten Offiziere, die die Armee jetzt verließen, waren im Bericht der Ad-Hoc-Kommission vom September 1992 und/oder im Bericht der Wahrheitskommission vom März 1993 als Verantwortliche schwerster Menschenrechtsverletzungen genannt worden (beide Kommissionen sind Resultat des Verhandlungsprozesses zwischen Regierung und FMLN). Die wichtigste Veränderung ist die Ablösung von Emilio Ponce, bislang Verteidigungsminister. Er hatte zum Beispiel den Befehl für die Ermordung von sechs Jesuiten im November 1989 gegeben.
Die Ablösung der Offiziere geriet jedoch zur Farce: vor ihrer Versetzung “in den einstweiligen Ruhestand”, den sie erst einmal unter Weiterbeziehung eines Teils ihres Soldes genießen dürfen, wurden Ponce und drei weitere Generäle noch zu “Divisionsgenerälen” befördert. Wobei es ein eher unbedeutendes Detail ist, daß es in den salvadorianischen Streitkräften gar keine Divisionen gibt – die größte militärische Einheit sind Brigaden. Der Skandal ist auch nicht, daß ihre Ruhestandsbezüge sich damit noch weiter erhöht haben – fast alle hohen salvadorianische Offiziere haben nach 30 Dienstjahren genug Geld veruntreut, um einen luxuriösen Lebensabend zu verbringen. Wirklich schlimm und ein nachträglicher Hohn für die unzähligen Opfer der Militärs ist, daß diese Leute mit allen Ehren verabschiedet wurden und sich für ihr Handeln nie mehr werden verantworten müssen, nachdem die rechte Parlamentsmehrheit im März dieses Jahres ein allgemeines Amnestiegesetz verabschiedet hat: eine spätere Strafverfolgung ist ausgeschlossen. Es fällt schwer. dem die unvorstellbare Tatsache hinzuzufügen, daß Ponce mittlerweile zum Direktor der staatlichen Telefongesellschaft ANTEL ernannt worden ist, ein Posten, der in El Salvador traditionell an altgediente Militärs vergeben wird, die ihren Hunger nach Geld und Macht noch immer nicht gestillt haben.
All dies wäre sicherlich leichter hinzunehmen, wenn wenigstens die neuen Befehlshaber die Hoffnung zuließen, jetzt könnte es eine wirkliche Erneuerung der salvadorianischen Streitkräfte geben. Doch zu dieser Hoffnung gibt es wenig Anlaß. Da ist zum Beispiel der neue Verteidigungsminister Humberto Corado Figueroa, der seinen neuen Posten dem Vertrauen verdankt, das er bei Präsident Cristiani genießt. Er wurde unter anderem in Paraguay und Taiwan ausgebildet. Persönlich ist er für mehrere Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Morden verantwortlich. Zur Ermordung der sechs Jesuiten im November 1989, in die er selbst nicht verwickelt war, meinte er kurz nach dem Massaker: “Sie hatten den Tod verdient.” Zum neuen Oberbefehlshaber der Luftwaffe wurde Juan Antonio Martínez Varela ernannt, der für seine extrem rechte Position bekannt ist (genauso wie sein Vater Oberst Martínez Varela, der zur Zeit Innenminister ist). Ihm wird unter anderem vorgeworfen, daß er in den internationalen Drogenhandel verwickelt sei. Als er im letzten Jahr Kommandeur der Luftwaffenbasis von Comalapa war, wurden von dort mehrere 500-Pfund-Bomben an das Drogenkartell von Cali verkauft. Er löst Héctor Lovo ab, von dem gesagt wird, daß er im September und Oktober 1992 mehrere Putschversuche der Streitkräfte verhindert habe.
Beunruhigend ist auch, daß die Todesschwadronen wieder verstärkt agieren. Es ist mittlerweile allgemein bekannt, daß sie organisatorisch bei dem dem Generalstab unterstellten Geheimdienst DNI und den “S 2-Abteilungen” der verschiedenen Militär- und Polizeieinheiten angesiedelt waren. Im Laufe des Friedensprozesses wurde der DNI offiziell aufgelöst und der neue Geheimdienst Oficina de Inteligencia del Estado (OIE) gegründet, der dem Präsidenten unterstellt ist, also eigentlich unter ziviler Kontrolle steht. Chef des OIE ist der frühere Pressesekretär des Präsidenten, Mauricio Sandoval. Dieser erklärte jedoch vor einiger Zeit in einer Sitzung der Friedenskommission COPAZ: “Der OIE funktioniert nicht. Ein Teil des Personals (des DNI) kam zum OIE, der Rest wurde an andere Stellen versetzt.” Sie kamen zum Batallón de Inteligencia Militar (BIM), dem neuen wiederum beim Generalstab angesiedelten militärischen Geheimdienst, der laut Friedensabkommen gar nicht existieren dürfte. Beim Generalstab blieben auch alle Personen- und Organisationsdaten, die im DNI seit dessen Gründung 1982 gesammelt wurden.
M.K.

“In einem Land, dessen Wahlen vom Ausland überwacht werden, gibt es keine Demokratie”

LN: Die ARENA-Regierung macht seit vier Jahren eine Politik, die sich gegen die Armen im Land richtet. Wieso gibt es nicht mehr Proteste gegen diese neoliberale Politik?
Dada Hirezi: Weil die Auswirkungen der Regierungspolitik durch andere Faktoren abgefedert werden. Vor allem durch das ganze Geld, das aus dem Ausland kommt. Nach offiziellen Zahlen überweisen die SalvadorianerInnen, die im Ausland leben, jedes Jahr über 900 Millionen Dollar an ihre Familien. Dazu kommt das Geld der Nichtregierungsorganisationen, internationale Hilfsgelder für den Wiederaufbau und die Dollars, die hier “gewaschen” werden. Außerdem erwarten die Menschen eh nichts mehr von der Regierung, die Ermüdung von dem langen Krieg ist ein weiterer Faktor.

Aber während des Krieges war die soziale Bewegung doch auch sehr stark. Die Menschen gingen auf die Straße, obwohl es gefährlich war…
Sie war gar nicht so stark an sich, der Krieg hat ihr Stärke gegeben. Heute fehlt ihr die Orientierung, sie weiß nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist. Und in der FMLN gibt es Leute, die neoliberaler als die Privatunternehmer auftreten. Joaquín [Villalobos, Chef der FMLN-Organisation ERP; die Red.] hat bei einer Rede fast wörtlich gesagt, “Neoliberalismus und Sozialismus sind fast das gleiche”. Da weiß auch die soziale Bewegung nicht mehr, wohin.

Auch die FMLN scheint wie gelähmt. Weshalb?
Die FMLN hat ihr großes historisches Projekt verloren: den Triumph der Revolution. Es ist sehr schwierig für sie, ihren Platz in der neuen Gesellschaft zu finden. Dazu kommt, daß es fünf Organisationen mit unterschiedlichen ideologischen Positionen sind. Die FMLN muß sich von einer militärisch-politischen Organisation in eine politische Partei verwandeln und sich ein neues historisches Projekt suchen. Beide Prozesse gleichzeitig zu durchlaufen, ist enorm schwierig – noch dazu in so kurzer Zeit.

Würde dieser Prozeß der FMLN leichter fallen, wenn die Wahlen nicht schon im März 1994 wären?
Das weiß ich nicht. Die ganzen Zeiträume des Friedensprozesses sind zu abrupt. Ein Beispiel dafür sind die Waffen [die von Mai bis Juli in Managua und an anderen Orten entdeckt wurden; die Red.]. Der Zeitplan war einfach zu kurz gehalten. Niemand kann von einer Guerilla, die aus Mißtrauen gegenüber bestimmten Leuten zu den Waffen gegriffen hatte, erwarten, daß sie so einfach alle Waffen abgibt, wenn die gleichen Leute wie damals noch an der Macht sind. Wobei die Frage der Waffen auch ein gutes Bild der FMLN zeigt: sie hat den Krieg beendet, weil sie zu der Überzeugung kam, daß der Krieg beendet werden muß, und nicht etwa, weil sie keine Waffen mehr gehabt hat.

Glauben Sie nicht, daß die FMLN in der Frage der Waffen zu defensiv reagiert hat?
Zweifelsohne. Die FMLN ist in die Defensive geraten, weil alle über sie hergefallen sind. Wie zum Beispiel der UN-Generalsekretär, der eine Ungeheuerlichkeit (barbaridad) gesagt hat: “Der Waffenfund ist die bisher schlimmste Verletzung des Friedensvertrages”. Auch das Verhalten von General Humberto Ortega ist für mich ziemlich unverständlich. Jetzt ist die FMLN in eine tragische Situation geraten, aber sie hat sich in dieser Frage auch nicht sehr klug verhalten.

Wie schätzen Sie die Chancen der Linken bei den Wahlen ein ?
Noch vor einem halben Jahr hätte ich gesagt, daß die Linke in diesem Moment eine große Chance hat. Heute bin ich mir da schon nicht mehr so sicher. Die Gefahr besteht, daß die Linke, wie schon öfter in der Geschichte El Salvadors und auch anderer Länder, diesen großen historischen Augenblick nicht nutzen kann. Die FMLN hat ihr Projekt verloren und glaubt, daß sie auch keine Ideologie mehr hat. Es gibt Leute in der FMLN, die meinen, die FMLN dürfe nicht mehr links sein, um die Unternehmerkreise, die heute auf Seiten von ARENA stehen, zu gewinnen. Das ist falsch. Um glaubwürdig zu sein, muß die Linke bei den Wahlen auch als Linke auftreten. Niemand, der sich selbst verstellt, kann Vertrauen erwecken. Außerdem kann sie mit linken Positionen besser mit der Rechten verhandeln.

Ist Rubén Zamora der richtige Kandidat für die Linke?
Ich denke, Rubén ist der richtige Kandidat. Ein Präsidentschaftskandidat muß Macht haben wollen, das ist auch völlig legitim. Und Rubén Zamora will an die Macht. Problematisch ist die Form, wie es zu seiner Kandidatur kam. Aber auch wenn es in den FMLN-Spitzen einige Leute gibt, die ihm nicht vertrauen, so hat er doch den Rückhalt der Basis der FMLN.

Und wie steht es um die Rechte, da gibt es doch auch wichtige Veränderungen. Bedeutet die Kandidatur des ARENA-Vorsitzenden Calderon Sol das Ende des Modernisierungsprozesses der salvadorianischen Rechten?
Das Projekt der Rechten ist noch nicht klar definiert. Aber daß mit der wirtschaftlichen Modernisierung auch die Demokratisierung einhergeht, war noch nie das Projekt der Rechten, weder von ARENA, noch von Cristiani. Viele Leute meinen, Cristiani sei ein Demokrat. Für mich ist Cristiani ein autoritärer Politiker mit gutem Benehmen (buenas modales) und einer großen Fähigkeit, im richtigen Augenblick zu verhandeln und Zugeständnisse zum geeigneten Zeitpunkt wieder zurückzunehmen.

Aber Calderon Sol ist doch noch weniger demokratisch…
Der Unterschied zu Cristiani ist, daß Calderon Sol kein gutes Benehmen hat. Aber es darf nicht vergessen werden, daß Cristiani die Kandidatur von Calderon Sol durchgesetzt hat. Er hat ihn vorgeschlagen, als ARENA Anfang Februar eine Statue von Roberto d’Aubuisson [dem Gründer von ARENA und langjährigen Organisator der Todesschwadronen in El Salvador; die Red.] einweihte. Cristiani sagte bei dieser Feier, Calderon Sol sei der einzige bei ARENA, der das Erbe von d’Aubuisson verwalten könne und deshalb neuer Präsident des Landes werden solle. Calderon Sol ist ein Kompromiß zwischen den verschiedenen Fraktionen, die es innnerhalb von ARENA gibt.

Hat die Demokratie eine Chance in El Salvador, wenn Calderon Sol die Wahlen gewinnt?
Das hängt davon ab, wie die Zivilgesellschaft auf die Regierung von Calderon Sol reagiert. Er glaubt nicht an die Demokratie. Aber er hat auch einen Vorteil: selbst die Rechte vertraut ihm nicht, sie hätte lieber einen anderen Präsidenten. Aber vieles ist einfach noch zu unklar. Dieses Land befindet sich in einem enormen Veränderungsprozeß. Die meisten Menschen meinten, daß es jetzt bereits Demokratie gebe und es vor allem darum ginge, die Einhaltung des Zeitplans des Friedensvertrages zu überwachen. Und es wurde vergessen, die Zivilgesellschaft zu stärken und ihre Organisationen untereinander zu vernetzen, um einen Gegenpol zur herrschenden Politik zu bilden.

Der Begriff Zivilgesellschaft ist ziemlich in Mode in El Salvador. Alle reden von der Zivilgesellschaft, dabei ist es ziemlich konfus, was damit gemeint wird…
Richtig. Es wird übersehen, daß die Menschen sich auch in der Zivilgesellschaft nach ihren eigenen Interessen gruppieren. Also die ArbeiterInnen gegen die Interessen der Unternehmen und umgekehrt und so weiter. Ein Problem ist, daß die Institutionen der Zivilgesellschaft noch sehr schwach sind, zuviel hängt noch von der Intervention internationaler Organisationen ab, deren Rolle aber immer schwächer wird, ohne daß es bereits salvadorianische Institutionen gäbe, die ihre Aufgaben übernehmen können. Es gibt mittlerweile einen Staatsanwalt für die Überwachung der Menschenrechte, aber nach wie vor ist ONUSAL [die UNO-Organisation, die den Friedensprozeß überwachen soll; die Red.] in diesem Bereich viel wichtiger. ONUSAL soll auch die Wahlen überwachen. Wir haben noch keine Institutionen, die wie in anderen Ländern dafür sorgen, daß die demokratischen Spielregeln eingehalten werden. In einem Land, dessen Wahlen vom Ausland überwacht werden, gibt es keine Demokratie. Es gibt in El Salvador einen Demokratisierungsprozeß, aber noch keine Demokratie. Die Zukunft der Demokratie in El Salvador ist ungewiß. Eine Rechtsregierung nach den Wahlen im nächsten Jahr würde fast sicher eine Rückkehr zum Autoritarismus bedeuten.

Ein Aymara im totalen Gonismus

Zwischen den Basketballkörben im Coliseo Cerrado in La Paz brennt ein Feuer. Indigene Würdenträger umschreiten es und werfen Cocablätter und andere Gaben hinein, während unter dem Beifall von tausenden von Zuschauern eine Delegation nach der anderen die Halle betritt. Überall wehen die farbenprächtigen Fahnen des Tawantinsuyu, des untergegangenen Reiches der Inkas. Auf vier Sesseln sitzen zwei Männer und zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für Gonzalo Sanchez de Lozada, aufgewachsen in den USA, ist das Zeremoniell fremd. Immer wieder muß Victor Hugo Cardenas ihm Erklärungen und Anweisungen geben. Daneben die Damen: Ximena Iturralde de Sanchez de Lozada hat sich mit folkloristischen Applikationen auf dem lila Kleid auf das Ambiente eingestellt. Auf der anderen Seite sitzt Lidia Katari de Cardenas in
“manta y pollera”, der traditionellen Kleidung der Aymara-Frauen von La Paz, auf dem Kopf die Melone, symbolhaft für das gewachsene Selbstbewußtsein der Indígenas.
Zum ersten Mal nach 168 Jahren wurde am 5.August eine neue Regierung von Delegationen der indigenen Völker Boliviens als legitim anerkannt, vor wenigen Jahren noch ein undenkbarer Vorgang in einem Land, in dem die indigene Bevölkerungsmehrheit im formalen politischen System fast nie präsent war. Trotz aller farbenprächtigen Trachten geriet die Veranstaltung dabei nie zur folkloristischen Show. Der Vertreter aus Tarabuco bei Sucre im leuchtend roten Poncho trat mit der Aktentasche unter dem Arm auf, eine Delegierte aus dem Tieflanddepartement Beni trug zum Festtagskleid eine Plastiktüte mit unbekanntem Inhalt, und die abgetragenen Anzüge der Vertreter aus Oruro waren unter ihren Ponchos deutlich sichtbar. Den Anwesenden ging es nicht um ein Revival von angeblich “authentischen” Bräuchen, sondern um die symbolische Demonstration der Hoffnung auf ein plurikulturelles Bolivien in der Gegenwart. Die Präsenz der guatemaltekischen Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu machte darüberhinaus deutlich, daß es nicht nur um einen abgelegenen Andenstaat, sondern um Perspektiven auch für die Indígenas in anderen Ländern Lateinamerikas geht.
Victor Hugo Cardenas ist ein Aymara-Intellektueller, der sich bis zum Professor für Erziehungswissenschaften und Linguistik an der staatlichen Univerität von La Paz hochgearbeitet hat. Er ist Vorsitzender der “Revolutionären Befreiungsbewegung Tupac Katari” (MRTKL), die mit der alten Revolutionspartei von 1952, der “Nationalrevolutionären Bewegung” (MNR) Sanchez de Lozadas ein Wahlbündnis geschlossen hat. So sehr die Entscheidung Gonis von wahlstrategischen Erwägungen bestimmt gewesen sein mag, hat er mit der Wahl Cardenas zu seinem Partner auch eine politische Option geöffnet. Der MRTKL ist nicht die einzige Partei aus der kataristischen Bewegung, die ihren Namen vom Führer eines Indígenaaufstandes Ende des 18.Jahrhunderts ableitet. Radikalere kataristische Gruppen idealisieren die vorkolonialen indigenen Gesellschaften und fordern die gewaltsame Vertreibung der “Weißen”, um ein rein indigenes Bolivien aufzubauen.
Cardenas dagegen steht für friedliche Reformen, um Staat und Gesellschaft Boliviens für die Indígenas zu öffnen. Jetzt, wenige Wochen nach seiner Wahl zum Vizepräsidenten, hat er die überwältigende Mehrheit der Indígenas hinter sich, während die radikaleren kataristischen Gruppen kaum politisches Gewicht haben. Allerdings haben Sanchez de Lozada und Cardenas außerordentlich große Hoffnungen geweckt. Wenn die Mehrheit der Indígenas in den kommenden Jahren den Eindruck gewinnt, von einer Regierung betrogen worden zu sein, die ihren Vizepräsidenten als Marionette zappeln läßt, stellt sich die Frage nach ihren Reaktionen. Sie werden sich kaum wieder in solchem Ausmaß für eine Regierung in La Paz mobilisieren lassen. Nicht umsonst erinnerten die Autoritäten der indigenen Völker die Gewählten am 5. August an Zarate Willka, den Führer des letzten großen Indígenaaufstandes in Bolivien im Jahr 1899. Der damalige Präsident Pando hatte ihn erst zu seinem Bündnispartner gemacht und ihn und seine Bewegung kurze Zeit später mit Waffengewalt besiegt. Sanchez de Lozada hat durch seine Entscheidung für Cardenas eine Dynamik in Gang gesetzt, von der er eingeholt werden könnte, wenn er sie nicht ernst nimmt.

Stabilität um jeden Preis

“Gonismus” gibt es nicht erst seit dem 6.August. Gonismus steht für die bolivianische Wirtschaftspolitik seit 1985. Damals war Sanchez de Lozada noch unter dem alten Präsidenten und Revolutionsführer Victor Paz Estensoro als Planungsminister der Architekt der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Auch in der Zeit von 1989 bis 1993, als der MNR in der Opposition war, änderte sich nichts Wesentliches am wirtschaftspolitischen Kurs. Alle bekannten Folgen neoliberaler Wirtschaftspolitik waren und sind in Bolivien spürbar. Viele staatliche Minen sind schon seit Jahren geschlossen, ganze Städte in den Minengebieten sind fast ausgestorben. Die offenen Grenzen sorgten dafür, daß viele bolivianische Betriebe der Billigkonkurrenz aus dem Ausland nicht mehr standhalten konnten. Aber Gonismus heißt für die BolivianerInnen auch Stabilität, heißt Rückgang der Inflation von 23.000% in den Jahren 1984/85 auf bescheidene 10%. Und nicht zuletzt steht Gonismus für politische Stabilität. Bolivien hat am 6.August zum dritten Mal in Folge einen verfassungsgemäßen Regierungswechsel erlebt. Von links bis rechts wird gefeiert, daß Bolivien nicht mehr das Land der unzähligen Militärputsche ist. Goni kann darüberhinaus mit dem Pfund seines persönlichen Ansehens wuchern. Er gehört zu den wenigen Politikern, denen die Abneigung gegen Korruption abgenommen wird, abgesehen davon, daß er als Millionär die Korruption persönlich ohnehin nicht nötig hat. Im Wahlkampf war die Korruption ein zentrales Thema, denn unabhängig von der politischen Ausrichtung herrschte Einigkeit darüber, daß unter der letzten Regierung von Jaime Paz und Ex-Diktator Hugo Banzer die Korruption im Staatsapparat nie gekannte Ausmaße angenommen hat.
In der öffentlichen Meinung bis weit hinein in die Opposition gegen Superstar Goni herrscht die Angst vor dem Risiko, die relative Stabilität wieder zu verlieren. Alle wissen, daß die Rahmenbedingungen der bolivianischen Wirtschaftspolitik nicht in La Paz, sondern in Washington gesetzt werden. So sehr Intellektuelle und auch einige GewerkschafterInnen die Abhängigkeit des Landes kritisieren, haben sie doch die gescheiterten Experimente anderer Wege vor Augen: der chaotische Antiimperialismus Alan Garcías in Peru und die eigene Erfahrung mit der Regierung Siles Zuazo zwischen 1982 und 1985. Die Spitze des Gewerkschaftsdachverbandes COB macht massiv Front gegen die neoliberale Politik, aber ihr politisches Gewicht hat seit dem Zusammenbruch der Macht der Minenarbeiter stark abgenommen. Ihre Haltung ist defensiv: Hauptforderung ist der Stop der Privatisierungen. Aber Vorschläge, wie die hyperbürokratisierten Verwaltungsapparate der staatlichen Großbetriebe sinnvoller arbeiten könnten, sind Mangelware. Ersatzweise bedient man sich umso lieber flammender antiimperialistischer Rhetorik. Deren Glaubwürdigkeit allerdings bewegt sich bei der großen Mehrheit der BolivianerInnen nahe dem Nullpunkt.

Beliebte und Beleidigte: Gonis Koalitionstango

Sanchez de Lozada brauchte Koalitionspartner, um sich zum Präsidenten wählen zu lassen. Sein MNR hatte im Bündnis mit Cardenas MRTKL zwar die Wahlen mit Abstand gewonnen, zur absoluten Mehrheit hatte es aber nicht gereicht. In Bolivien gibt es keinen zweiten Wahlgang zwischen den beiden stärksten Kandidaten. Entscheidend ist, wer im Parlament eine Mehrheit zustande bekommt. Die Verlierer der Wahl schieden als potentielle Koalitionspartner aus. Die “Linksrevolutionäre Bewegung” (MIR) des scheidenden Präsidenten Jaime Paz hatte sich in vier Jahren an der Macht ebenso verbraucht wie die “Nationalistische Demokratische Aktion” (ADN) des ehemaligen Diktators Hugo Banzer. Banzer muß nach seiner dritten Wahlniederlage jetzt einsehen, daß er in Bolivien nicht mehrheitsfähig ist.
Drei mögliche Partner blieben: die kleine moderat linke “Bewegung Freies Bolivien” (MBL), eine Abspaltung des MIR, und dazu zwei schillernde Figuren der politischen Szenerie. Carlos Palenque machte sich die größten Hoffnungen auf den Zugang zur Macht. Mit Hilfe seines Fernsehkanals in La Paz hat er vor allem bei den städtischen Aymaras viele Stimmen bekommen, denn im “Canal 4” kommen sie zu Wort. Marktfrauen dürfen fernsehöffentlich ihr Leid über die Probleme des Alltags klagen, um sich dann väterlich vom Compadre Palenque in pastoral getragenen Worten Trost spenden zu lassen. Seit 1988 hat Palenque seine eigene Partei “Bewußtsein des Vaterlandes” (CONDEPA), die inzwischen in La Paz und in der Schwesterstadt El Alto die Bürgermeister stellt. Die Popularität von CONDEPA ist zweifellos Ausdruck des Drangs der städtischen Aymaras nach eigener politischer Repräsentation. Als politische Partei ist CONDEPA aber vor allem Vehikel auf dem Weg der populistischen Vaterfigur Palenque zur Macht. Durch Programmatik ist CONDEPA bisher ebensowenig aufgefallen wie Max Fernandez mit seiner UCS (Bürgerunion Solidarität). Der Brauereibesitzer machte mit sehr viel einfacheren Mitteln Wahlkampf: Lastwagenweise wurde Bier in die Dörfer geschafft und dazu das Blaue vom Himmel versprochen. In einem Fernsehinterview glänzte er mit einer Standardantwort auf nahezu jede Frage: “Wir werden das Problem analysieren und die für das bolivianische Volk beste Lösung finden.” Noch vor einem Jahr wurde Fernandez als möglicher Präsident gehandelt, bei der Wahl mußte er sich allerdings ebenso wie Palenque mit rund 13% der Stimmen begnügen.
Überraschenderweise findet sich Fernandez jetzt in der Regierungskoalition mit MNR, MRTKL und MBL wieder, während Compadre Palenque beleidigt vor der Tür bleibt. Der einfache Grund: Fernandez stellte Sanchez de Lozada weniger Bedingungen, was die Besetzung von Posten und Pöstchen angeht. Wichtig für die politische Szenerie der nächsten Jahre ist daran vor allem, daß der paternalistische Ethnopopulismus Palenques einen Dämpfer bekommen hat. Aus der Regierung heraus hätte er seine Klientel bedienen können, eine zentrale Bedingung für stabile Popularität. Jetzt bleiben ihm die wichtigen Bürgermeisterämter als Machtbasis. Es fragt sich, wie lange noch. Im Dezember finden Kommunalwahlen statt, und der erfolgreiche CONDEPA-Bürgermeister von La Paz, Julio Mantilla, wird bereits heftig von anderen Parteien umworben.

Holpriger Start

Sanchez de Lozada hatte nicht das glücklichste Händchen in seinen ersten Wochen an der Macht. Großartig war die Verkleinerung der Bürokratie mit der Reduzierung des Apparates auf zehn Ministerien angekündigt worden. Dafür nimmt nun die Zahl der Sekretariate und Subsekretariate auf über 30 zu. Die drei neuen Superministerien für “wirtschaftliche Entwicklung” (Wirtschaft, Planung und Finanzen), “soziale Entwicklung” (Soziales, Gesundheit, Erziehung, etc.) und “nachhaltige Entwicklung” (Landwirtschaft, Coca, Umwelt u.a.), in denen viele alte Ministerien aufgegangen sind, bieten bis jetzt ein chaotisches Bild. Bemerkenswert ist die Besetzung dieser Schlüsselministerien. Die drei Amtsinhaber, Fernando Illanes, Fernando Romero und Guillermo Justiniano, sind Unabhängige aus hohen Wirtschaftskreisen. Wirtschaftssuperminister Illanes zum Beispiel war Unternehmerpräsident. Sanchez de Lozada setzt darauf, die Wirtschaftseliten des Landes in seine Regierung einzubinden. Das Verteidigungsministerium ging an den UCS-Vertreter Antonio Cespedes, das Außenministerium an den MBL-Chef Antonio Aranibar. Letzterer bekam schon in der zweiten Woche im Amt einen Vorgeschmack auf seine Rolle als “Linker” im Kabinett: Notgedrungen mußte er der Einreise von 25 US-Beratern in Sachen Drogenbekämpfung zustimmen, noch im Wahlkampf ein absolutes Tabu für ihn und seine Partei.
Nachdem das Fest des Regierungswechsels vorbei ist, werden die Nachrichten aus dem Regierungspalast von Personalentscheidungen und ersten Koalitionsquerelen beherrscht. Victor Hugo Cardenas wird sich den erhofften politischen Einfluß in der Regierung erkämpfen müssen. Fatal für ihn und für Bolivien wäre, wenn das Vizepräsidentenamt bliebe, was es in den letzten Jahren war: Abschiebebahnhof für nicht mehr benötigte Bündnispartner.

Wahrheit und Gerechtigkeit – ?Dónde están?

Die “doctrina Aylwin”, die der neue Präsident bald nach Amtsantritt zur Grundlage der Menschenrechtsprozesse erklärte, stellte jedoch das Amnestiegesetz nicht in Frage. Sie schrieb Untersuchungen und Gerichtsverfahren bei darauffolgender Anwendung der Amnestie vor. Schon damals wurde deutlich, daß es keine Gerechtigkeit geben würde. “Wahrheit und Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” heißt heute die Zauberformel, die einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ermöglichen soll.
In einer Rede an die Nation stellte der Präsident am 3. August einen Gesetzesvorschlag zur Beschleunigung der 183 noch schwebenden Menschenrechtsverfahren vor. “Selbstverständlich wird die von mir vorgeschlagene Lösung nicht alle zufriedenstellen”, bekannte Aylwin. Den Zielen, die das Militär mit seinem “boinazo” vom Mai (vgl. LN 229/3O) anstrebte, kam die ursprüngliche Version der “Ley Aylwin” jedoch fast vollständig entgegen. Auf die Ablehnung der Vorlage durch das Parlament reagierte der Präsident, indem er seinen Entwurf zurückzog, ohne die Stellungnahme im Senat abzuwarten. Die von den Militärs erhoffte erneute Bestätigiung des Amnestiegesetzes von 1978 bleibt so vorerst noch aus.

“Klima der Hexenjagd”

Die Wochen, die der Rede Aylwins vorangingen, waren angefüllt mit Unterredungen zwischen dem Staatsoberhaupt und – zumindest nach der offiziellen Lesart – den wichtigsten an der Menschenrechtsfrage interessierten Gruppen. Besonders den Generälen schenkte der Präsident seine Aufmerksamkeit, während sich die Kommunistische Partei vergeblich um einen Gesprächstermin bemühte. Die Gespräche wurden unter strikter Geheimhaltung geführt, so daß die Gerüchteküche brodelte. Im sicheren Gefühl, mit dem “boinazo” für nachhaltige Verunsicherung gesorgt zu haben, forderte das Militär den “punto final”, die Einstellung aller noch schwebenden Menschenrechtsverfahren. Die einflußreiche rechte Tageszeitung “El Mercurio” meldete, die Regierung denke ernsthaft über einen “punto final” nach. Die Öffentlickeit war auf das Schlimmste vorbereitet, so daß die Aussage Aylwins, diesen niemals zuzulassen, als Standfestigkeit gegenüber den Militärs verkauft werden konnte. Dabei kam das Gesetzesprojekt des Präsidenten einem Zurückweichen auf der ganzen Linie gleich.
Bereits bei der Begründung seiner Initiative machte sich Aylwin die Argumente der Miltärs zu eigen und rechtfertigte damit den “boinazo”. Die schleppende juristische Behandlung der Menschenrechtsverletzungen lasse die nationale Versöhnung nicht zu. Die Vorverurteilung von Militärangehörigen durch die Massenmedien und die öffentliche Meinung habe ein Klima der “Hexenjagd” erzeugt und innerhalb der Streitkräfte zu großer Verunsicherung geführt, die sich schließlich im “boinazo” entladen habe.
Das Interesse der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen reduzierte Aylwin darauf, den Fundort der Leichen zu ermitteln, um diese dann bestatten zu können. Daß nicht nur die Angehörigen jedoch auch ein Interesse an der öffentlichen Aufklärung der Verbrechen und an einer Bestrafung der Schuldigen haben, verschwieg er. “Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” bedeutet Leichensuche, um dann endlich die Akten schließen zu können. Der Zynismus dieser Argumentationsweise offenbarte sich vollends darin, daß Aylwin sämtliche Betroffenen dazu aufforderte, sich im Interesse der nationalen Versöhnung in die Lage der Gegenseite zu versetzen. Eine Mutter, die seit fast zwanzig Jahren verzweifelt nach dem Verbleib ihrer Tochter forscht, soll sich also in die Lage eines folternden Militärs versetzen?

Der “punto final” als Alternative zum “punto final”

Zu den wichtigsten Maßnahmen des Gesetzesprojektes gehört die Berufung von SonderrichterInnen, die sich der schwebenden Verfahren annehmen sollen, um sie zu beschleunigen. Um Militärangehörige zur Aussage über den Fundort von Leichen zu bewegen, versprach Aylwin sowohl die Geheimhaltung der Namen als auch der Tatumstände. Nach Ansicht des juristischen Beraters des Präsidenten, Guzmán Vidal, besteht ein moralischer Anreiz für Militärs, an der Aufklärung mitzuarbeiten. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Streitkräfte sei durch Verfehlungen Einzelner untergraben worden. Warum dieselben Militärangehörigen, die die Möglichkeit der anonymen Beichte gegenüber einem Geistlichen nicht wahrgenommen haben, heute ihr Schweigen brechen sollten, bleibt allerdings unklar. Die Geheimhaltung, die Gegenstand des Artikels 3 der “Ley Aylwin” ist, soll gewährleistet werden, indem der Zugang der AnwältInnen von Familienangehörigen zu Zeugenaussagen durch richterliche Entscheidung geregelt wird. Die öffentliche Bekanntgabe dieser Aussagen soll mit Gefängnisstrafe und Entzug der Anwaltslizenz geahndet werden. Dem Anspruch auf eine öffentliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur, der von den Opfern und ihren Angehörigen eingefordert wird, wird diese Beschränkung der Pressefreiheit und die drohende Maßregelung von AnwältInnen jedenfalls nicht gerecht.
Aus Protest gegen die Politik der Regierung riefen Menschenrechtsorganisationen und Angehörige von Verschwundenen zu Protestkundgebungen und Hungerstreiks auf. Unter Berufung auf Gesetze, mit denen unter der Militärdiktatur das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit eingeschränkt wurde, löste die Polizei Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast auf. Wasserwerfer stellten sich protestierenden RentnerInnen entgegen. Infolge des Knüppeleinsatzes wurden mehrere von ihnen verletzt und stundenlang auf Polizeiwachen festgehalten, ohne medizinisch versorgt zu werden. Die Hungerstreiks diffamierte Innenminister Enrique Krauss als “völlig unzulässigen Versuch, die Regierung unter Druck zu setzen”.

“Ley Aylwin” – ein schlampig ausgearbeitetes Projekt

In den Tagen nach der Rede Aylwins wurde vor allem eines klar: Die Gesetzesinitiative war so vage gehalten, daß alle Interessengruppen unterschiedliche Interpretationen anbieten konnten. Das Gesetz sollte eine Gültigkeit von zwei Jahren haben. Unklar blieb jedoch, ob sich diese Zeitspanne auf die Berufung von SonderrichterInnen bezog oder auf die Behandlung der Fälle. Gilt die Zusicherung der Geheimhaltung für alle Aussagen oder nur für verwertbare? Erstreckt sich der “Vertrauensschutz” nur auf ZeugInnen oder auch auf Beschuldigte? Nehmen sich die SonderrichterInnen nur der gegenwärtig 183 unter Zivilgerichtsbarkeit laufenden Fälle an, oder auch der bereits zu den Akten gelegten Altfälle sowie der Verfahren, die die Militärjustiz untersucht? Können Militärrichter Sonderrichter werden? Die Auseinandersetzung, ob die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit angetastet werden soll, hat insofern neue Brisanz erhalten, als Militärrichter Verfahren einstellten, während über das “Ley Aylwin” diskutiert wurde.
Die meisten der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts, der “Corte Suprema”, wurde noch unter Pinochet ernannt und machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, Chile habe sich in den Jahren nach 1973 im Kriegszustand befunden. Dies dient heute als Begründung dafür, daß Menschenrechtsverfahren zivilen Gerichten entzogen und an Militärtribunale weitergeleitet werden.

Spannungen in der “Concertación”

Unterschiedliche Interpretationen sowie die Tatsache, daß Aylwin dem Parlament seine Gesetzesvorlage mit Dringlichkeit präsentierte, führten zum offenen Konflikt innerhalb der Regierungskoalition, der “Concertación”. Die Sozialistische Partei (PS) und die “Partei für die Demokratie” (PPD) drängten vergeblich darauf, den Beratungszeitraum auszudehnen. Es erregte innerparteiliche Streitigkeiten, daß die VertreterInnen von PS und PPD in der Verfassungskommission des Parlaments gemeinsam mit den ChristdemokratInnen eine leicht modifizierte Gesetzesvorlage verabschiedet hatten. Die vorgenommenen Veränderungen bezogen sich vor allem auf den Geheimhaltungsparagraphen. Diese Modifikationen gingen den Abgeordneten von PS und PPD jedoch nicht weit genug. Als die Vorlage schließlich im Parlament zur Abstimmung gestellt wurde, verweigerten die Abgeordneten von PS und PPD ihre Stimmen. Im ersten Wahlgang, der sich auf das Gesetz als Ganzes bezog, brachte die Christdemokratische Partei (DC) mit den Stimmen der rechten Opposition eine Mehrheit hinter sich. Bei der Abstimmung über die einzelnen Paragraphen der Vorlage wurde hingegen der Artikel 3 über die Geheimhaltung mit den Stimmen von PS und PPD einerseits sowie der Rechten andererseits gekippt.
Abgeordnete der rechten Parteien UDI (Unabhängige Demokratische Union) und RN (Nationale Erneuerung) erklärten ihr widersprüchliches Abstimmungsverhalten damit, daß sie der Beschleunigung der Menschenrechtsverfahren zwar insgesamt positiv gegenüberständen, ein Aufweichen der Geheimhaltungsvorschriften aber als unzumutbar empfänden. Die unzureichende Gewährleistung der Geheimhaltung von Zeugenaussagen behindere die Anwendung des Amnestiegesetzes von 1978, gestand die UDI unverblümt ein. Außerdem sei die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit nur unzureichend abgesichert. Um den Abschluß der Prozesse auch tatsächlich zu beschleunigen, setzte sich die Rechte außerdem dafür ein, Fristen für die einzelnen Bearbeitungsschritte der Nachforschungen zu setzen.
Das politische Kalkül der Rechten, das ihrem Abstimmungsverhalten zugrunde lag, bestand offenbar darin, den Zusammenhalt der “Concertación” zu gefährden. Gemeinsam mit der Rechten die Gesetzesinitiative Aylwins zu Fall gebracht zu haben, trug der PS und der PPD den Vorwurf ein, ihre christdemokratischen RegierungspartnerInnen verraten zu haben.
Im Klima gegenseitiger Schuldzuweisungen kündigte Präsident Aylwin an, dem Senat die ursprüngliche Fassung seiner Gesetzesinitiative vorzulegen. Weite Teile der Rechten, die im Senat die Mehrheit stellt, signalisierten daraufhin ihre Unterstützung. Eine drohende Neuauflage der Allianz von DC und Rechten, die sich bereits 1973 gegen Salvador Allendes Regierung gestellt hatte, brachte sowohl die DC als auch den “sozialistischen” Flügel der “Concertación” in Bedrängnis. Gerade in der sensiblen Frage der Menschenrechte wollten die ChristdemokratInnen unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, den offenen AnhängerInnen der Militärdiktatur nachgegeben zu haben. In dieser Angelegenheit waren PS und PPD jedoch keinesfalls bereit, von ihren Prinzipien abzurücken, zumal sie auch von der linken außerparlamentarischen Opposition unter starken moralischen Druck gesetzt wurden.
Bereits wenige Tage nach der Abstimmung im Parlament versuchten führende Mitglieder der Regierungskoalition, die Wogen zu glätten. Im Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit angesichts der im Dezember anstehenden Wahlen beschworen DC, PS und PPD den Zusammenhalt der “Concertación” und kündigten an, die Meinungsverschiedenheiten in koalitionsinternen Verhandlungen beizulegen. Obwohl die Sozialistische Partei auch offiziell von der Unantastbarkeit des Amnestiegesetzes von 1978 ausgeht, kam es zu keiner Einigung, denn die DC war nicht bereit, die im umstrittenen Artikel 3 enthaltenen Geheimhaltungsvorschriften entscheidend zu lockern. Nach einer Reihe von Gesprächen zwischen den Spitzen der Regierungsparteien und dem Präsidenten zog Patricio Aylwin seine Gesetzesinitiative auf unbestimmte Zeit zurück. Innerhalb seiner Amtszeit wird es keinen neuerlichen Versuch geben, den Streit um die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen beizulegen. Menschenrechtsgruppen zweifeln aber an der Bereitschaft und Sensibilität seines designierten Nachfolgers Eduardo Frei, sich des Themas anzunehmen. Trotzdem betrachten die hungerstreikenden Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen das Scheitern des “Ley Aylwin” als Erfolg. Für die Präsidentin des Zusammenschlusses der Angehörigen (AFDD), Sola Sierra, haben “die Prinzipien, die Ethik über den Pragmatismus gesiegt”. Gleichzeitig kündigte sie das Ende des Hungerstreikes an.

“Warum soll es ausgerechnet in Chile Gerechtigkeit geben?”

Nach dem Scheitern des “Ley Aylwin” hat sich zumindest in juristischer Hinsicht die Situation nicht verändert. Auf der politischen Ebene ist hingegen vieles deutlich geworden: Die Bereitschaft der Regierung, dem Militär die Stirn zu bieten, ist immer noch nicht vorhanden. Die Gesetzesinitiative des Präsidenten hat das Amnestiegesetz legitimiert und den “boinazo” vom vergangenen Mai gerechtfertigt. Entgegen früheren Zusagen hat die Regierung darauf verzichtet, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Militär ziviler Kontrolle zu unterstellen. Seit Jahren fordert beispielsweise die Menschenrechtsorganisation CODEPU (Komitee für die Verteidigung der Rechte des Volkes) vergeblich von der Regierung, das umstrittene Amnestiegesetz vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüfen zu lassen. Zumindest die politische Elite des Landes hat sich schon lange damit abgefunden, daß es in Bezug auf die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen keine Gerechtigkeit geben wird. Der Generalsekretär der DC, Genaro Arriagada, gibt offen zu: “In keinem Land der Erde gibt es Gerechtigkeit. Warum soll das ausgerechnet in Chile anders sein?”
Im Interesse der Verbesserung der sogenannten militärisch-zivilen Beziehungen ist die Regierung Aylwin dazu bereit, jede öffentliche Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Sie betreibt die Individualisierung der Schuldfrage und vermeidet es so, das Militär als Institution für die systematischen Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur verantwortlich zu machen.
Die Macht der Militärs ist im Zuge der Auseinandersetzungen um die “Ley Aylwin” gestärkt worden, denn die Regierung hat unmißverständlich klargemacht, unter allen Umständen einen Konsens mit den Generälen erreichen zu wollen.
Die für das Militär juristisch zufriedenstellende Lösung der Menschenrechtsfrage läßt hingegen weiterhin auf sich warten. Auf die Frage, wie die Regierung auf zukünftige Provokationen des Militärs reagieren werde, antwortet DC-Generalsekretär Arriagada: “Wenn das passiert, dann werden wir weitersehen.” Darüber, ob und wann das Militär die Regierung mit erneuten Machtdemonstrationen wie dem “boinazo” zum Handeln zwingen wird, kann vorerst nur spekuliert werden.

Schachern um den “Sicheren Weg”

Mecanismo ist der Begriff, der die politische Diskussion innerhalb Chiles in den letzten Wochen beherrschte. Die Christdemokratische Partei (DC) und die Sozialistische Partei (PS), die beiden wichtigsten Parteien in der concertación genannten Regierungskoalition, hatten sich Ende März auf einen Modus zur Kür eines Einheitskandidaten für das Präsidentenamt geeinigt. Dabei hatte die DC lange Zeit darauf beharrt, die Kandidatur ihres Favoriten Eduardo Frei Ruiz-Tagle stehe nicht zur Disposition. Sollten die SozialistInnen tatsächlich darauf bestehen, den früheren Erziehungsminister Ricardo Lagos im Dezember als Präsidentschaftskandidaten zu präsentieren, wäre das gleichbedeutend mit dem Verzicht auf eine Einheitsliste für die Parlamentswahlen, so verlautete aus der DC-Parteizentrale. Im Bewußtsein, innerhalb der Regierungskoalition aufgrund der Dominanz der ChristdemokratInnen an Profil verloren zu haben, konnten die SozialistInnen diesem Gedanken wenig abgewinnen. Es wäre nur zu offensichtlich geworden, daß die PS den WählerInnen keine inhaltliche Alternative anzubieten hat. Um Lagos jedoch die Möglichkeit zu geben, sein Gesicht zu wahren, stellte die PS die Idee des mecanismo zur Diskussion: ein Wahlkonvent nach nordamerikanischem Beipiel sollte Anfang Juni den Einheitskandidaten der concertación bestimmen. Die DC zierte sich lange, wollte sie doch die Kandidatur Freis ohne jedes Risiko durchsetzen. El camino seguro, der sichere Weg, wurde von den christdemokratischen WahlkampfstrategInnen so lange als Losung gegen den Konvent propagiert, bis es gelungen war, Bedingungen auszuhandeln, die Lagos nicht den Hauch einer Chance ließen: 40 Prozent der Delegierten des Konvents sollten von den Koalitionsparteien in Abhängigkeit von den Ergebnissen bei den Kommunalwahlen des vergangenen Jahres bestimmt werden. Mit 29 Prozent der Stimmen hatte die DC damals um 11 Prozent besser abgeschnitten als ihre Lagos unterstützenden Bündnispartnerinnen PS und PPD (Partei für die Demokratie). Je 30 Prozent der Konventssitze wurden mit Parteimitgliedern sowie mit sympathisierenden “Unabhängigen” besetzt. Die Anzahl von Unterschriften, die die einzelnen Parteien im Vorfeld für ihren Kandidaten sammelten, entschied dabei über die Stärke ihrer Konventsfraktionen. Sowohl der Vorsprung der DC bei den Kommunalwahlen als auch die im Vergleich zur Sozialistischen Partei schlagkräftigere Organisationsstruktur des Parteiapparates, die ausschlaggebend für die Mobilisierung zum Sammeln der Unterschriften war, ließen keinen Zweifel daran aufkommen, wer die Vorwahlen gewinnen würde: Frei, und zwar auf dem sicheren Weg. Mit über 60 Prozent der Stimmen wies der Christdemokrat denn auch seinen Kontrahenten deutlich in die Schranken.

Machtkalküle bei einer überflüssigen Wahl

Mangels ernstzunehmender Gegenkandidaten steht damit bereits sechs Monate vor den eigentlichen Wahlen der Nachfolger des chilenischen Staatspräsidenten, Patricio Aylwin, fest. Das Kalkül der DC, sich auf die Farce eines Wahlkonvents einzulassen, richtete sich denn auch eher auf die Zeit nach den Wahlen. Um das neoliberale Regierungsprogramm weiterhin umsetzen zu können, bedarf es der Aufrechterhaltung der concertación. Nur durch die Einbindung der PS und der PPD in die Regierungsarbeit kann der auf breiten Konsens zielende Kurs auch in der nächsten Legislaturperiode fortgesetzt werden, indem die linke Opposition klein gehalten wird. Um weiterhin an der Macht beteiligt zu sein, sind die SozialistInnen zu allem bereit – sogar dazu, neoliberale Wirtschaftspolitik mitzuverantworten. Darüber hinaus verkündete Ricardo Lagos immer wieder, zwischen seiner Partei und den ChristdemokratInnen gebe es keine entscheidenden inhaltlichen Unterschiede. Zur Wahl standen bei den koalitionsinternen Vorausscheidungen also nicht Programme sondern Personen. Abgesehen von seiner Parteizugehörigkeit hatte Frei in dieser Beziehung mit seiner Familiengeschichte im Rücken eindeutig mehr zu bieten: Sein Vater, Eduardo Frei, war zwischen 1964 und 1970 der Staatspräsident Chiles.
Es klingt paradox, aber Lagos versprach sich von seiner vorhersehbaren Niederlage politische Vorteile. Allein die Tatsache, daß sich die DC auf Vorwahlen einließ, gibt ihm die Chance, zumindest in personeller Hinsicht ein eigenständiges Profil innerhalb der concertación unter Beweis zu stellen und damit auf das immer vernehmlicher werdende Murren an der Parteibasis zu reagieren. Darüber hinaus wurde durch diesen Erfolg die Position Lagos` gegenüber parteiinternen Widersachern gestärkt, die wie Enrique Correa bereits offiziell angekündigt haben, ihn als Parteivorsitzenden ablösen zu wollen. Außerdem hoffen die AnhängerInnen Lagos`, so sehr an politischer Statur gewonnen zu haben, daß es endlich möglich ist, sich mit der sozialdemokratischen “Partei für die Demokratie” (PPD), die ebenfalls Mitglied der concertación ist, zusammenzuschließen.

Das linke Lager auf Konsenssuche

Das Bekenntnis führender PS-Mitglieder, zur Christdemokratie bestünden nur wenige inhaltliche Unterschiede, macht deutlich, daß sich die Sozialistische Partei aus dem Kreis der linken Parteien verabschiedet hat. Der Verlust sozialistischen Profils an der Seite einer die concertación dominierenden DC hat dazu geführt, daß sich die parteiinterne Opposition immer lauter zu Wort meldet. Der Gewerkschaftsflügel hat bereits angekündigt, keinesfalls hinter der Kandidatur Freis zu stehen. Die Parteilinke der SozialistInnen nähert sich inzwischen der progressiven Opposition zur Regierung an, indem sie immer mehr Gemeinsamkeiten mit Teilen der ArbeiterInnenpartei (PT) entdeckt. Im Widerspruch zur offiziellen Parteilinie treten diese PTistas offen für die Stärkung der “Bewegung für eine neue Linke” (Nueva Izquierda) ein. Die Nueva Izquierda ist ein Bündnis zwischen der PHV (Grüne Humanistische Allianz) und diversen sozialen Bewegungen. Erst im März dieses Jahres hatte sich die PHV aus Protest gegen die neoliberale Regierungspolitik aus der concertación zurückgezogen. Sie präsentiert mit Cristián Reitze einen eigenen Präsidentschaftskandidaten, der besonders unter den Jugendlichen der armen Stadtviertel sehr populär ist. Reitze ist beflissen, sich von der Kommunistischen Partei abzugrenzen, indem er sowohl die klassischen links-rechts-Kategorien als auch den Begriff des Klassenkampfes ablehnt. Für ihn steht der Widerstand gegen den internationalen Kapitalismus im Vordergrund, unter dem die UnternehmerInnen angeblich ebenso leiden wie die chilenischen ArbeiterInnen. Reitze möchte die PHV zur Fürsprecherin gesellschaftlicher Minderheiten machen. Die Ankündigung, Reitzes Präsidentschaftskandidatur sei unter keinen Umständen verhandelbar, erschwert allerdings die Suche nach BündnispartnerInnen.
Das linke Parteienbündnis MIDA, in dem die arg geschrumpfte Kommunistische Partei sehr starken Einfluß ausübt, ist sowohl aufgrund seiner organisatorischen Stärke als auch im Hinblick auf seine Wahlaussichten erheblich einflußreicher als die PHV und wird sich das Recht, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, kaum streitig machen lassen. Dabei ist der MIDA-Kandidat, Eugenio Pizarro, an Groteskheit kaum zu überbieten. Es spricht Bände über den Zustand der kommunistischen Partei, daß sie einen katholischen Geistlichen, der sich offen gegen Ehescheidung, Abtreibung, Verhütung und vorehelichen Geschlechtsverkehr ausspricht, zum Kandidaten macht. Die Vorstellungen Pizarros zur Wirtschaftspolitik sind so aberwitzig, daß Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Kandidatur angebracht sind: Bei Respektierung des Privateigentums will der Priester Schlüsselindustrien verstaatlichen und die gesamte Volkswirtschaft der Kontrolle des Staates unterwerfen. Die chilenischen UnternehmerInnen sollen durch eine breit angelegte Kampagne für ein nationales Bewußtsein von einem Regierungsprogramm überzeugt werden, das in erster Linie über Steuererhöhungen für Reiche finanziert werden soll.
Der dritte Kandidat der Linken ist der Ökologe Manfred Max Neef, der von der ArbeiterInnenpartei und der Partei der “Linken ChristInnen” (IC) unterstützt wird. Obwohl die IC Teil der concertación ist, verweigert sie Frei die Gefolgschaft und versucht, sich als Sammelbecken für jene zu empfehlen, die dabei sind, sich enttäuscht von der Regierungskoalition abzuwenden.
Trotz der Bemühungen auf Seiten der Linksbündnisse, wenigstens für die Parlamentswahlen mit einer Einheitsliste aufzutreten, erscheint es momentan möglich, daß sich die chilenische Linke den Luxus leistet, ihre geringen Kräfte mit drei chancenlosen Präsidentschaftskandidaten zu verschwenden. Dies könnte die Aussichten der Linken erheblich schmälern und der Führung der Sozialistischen Partei eine große Sorge nehmen: Stimmen nach links abzugeben, von der parteiinternen Opposition unter Druck gesetzt zu werden und schließlich innerhalb der concertación gegenüber der Christdemokratischen Partei an Boden zu verlieren.

Die Rechte: Vier profilierungssüchtige Kandidaten

Auch die Rechte hat es noch immer nicht vermocht, sich auf einen einzigen Kandidaten zu einigen. Dabei können sich weder José Piñera, ehemaliger Arbeitsminister unter Pinochet und parteiunabhängiger Kandidat, noch der UDI-Kandidat (Union für die Verteidigung der Unabhängigkeit) Jovino Novoa, der ebenfalls Mitglied der Militärregierung war, ernsthaft eine Chance ausrechnen. Dasselbe gilt für den Unternehmer Manuel Filiú, der für die RN (Nationale Erneuerung) kandidiert. Die schillerndste Persönlichkeit unter den Kandidaten der Ultra-Rechten ist zweifelsohne Franciso Javier Errázurriz, alias Fra-Fra. Der steinreiche Unternehmer, der die UCC (Union Mitte Mitte) gründete, ist der Prototyp der chilenischen Politik, indem er keinen Hehl daraus macht, sich an den Meistbietenden verkaufen zu wollen. So ist Fra-Fra grundsätzlich zum Eintritt in die Regierung bereit, würde aber durchaus auch als Kandidat der gesamten Rechten auftreten, um diese vor dem Abgrund zu retten. Meinungsumfragen zufolge steht der wendige Unternehmer für rund ein Zehntel der WählerInnenstimmen. Angesichts der persönlichen Feindschaften und ausgeprägter Profilisierungssüchte der führenden Köpfe der extremen Rechten ist es jedoch unwahrscheinlich, daß es zur Aufstellung eines Einheitskandidaten kommen wird.

Wozu die Rechte wählen – ihr Programm wird bereits umgesetzt

Auch bei den Parlamentswahlen steht die extreme Rechte vor einem Desaster. Ihre Vorstellungen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik ähneln dem Programm der concertación so sehr, daß es keinen Grund zum Regierungswechsel gibt. Die Erinnerung an Korruption, Machtmißbrauch und Folter unter der Diktatur sind nach wie vor so gegenwärtig, daß auch die Sperrminorität, über die die Rechte augenblicklich im Parlament verfügt, wackelt. Sie stellt heute ein Drittel der Abgeordneten beider Kammern des Parlaments und kann so jede zwei Drittel aller Stimmen benötigende Verfassungsreform, die von der Regierung ins Auge gefaßt wird, zum Scheitern bringen. Immer wieder haben führende VertreterInnen der concertación ihren KritikerInnen entgegen gehalten, daß der Regierung die Hände gebunden seien.
Sollte die Rechte ihre Sperrminorität tatsächlich verlieren, dann hätte die concertación diese Ausrede nicht länger und müßte endlich Farbe bekennen. Vielleicht würde dies dann auch zu einer Situation führen, in der die politische Auseinandersetzung an die Stelle des lauen Konsensbestrebens tritt, das momentan die chilenische Politik bestimmt. Der Wahlkampf wird mit seinem Kandidatenallerlei darauf einen allenfalls faden Vorgeschmack geben – zumal klar ist, was letztlich das Ergebnis jeder Mahlzeit ist.

Mehr Frauen ins Parlament

Obwohl Frauen mit 52 Prozent mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellen, waren bei den Abwahlen der Diktatur im Dezember 1989 nur 7 Prozent aller 528 KandidatInnen für das neu zu konstituierende Parlament Frauen. Zudem fühlten sich die Kandidatinnen durchweg mehr ihrer Partei als ihren Artgenossinnen verpflichtet. Parteiloyalität siegte wieder einmal über Frauensolidarität. Und auch die chilenische Frauenbewegung, die seit Jahren immer wieder über Parteigrenzen hinweg nach gemeinsamen politischen Forderungen und Aktionen gesucht hat, war nicht fähig, eigene konkrete Vorstellungen zu entwickeln. Eine gemeinsame Kandidatin der Frauenbewegung mit frauenpolitischem Wahlprogramm stand nicht zur Debatte. Als Konsequenz daraus sind heute unter den 120 Abgeordneten nur sechs Frauen (darunter eine Feministin), unter 47 SenatorInnen nur zwei Frauen und in Führungspositionen der Regierung nur eine Ministerin zu finden.

Die Linke und ihre Probleme mit der Frauenbewegung

Daß die konservativen chilenischen Parteien nicht sehr fortschrittlich in Frauenfragen sind, verwundert nicht weiter. Aber auch die linken Parteien haben im Grunde genommen die Frauenbewegung nie ernst genommen. Tatsächlich ging es ihnen nicht darum, die Probleme der Frauen zu lösen, sondern lediglich, Frauen als Stimmvieh zu gewinnen. Sie scheinen bisher nicht begriffen zu haben, daß sie ihre Stärke zum Großteil aus den Frauen beziehen, die im Plebiszit und während der Wahlen eine wichtige Rolle gespielt haben und bereits während der Zeit der Diktatur ebenso wie die Jugendlichen immer wieder HauptakteurInnen im Widerstand waren.
Mittlerweile hat in der chilenischen (ebenso wie in der bundesdeutschen) Linken eine gewisse Bewußtseinsänderung stattgefunden. Das Wort “Gleichberechtigung” ist in aller Munde und auch die sozialen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten werden benannt. Jedoch stößt frau in der Praxis schnell an die Grenzen dieses neuen Bewußtseins, wenn es um Macht und Sicherung von Privilegien geht.
Und das, obwohl sich die linken Parteien doch immer auf Seiten der Unterdrückten sehen. Der sogenannte Demokratisierungsprozeß in Chile bietet eine Chance zur sozialen und politischen Neuorientierung. Jetzt ist es an der Zeit, daß die Linke konsequent Stellung bezieht, sich für die Errichtung einer wirklich gleichberechtigten Gesellschaft einsetzt und eine Politik anstrebt, die über die Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung und gleicher Entlohnung hinausgeht. Sie muß sich endlich auch mit Themen wie Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung, Gewalt in der Ehe, Ehescheidung, Abtreibung und den spezifischen Lebensbedingungen von Frauen auseinandersetzen und Entscheidungsbefugnis für Frauen in allen Lebensbereichen fordern.
Probleme, denen Frauen ausgesetzt sind, gehen nicht nur die Frauen an.
Soll es zu einer echten Demokratie kommen, dürfen diese Themen nicht wieder als Nebenwiderspruch auf später verschoben und hinten angestellt werden. Andererseits ist es auch an der Zeit, daß sich die Frauen ihrer Stärke bewußt werden und ihre Rechte einklagen.

Was hat sich für die Frauen verändert?

Von den konkreten Forderungen nach Gesetzesreformen, 1989 während des Wahlkampfes von Frauen aus Parteien, Gewerkschaften, sozialen Gruppen und Frauengruppen als “konzertierte Aktion der Frauen für Demokratie” eingebracht, wurde bisher nur sehr wenig verwirklicht.
Zwar wurde mittlerweile – angegliedert an das Familienministerium – das Nationale Frauenbüro Sernam (Servicio Nacional de la Mujer) eingerichtet, doch der eng begrenzte Etat limitiert die Arbeit des Büros erheblich. Es gibt kaum Mittel für Öffentlichkeitskampagnen, um Frauenbelange breiter bekannt zu machen und zu diskutieren. Auch die politische Wirkung des Frauenbüros ist eher bescheiden. Insgesamt scheint Sernam eher eine Maßnahme zur Beschäftigungstherapie und ein Projekt der Befriedung von Frauen zu sein, als ein politisches Instrument zur Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Auch die drängendsten Forderungen nach Gesetzesreformen wurden nicht annähernd erfüllt: Immer noch ist Ehescheidung ein Tabuthema. Abtreibung ist immer ein Straftatbestand, während Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe trotz eindringlicher Forderung immer noch nicht eindeutig unter Strafe gestellt sind.

Aber die Frauen bewegen sich

Viele langjährig in politischen Parteien organisierte Frauen mußten letztlich feststellen, daß sie in den männerdominierten Parteien untergehen und ein Demokratisierungsprozeß für Frauen nicht mittels politischer Parteien erfolgen kann. Viele sind frustriert aus ihrer Partei ausgetreten, weil sie für sich und die Durchsetzung ihrer frauenpolitischen Interessen keine Basis sahen.
In der Frauenbewegung sehen sie ihre neue Wirkungsstätte und eine Möglichkeit zum Engagement.
Noch während der Zeit der Diktatur haben sich zahlreiche Frauengruppen gebildet, die in einem breiten Spektrum aktiv wurden: von konkreter finanzieller Hilfe z.B. für die BewohnerInnen der Elendsviertel, über politische Unterstützung z.B. der politischen Gefangenen, hin zu frauenpolitischen Forderungen, wie etwa der Legalisierung der Abtreibung.
Seit Ende der 80er Jahre gibt es in allen Regionen Chiles eine breite Frauenbewegung unterschiedlichster Couleur, die auf vielfältige Art dabei ist, das Leben in Chile für die Frauen zu verändern.
Es gibt konkrete Hilfe für geschlagene Frauen, sowie Rechtsberatung und Unterstützung bei gesundheitlichen und psychischen Problemen. Es werden feministische Studien durchgeführt, feministische Ausbildungsprogramme für Frauen und Mädchen entworfen, Kampagnen gestartet, die Probleme von Frauen öffentlich gemacht. Diskussionen über die Rolle der Frauen in Führungspositionen werden angeregt und Themen wie “Frau und Macht”, “Frau und Geld”, “Frau im Arbeitsprozeß” aus feministischer Sicht angesprochen. Es gibt ein feministisches Radio, eine Frauenbuchhandlung, eine Frauenzeitschrift, ein Frauenhaus … und vieles andere mehr.
Die Frauen bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen, und in der Diversität liegt ihre Stärke.
Bei öffentlichen Kampagnen zu einschlägigen Frauenthemen wird die Stärke der chilenischen Frauenbewegung deutlich, wenn sich trotz ideologischer Unterschiede Frauen aus den unterschiedlichsten Gruppen für eine gemeinsame Sache engagieren. So zum Beispiel am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen: In der FußgängerInnenzone im Zentrum Santiagos gingen Hunderte von Frauen auf die Straße, um Unterschriften zu sammeln für die Durchsetzung einer Gesetzesänderung zur Bestrafung von Gewalt in der Ehe. Innerhalb weniger Stunden trugen sie über 5.000 Unterschriften zusammen und diskutierten mit den PassantInnen über den unmöglichen Zustand, daß ein bereits vor drei Jahren eingebrachter Antrag, Gewalt in der Ehe endlich unter Strafe zu stellen, vom Parlament bisher immer noch nicht behandelt worden ist. Er wird ganz offensichtlich blockiert. Im Gegensatz zu uns deutschen Feministinnen scheuen sich die Chileninnen nicht, punktuell mit Männern zusammenzuarbeiten. Nur mit der Masse an Unterschriften von Männern und Frauen gibt es eine Chance, Druck auf Parlament und Gerichtsbarkeit auszuüben und die Debatte über Gewalt gegen Frauen ins Rollen zu bringen.
Für die nächsten Wahlen gibt es eine feministische Kandidatin aus der Frauenbewegung. Ihre Kandidatur wird von der Iniciativa Feminista (Feministische Initiative), einer Organisation, der diverse Gruppen der feministischen Bewegung angehören, unterstützt.

Mehr Frauen ins Parlament

Unter diesem Motto wurde im Hinblick auf die nächsten Wahlen im Dezember 1993 vor kurzem unter Federführung des Instituto de la Mujer (Institut der Frau) in Santiago eine Kampagne gestartet, die auf die geringe Präsenz der Frauen in Führungspositionen aufmerksam machen sollte. Sie soll aber auch die Kandidatur von Frauen unterstützen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen und “Politik der Bevölkerung wieder näherbringen und humanisieren” wollen.
Die Unterstützung galt sowohl den wenigen Frauen in den politischen Parteien der Concertación als auch unabhängigen Kandidatinnen, wie z.B. der Kandidatin der feministischen Initiative.
Die Situation der Kandidatinnen innerhalb der Concertación und der Unabhängigen ist sehr unterschiedlich, aber beide sind von dem chilenischen Wahlgesetz betroffen. So wird die Kandidatur von Parteiunabhängigen fast unmöglich gemacht, aber auch innerhalb der Parteien führt das zu Ausgrenzungen.
Was die Kandidatur der Feministinnen in den Parteien der Concertación betrifft, werden sie im Parteienhickhack aufgerieben. Ihre Forderungen und Programme werden als politisch unwichtig abgetan. Sie erhalten für ihre Kandidatur innerhalb ihrer Partei keine Unterstützung (nicht mal von ihren eigenen Parteigenossinnen). Konkret bedeutet das, daß diese Frauen entweder gar nicht berücksichtigt wurden und stattdessen männliche Parteikollegen nominiert worden sind, oder auch, daß die viel zu wenigen Frauen in Konkurrenz zueinander kandidieren sollen. So geschehen im Falle der bisher einzigen feministischen Abgeordneten Adriana Munoz, die einzige die sich in der letzten Regierungsperiode überhaupt um Frauenbelange gekümmert und Themen wie Abtreibung oder Gewalt in der Ehe öffentlich benannt hat. Ihre bisherige erfolgreiche politische Arbeit wurde nicht honoriert, sondern fiel der Parteiraison zum Opfer. Sie bekommt von ihrer eigenen Partei (PS) in ihrem Wahlbezirk Pudahuel in Santiago eine Konkurrenzkandidatin zugeordnet, Denis Pasqual (aus der Familie Allende), die zwar Frau, aber in keinster Weise an Frauenfragen interessiert ist, geschweige denn ein frauenpolitisches Bewußtsein an den Tag legt. Denis Pasqual hat aber allein aufgrund ihrer familiären Herkunft gute Chancen. Adriana Munoz wird so wohl kaum WählerInnenstimmen erhalten.
Doch daß in den Parteien Kandidaturen von Individuen zulasten von KandidatInnen gehen, die eine gesellschaftliche Bewegung hinter sich haben, führt zur Konzentration von Macht in den Händen weniger. Die Politik entfernt sich immer mehr von der Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Kandidatur von Isabel Carcamo, der Vertreterin der Feministischen Initiative zu sehen, die sich mit konkreten Forderungen der Frauenbewegung zur Wahl stellen wird. Die Chileninnen schätzen die Kandidatur selbst als einen “saludo a la bandera”, einen Gruß an die Fahne, realistisch ein. Als unabhängiger Kandidatin bleibt ihr angesichts der Stärke der politischen Parteien und deren Rückhalt in der chilenischen Bevölkerung keine Chance. Wie in anderen Ländern auch ist die feministische Bewegung in Chile im Verhältnis klein und ökonomisch unbedeutend. Sie nimmt von daher in den Medien nur einen sehr geringen Raum ein.
Das Gute an dieser Kandidatur ist jedoch – und daher kommt letztendlich auch die Motivation dazu -, daß sie durch ihre Unabhängkeit keine Rücksicht auf parteiinterne Sensibilitäten und Tabus nehmen braucht und deswegen lautstark und aggressiv die Themen benennen kann, die ihr wichtig sind und die bei allen politischen Parteien untergehen.
Natürlich ist es schwierig, angesichts des aussichtslosen Kampfes und der Übermacht der Parteien trotzdem die Kraft für diese Kandidatur aufzubringen. Aber die chilenischen Feministinnen sehen darin zumindest eine Möglichkeit, ein Stück verlorengegangenen Idealismus wieder in die Debatte einzubringen, die vom Pragmatismus der neuen Zeiten bestimmt ist.

Kasten:

Unter den konkreten Forderungen nach Gesetzesreformen sind u.a.:
– sofortige Unterzeichnung der UNO-Konvention zur Beseitigung jeglicher Diskriminierungen von Frauen
– Festschreibung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Verfassung, unabhängig von Familienstand der Frau
– volle Rechte für verheiratete Frauen
– im Strafrecht: Anerkennung und Verfolgung des Deliktes “Gewalt in der Familie”, die sich gegen Frauen, Kinder und alte Menschen richtet
– Anerkennung von Vergewaltigung als Strafdelikt
– Anerkennung von häuslicher Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe als Strafdelikt

Die Militärs und der Übergang

Das “Boinazo”, wie man die Ereignisse hier in Chile genannt hat, war allerdings nicht der einzige Ausdruck der Unzufriedenheit des Heeres während der Regierung Patricio Aylwins. So sei daran zu erinnern, daß Ende 1990, als die gegenwärtige Administration noch kein Jahr im Amt war, die Militärs ein ähnliches Manöver vollführten, welches euphemistischerweise “Alannübung” (ejercicio de enlace) genannt wurde. Genau wie jetzt, ließ auch damals die Armee ihre Truppen aus den Kasernen ausrücken und eine Reihe symbolischer Gesten vollführen, damit die Bevölkerung, und besonders die politische Klasse, zur Kenntnis nähme, daß etwas Unnormales stattfand (LN 200)..
Die Motive, die die Militärs hatten und haben, um beide Aktionen durchzuführen, sind relativ ähnlich, aber die Umstände sind unterschiedlich. Und das gibt ihnen ihre Besonderheit.
Von der Wirkung her wollten und wollen beide Bewegungen einen Spezialstatus für die Streitkräfte erreichen, insbesondere für das Heer, welcher es ihnen erlauben würde, sich ihrer Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen und Korruption in der Vergangenheit zu entledigen. Auch wenn das gegenwärtige “Boinazo” sich nur verstehen läßt im Hinblick auf die Wahlen im kommenden Dezember, und angesichts der kümmerlichen Verfassung, in der die Rechte auf dieses Ereignis zusteuert.

Pinochet: Stärker oder schwächer?

Wie sich in diesen Wochen gezeigt hat, gibt es keinen Zweifel daran, daß Pinochet weniger Stärke, Legitimität und Bündnismöglichkeiten hat als Ende 1990. Faktisch erreichte er bei jener Gelegenheit die aktive Unterstützung eines Teils der Rechten (der UDI), das Stillhalten des Unternehmertums und, was grundlegend war, die Solidarität der anderen Bereiche der Streitkräfte. Heutzutage haben die Rechte und das Unternehmertum die Reihen geschlossen zur Verteidigung der demokratischen Institutionen, während die anderen Teile der Streitkräfte sich dazu entschlossen haben, dem Thema in der Öffentlichkeit aus dem Weg zu gehen und private Signale des Mißfallens angesichts des Verhaltens der Armee zu äußern.
Marine und Luftwaffe haben angesichts der gegenwärtigen Lage eine andere Strategie . Und sei es auch nur, weil sie nicht im entferntesten in dem gleichen Ausmaße wie die Armee in Menschenrechtsverletzungen und Akte der Korruption verwickelt sind. Gleichzeitig haben sie ihre Politik der Reprofessionalisierung der Institutionen ohne größeren Wirbel und mit aktiver Unterstützung der Regierung durchgesetzt, und zwar in Aspekten, die heute Schlüsselbereiche sind, wie etwa Haushalt und technologische Anpassung.
Ein Bereich der politischen Rechten, der sich zusehends in der Mehrheit befindet, begreift, daß die Verteidigung Pinochets um jeden Preis gewissemaßen bedeutet, sich Rettungswesten aus Blei anzuziehen, während dies gleichzeitig keinen politischen Gewinn einbringen würde. Die Rechte weiß, daß die “bedingungslosen Stimmen” für Pinochet zur Disposition stehen, da es an einer Alternative fehlt, die dies vermitteln könnte, und daß ihr Problem ist, in Richtung Zentrum zu wachsen und den gegenwärtigen Mitte-Links-Block zu zerbrechen und ihn durch einen Mitte-Rechts-Block zu ersetzen.
Schließlich und endlich ist die ökonomische Rechte mehr als zufrieden mit der Art, wie die gegenwärtige Regierung das ökonomische Modell verwaltet.

Die Gründe des “Boinazo”

Das “Boinazo” wurde also durch Pinochet und seine Generäle nicht in Hinblick auf ein neues Szenario gewählt, das für die Forderungen der Armee günstig wäre. Eher angesichts des Gegenteils, nämlich in Hinblick auf die politische Frist bis zu den Wahlen, die zur Pulverisierung der Parallelmacht führen könnten, welche Pinochet in der Zeit zwischen Oktober 1988 (Niederlage beim Plebiszit) und dem März 1990, der Regierungsübernahme Aylwins, geduldig aufgebaut hatte.
Das tiefere Motiv ist, daß -was nicht ganz unmöglich wäre -bestimmte Wahlergebnisse einen Großteil der Inseln der autoritären Macht auf Grund setzen könnten, die sich bisher auf die politische Rechte stützen, welche deren Reform oder Abschaffung verhindern. Wie bekannt ist, erhielt die Rechte bei den Wahlen vom Dezember 1989 mehr als ein Drittel der Sitze der Abgeordneten, und, über designierte Senatoren, mehr als die Hälfte im Senat. Für die nächsten Wahlen ist angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung und Krise der Rechten wahrscheinlich, daß dieses Bild sich verändert, und sie das Drittel der Abgeordneten und -auch, wenn dies weniger wahrscheinlich ist -die Mehrheit im Senat verlieren.
Wenn der derzeitige Regierungsblock mehr als zwei Drittel im Abgeordnetenhaus erringt, bleibt der Weg für Reformen offen. Wenn es den politischen Willen dafür gibt, wäre es möglich, daß die derzeitigen Oberkommandierenden des Heeres ihr Amt an den Nagel hängen müßten, ebenso .die ernannten Senatoren an die Luft zu setzen und das derzeitig gültige Wahlgesetz zu reformieren, das der Rechten erlaubt ,mit einem Drittel der Stimmen die Hälfte des Parlaments zu besetzen. Praktisch bedeutet dies das Ende der Parallelherrschaft Pinochets und eine Verringerung der parlamentarischen Macht der Rechten.
Die Möglichkeit eines überwwältigenden Sieges des Regierungsbündnisses gründet sich nicht auf ein wachsendes Wählerpotential (das seit 1989 fast gleich ist), sondern ergibt sich aus der Krise, in der sich die Rechte befindet. Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Aufstellung der Präsidenschaftskandidaten und der Listen für die Parlamentsabgeordneten ,und es gibt immer noch keine Übereinstimmung. Die Auseinandersetzung in der Rechten geht um die Miteinbeziehung der Kräfte des populistischen Kandidaten Francisco Javier Errazuris, dessen Wählerpotential von den beiden rechten Parteien sehr verschieden eingeschätzt wird.
Für die Renovacion Nacional (Nationale Erneuerung )bedeutet die Einbeziehung Errazuris die Gewißheit, sich eine Niederlage im voraus einzuhandeln. Schon die, WählerInnenschaft von Errazurris wäre unmöglich zu disziplinieren und, so argumentieren sie, die eigene Basis von RN würde nicht für die ParlamentskandidatInnen stimmen, die von Errazuris angeführt werden.
Die andere rechte Partei (die UDI) denkt genau das Gegenteil. Das wahrscheinlichste Ergebnis ist deshalb, daß die Rechten nicht nur einen Präsidentschaftskandidaten aufstellen (was irrelevant ist, weil sie sich in diesem Punkt sowieso verloren wissen), sondern , daß sie mit zwei parlamentarischen Listen antreten, was bedeuten würde, weniger als das nötige Drittel zu erhalten, mit dem sie Reformen verhindern können.

Das Kalkül des Generals

Augusto Pinochet kann man viel vorwerfen, nur eins nicht: nicht gut kalkulieren zu können. Seine Berechnungen sagen ihm, daß er fast sicher mit einer Wahlniederlage der Rechten rechnen muß. Dies würde den Raum für Reformen öffnen. Deshalb will er jetzt ein Abkommen erzielen, solange die Bedingungen noch nicht so schlecht sind, wie sie in Zukunft sein werden. Deshalb jetzt den “Boinazo” und nicht später. Für diese These spricht, daß der jetzige Forderungskatalog der Armee sehr präzise ist -im Gegensatz zu den gewollt undeutlichen Forderungen bei der “Alarmübung” im Dezember 1990 -und ein Hauptziel hat: eine definitive und nicht mehr rückgängig zu machende Amnestie für alle während der Diktatur begangenen Verbrechen durchzusetzen, etwa in der Art wie sie in Uruguay und in Argentinien durchgeführt wurde.
So, argumentieren militärische Quellen, würde die Spannung zwischen dem zivilen und dem militärischen Sektor beendet werden, und dann könnte sich Pinochet ins Privatleben zurückziehen. Seine Motive, noch im Amt zu bleiben -nämlich seine Untergebenen zu schützen- wären dann hinfällig. Das ist die Forderung und das Angebot.

Auch wenn der Ausgang noch ungewiß ist, zweifeln wenige, daß die Fordern-gen des “Boinazo” maßlos überzogen sind. Pinochet verfügt nicht über die nötige Macht ,um vom “Boinazo” zum offenen Putsch überzugehen. Und sollten die Forderungen erfüllt werden ,würde dies den Bruch des politischen Blocks der Regierung bedeuten und sie in unvorstellbarem Maße in Verruf bringen.
Das macht eine begrenzte Verhandlungslösung wahrscheinlich, bei der die Regierung einige Unterpunkte zubilligen muß. Dies wäre aber sehr irritierend für Pinochet. Er würde sich im Gegenzug dazu verpflichten ,in Zukunft die institutionellen Wege einzuhalten und weder auf “Alarmübungen” noch auf “Boinazos” zurückzugreifen. Kommt es so, hätte Pinochet fast sein ganzes Kräftepotential ausgeschöpft, ohne große Erfolge zu erzielen. Wenn er jedoch eine Einigung für das “Schlußpunkt- Gesetz” erzielt, was aber bis jetzt schwer vorstellbar ist, so wäre dies ein völlig neues Szenario, bei dem die Diskussion über das Ende des Übergangs (Transicion) belanglos wäre. Dann wäre darüber zu diskutieren, wo und wann sich die Transicion in eine Falle hat locken lassen.

Kasten:

Das binominale Wahlsystem

Um den Bestand ihres Gesellschaftsmodells auch für die Zukunft möglichst abzusichern, erfanden die Ideologen des Militärregimes das “binominale Wahlsystem”, eine Variante des Mehrheitswahlrechts. In jedem Wahlkreis werden zwei Abgeordnete gewählt, und nur wenn eine Partei oder ein Parteienbündnis mehr als zwei Drittel der Stimmen erhält, fallen ihre/ihm beide Sitze zu; im andern, dem Normalfall, erhalten der erste und der zweite Sieger je eine/n Abgeordnete/n (z.B. bei einem Stimmenverhältnis von 55 Prozent zu 45 Prozent). Das Modell läßt bewußt kleine Parteien oder unabhängige KandidatInnen ohne Chance, es zwingt auch großere Parteien zu Bündnissen und damit zu Kompromissen, zum Ausgleich; radikale Positionen werden zur parlamentarischen Erfolglosigkeit verdammt. Deshalb bedeuten die Schwierigkeiten der Rechten, eine gemeinsame Kandidathnenliste aufzustellen, eine ernsthafte Gefahr für ihre politische Zukunft -gleichzeitig aber auch, um ihres politischen Überlebens willen, den Zwang zum Bündnis.

Rote Karte für Carlos Andrés Pérez

Aber wie Al Capone über seine Steuerhinterziehung ins Gefängnis kam, so erwischte es nun Pérez von der finanziellen Seite. Die delikate Angelegenheit wurde zunächst Ende 1992 von der kleinen radikaldemokratischen Partei Causa R aufgebracht, deren Anzeige jedoch durch den mit Juristen der Regierungspartei besetzten Obersten Gerichtshof noch zurückgewiesen wurde. Erst als der Oberste Staatsanwalt und erklärte Gegner von Pérez, Ramón Escovar Salom, die Klage übernahm, hatte sie Erfolg.
Worüber ist Pérez nun gestolpert? Über den “Reptilienfonds”, “la partida secreta”. Alle Regierungschefs Venezuelas haben diesen Fond gehabt und nach ihrem Gutdünken darüber verfügt, aber diesmal liegt die Sache komplizierter. Als CAP an die Regierung kam, herrschte noch das System mehrerer Wechselkurse vor: um die nach der Finanzkrise von 1983 notwendige Abwertung der einheimischen Währung nur stufenweise auf die Kaufkraft durchschlagen zu lassen, subventionierte der Staat den Import von Waren, die als besonders notwendig eingestuft wurden. Dollars wurden zu einem erheblich besseren Kurs bei der Zentralbank eingekauft, wobei es zu verschiedenen Abwertungen kam. So gab es noch Anfang 1989 den Dollar für Medikamente und Nahrungsmittelimporte sowie für landwirtschaftliche Produktionsmittel für 7,50 Bs (Bolívares); andere Importe für Industrie und Konsum erhielten den Dollar zu 14,50 Bs., während alle anderen mit dem “freien Dollar” bezahlt werden mußten, der bei etwa 28 Bs. lag. Als CAP am 2. Februar sein Amt antrat, war es beschlossene Sache, daß diese verschiedenen Wechselkurse nach Kriterien des IWF in Kürze abgeschafft werden würden, was natürlich bedeutete, daß alle Fonds in Bolívares dadurch an Kaufkraft im Ausland verlieren würden. CAP wies seinen Innenminister an, den Reptilienfonds von 250 Millionen Bolívares zum Vorzugskurs von 7,50 Bs./U$ in harte amerikanische Dollars einzutauschen. Dies geschah wenige Tage vor der Währungsvereinheitlichung, mit der der Dollar schließlich auf 30 Bs. stieg. Dabei handelte es sich jedoch um einen eindeutigen Gesetzesverstoß, denn für solche Gelder war dieser Kurs ursprünglich nicht vorgesehen. Darüberhinaus stand CAP noch unter dem Verdacht des Rechnungshofes, sich und enge Freunde (man redet von seiner Geliebten Cecilia Matos) durch diese Dollargeschäfte persönlich bereichert zu haben.
Als der Oberste Gerichtshof Mitte Mai beschloß, die Klage zuzulassen, hieß dies für CAP, daß er für die Dauer des Prozesses von seinem Amt suspendiert wurde. Für 30 Tagen ersetzte ihn verfassungsgemäß der Präsident des Nationalkongresses. Inzwischen hat das Parlament bis zu Neuwahlen den Senator Ramón J. Velázquez zum Interimspräsidenten gewählt. Damit ist die Chance CAPs, vor Dezember dieses Jahres wieder in sein Amt zurückzukehren, weiter geschwunden.
Ramón J. Velázquez ist ein alter “adeco” (Mitglied der Acción Democrática, AD) aus der Provinz Táchira, ein bekannter und verdienter Historiker, gebildet und konservativ-liberal. Er entspricht in dieser Rolle einem alten Traum der VenezolanerInnen, einen kultivierten, studierten, gerechten Landesvater zu haben, der sich von der hemdsärmeligen politischen Praxis des Klientelismus und der Korruption fernhält. Er stellt Moral und Nationalgefühl über die Idee eines harten neoliberalen Kurses, den CAP in seiner Regierungszeit proklamiert hatte. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, daß er Kapazitäten ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit als Minister zu gewinnen versucht und eine Beraterkommission aus anerkannten Vertretern der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ernannt hat. Ob nun Ramón J. Velázquez dieser Hoffnung entsprechen kann, steht dahin, denn viel Zeit bleibt ihm nicht.

Präsidentschafts- und Kongreßwahlen im Dezember 1993

Seit Anfang des Jahres tobt in Venezuela der Wahlkampf. Obwohl die Bürgermeister- und Gouverneurs-Wahlen im Dezember 1992 so eindeutig gegen die AD ausgegangen sind, besteht dennoch keine Klarheit über den Ausgang der Präsidentsschafts- und Kongreßwahlen im Dezember 1993. Noch keine der vier Präsidentschaftskandidaten hat bislang eine klare Mehrheit hinter sich.
Für die AD tritt der Ex-Bürgermeister von Caracas, Claudio Fermín an, der nach seiner Wahlniederlage gegen Aristóbulo Istúriz (Causa R) in der Öffentlichkeit und auch in seiner Partei keine starke Stellung hat. In der christdemokratischen Partei (Copei) verlor in parteiinternen Basiswahlen der bisherige Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat Eduardo Fernández schmachvoll gegen den Gouverneur des Staates Zulia (Maracaibo), Osvaldo Alverez Paz. Der konservative Paz gilt als Kandidat des Unternehmerverbandes FEDECAMARAS. Seine Erklärungen zu einer zukünftigen Politik lassen das Festhalten an den unpopulären neoliberalen Reformen vermuten.
Außerdem läuft die Kandidatur des Parteigründers von Copei und Ex-Präsidenten Rafael Caldera, der bisher vor allem bei den linken Parteien wie MAS, MEP, URD, und PCV Unterstützung gefunden hat. Diese etwas überraschende Allianz der Linken mit dem konservativen Christdemokraten erklärt sich aus der Rolle Calderas bei der Reform des Arbeitsrechtes im Jahre 1991, als er gegen die neoliberalen Angriffe der Unternehmerschaft die christlich-sozialen Ideen vehement verteidigte und die Schutzfunktion des Staates betonte. Einen zweiten Schub erhielt seine Popularität, als er nach der Offizierrevolte vom 4. Februar 1992 im Nationalkongreß mit erregter Stimme die Regierungspolitik nach den Plänen des IWF zur Hauptursache des Putschversuches erklärte. Verarmung und Verzweiflung seien die wahren Hintergünde der Putschisten. Er zählt heute führende Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler des Landes zu seinem Beraterstab.
Der junge Facharbeiter Andrés Velázquez, Vorsitzender der kleinen Partei Causa R, ist der vierte aussichtsreiche Kandidat. Sein Aufstieg vom Gewerkschaftsvorsitzenden der Stahlarbeiter in der staatlichen Eisenhütte SIDOR, über seine Karriere als Abgeordneter des Staates Bolívar im Parlament zum nunmehr mit 80 Prozent der Stimmen wiedergewählten Gouverneur, ist für ihn der Beweis, “daß auch ein Arbeiter regieren kann”. Nachdem Causa R zunächst ein regionales Phänomen darstellte, hat sie jetzt den wichtigen Bürgermeisterposten von Caracas erobert und auch sonst in vielen Wahlkreisen erstaunlich hohe Stimmenzahlen verbuchen können. Causa R definiert sich selbst als “weder links noch sozialistisch”, praktiziert mit großer Konsequenz basisdemokratische Ansätze, hinter denen jedoch auch zentralistische Tendenzen in der Debatte um die künftige Politik erkennbar werden. So hat die kleine Parteiführung aus der Gründerzeit bisher das Heft nicht aus der Hand gegeben und jede Allianz oder Fusion mit anderen linken Parteien abgelehnt; das Verlangen nach einem Programm zur nationalen Politik aus Kreisen ihrer SymphatisantInnen hat sie bisher mit Schweigen beantwortet. Diese von vielen als hermetisch empfundene Abschottung hat der Partei die Kritik der linken Intelektuellen eingetragen. Sie empfehlen Causa R ihr Wählerpotential nicht zu vergeuden, sondern in eine Allianz mit Caldera oder auch mit einem anderen unabhängigen Kandiaten einzubringen.
Es ist keinesfalls gesichert, daß die AD nicht die Wahlen gewinnen kann. Das Wahlrecht sieht die Wahl desjenigen zum Präsidenten vor, der die meisten Stimmen auf sich vereint. Die AD ist nach wie vor die stärkste Einzelpartei, und wenn sich die Opposition auf drei Kandidaten zersplittert, ist ein Sieg von Claudio Fermín durchaus möglich.

Kasten:

Auf dem Weg zur rechtsstaatlichen Neuordnung
Als CAP 1988 die Präsidentschaftswahlen gewann, erhofften sich viele der VenezolanerInnen eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation. CAP personifizierte die goldenen Jahre des Erdölbooms. Er war der Populist, der diesen nationalen Reichtum mit seinem Volk teilte. Seine Politik der subventionierten Gesellschaft durch direkte und indirekte Verteilungsmechanismen der Erdölrente während der ersten Amtsperiode hatte die Kaufkraft der Bevölkerung erhöht und zu einer Verbesserung der Lebensqualität beigetragen. Doch damit war es längst vorbei, nur die Erinnerung an die gute alte Zeit war geblieben.
Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme 1989 unterwarf sich CAP einer Verschärfung der Auflagen, die vom Internationalen Währungsfond gefordert wurden, um das Land zu sanieren. Die inländischen Benzinpreise, die einzige staatliche Subventionierung, die noch bestand, wurden drastisch erhöht. Daran entzündete sich ein Volksaufstand im Februar/März 1989, die erste Bewährungsprobe, die die junge Regierung zu bestehen hatte. Seither hat es immer wieder SchülerInnen- und StudentInnenproteste gegeben, die den Sozialabbau und die zunehmende Verarmung im Land anprangerten. Nicht selten wurden den friedlichen Demonstrationen durch die Polizei, die Guardia Nacional und Spezialeinheiten ein gewaltsames Ende gesetzt. So führte neben den sozialen Problemen auch die stärkere Präsenz und Gewaltbereitschaft der Ordnungskräfte in den Städten zu einem Vertrauensverlust für CAPs Regierung. Aber nicht nur die Hoffnung auf bessere Zeiten hatte die Wahl CAPs zum Präsidenten begünstigt. War sein Vorgänger und Parteigenosse Lusinchi wegen Enthüllung eines öffentlichen Bauskandals zurückgetreten, so glaubten viele, daß CAP es nicht mehr nötig habe, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Er sei reich genug, schließlich habe er sich in seiner ersten Amtszeit ausgiebig bedient, so hieß es allgemein. CAP hatte sich in der Vergangenheit als sehr skandalresistenter Politiker erwiesen. Die Bereicherungsvorwürfe während seiner ersten Amtsperiode hatten damals nur wenig öffentliche Empörung ausgelöst. Und so wandten sich die immer lauter werdenden Korruptionsvorwürfe zunächst auch nicht gegen CAPs eigene Bestechlichkeit, sondern gegen seine Unfähigkeit mit der administrativen und politischen Korruption im Land fertig zu werden. Dies gab den Anlaß zu den Putschversuchen. Zwei Staatsstreiche scheiterten, doch die Gerüchte über einen dritten Putschversuch rissen nicht ab. Viele Journalisten behaupteten, CAP sei aus dieser Situation gestärkt hervorgegangen. Andere sahen in seinem “Aussitzen” ein erhöhtes Sicherheitsrisiko für den politischen Frieden im Land.
Für Venezuela ist das nun begonnene Verfahren und die Klärung verfassungsrechtlicher Fragen ein Lehrstück auf dem Weg zu der angestrebten rechtsstaatlichen Neuordnung, so die juristische Fachmeinung im Land. Was sich wie ein Politkrimi anhört, ist für viele in Venezuela weitaus mehr als das “Schassen” eines unliebsam gewordenen Präsidenten. Es ist der Sieg einer Entwicklung hin zu mehr Demokratie und Durchsichtigkeit der politischen Prozesse im Land. Tragisch für CAP selbst mag dabei sein, daß gerade er mit dem Vorantreiben der Staatsreform zur Durchsetzung von mehr Rechtsstaatlichkeit und Partizipation die Verhältnisse schuf, die ihm später selbst zum Verhängnis wurden. Ob des Amtsvergehens schuldig oder nicht, sein Prozeß wird nach allen Regeln der Demokratie unter den wachsamen Augen der Bevölkerung vonstatten gehen. Spätestens dann kann er zeigen, ob er wirklich an die von ihm so oft zitierte gewachsene Mündigkeit von PolitikerInnen und BürgerInnen glaubt. Die politische Emanzipation im Land ist, zieht man bis heute Bilanz, eigentlich sein politischer Erfolg.

Christine Heim

Erfolg für die Zivilgesellschaft?

Es wird noch eine Weile dauern, bis nach und nach an die Öffentlichkeit dringt, was in der Zeit vom ersten Putsch am 25. Mai bis zum Amtsantritt von de León Carpio hinter den Kulissen passiert ist. Zu den dunkelsten Momenten gehört die Zeit zwischen dem zweiten Putsch am 1. Juni und der Wahl Carpios, als Guatemala tagelang ohne Präsident war, ständig eine Machtübernahme des Militärs mit dem dazugehörigen Blutbad befürchtet wurde und Verteidigungsminister Garcia Samayoa so oft die Position wechselte, daß nicht nur den mittleren Rängen im Militär klar wurde, daß ihre Führung unfähig sei, “sich auf der politischen Bühne zu bewegen”, wie eine mexikanische Zeitung berichtete.
Ein Blick hinter die Kulissen sollte Aufschluß darüber bringen, welche Machtkonstellation sich schließlich durchgesetzt hat. Dem läßt sich jedoch auch näher- kommen, indem man sich die HauptakteurInnen näher betrachtet, als da wären: Serrano, die Armee, die USA, die guatemaltekischen UntemehmerInnen, das Parlament, Ramiro de León Carpio, die Volksorganisationen und Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchu.

Putsch Nummer 1: Serranos Mist

Der erste Putsch scheint auf dem Mist von Serrano gewachsen und seiner wach-senden Isolation von allen gesellschaftlichen Gruppen sowie einer drohenden Amtsenthebung wegen Korruption geschuldet.
Neben seinen ständigen Auseinandersetzungen mit der Presse und der katholischen Kirche drohte ihm eine ähnliche Korruptionsklage wie dem brasilianischen Präsidenten Femando Collor de Mello und dem venezolanischen Präsidenten Carlos Andres Pérez. Am 23. Mai kündigte der Parlamentspräsident Beweise für die Korruption des Präsidenten an. Der aufgelöste Kongreß erklärte am 27. Mai, daß vorgesehen war, 5.000 Unterschriften vorzulegen, mit denen ein Prozeß gegen Serrano wegen “illegalem Erwerb von Gütern, Unterschlagung und Korruption” angestrengt werden sollte.
Die Hardliner in der Armee wiederum hatten als Ergebnis der Friedensverhandlungen eine bedingungslose Kapitulation der Guerilla gefordert und fanden die Verhandlungen bereits zu weit fortgeschritten. Mit den Diskussionen um eine Wahrheitskommission und mit der Verurteilung des Hauptmanns Hugo Contreras am 11. Mai für den Mord an dem mutmaßlichen Agenten der US-Drogenbehörde, Michael Devine, die nur aufgrund des Drucks der USA zustande kam, riß der Geduldsfaden der Armee endgültig.
Schon Tage vor dem Putsch war Guatemala-Stadt militarisiert, um die massiven Proteste von.SchülerInnen, StudentInnen und öffentlichen Angestellten gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik mit Aufstandbekämpfungseinheiten zu unterdrükken. Seit Ende April hatten Strom-und Buspreiserhöhungen zu massiven sozialen Unruhen geführt.
Serrano beteuerte zwar immer wieder, die Militärs hätten mit dem Staatsstreich nichts zu tun, es ist jedoch bekannt, daß er sich am 19. und am 24. Mai mit allen wichtigen Militärkornmandanten getroffen hatte. Und ohne die Unterstützung des Militärs hätte Serrano natürlich auch nicht putschen können. Auch die neue US-Botschafterin in Guatemala Marilyn McAfee, hat eingeräumt, daß die USA vor dem 25. Mai versuchten, Serrano von seinem Vorhaben abzubringen, daß sie also von den Putschplänen wußten.

Serranos Fehleinschätzungen

Serrano hatte offenbar weder damit gerechnet, daß die USA und die Europäische Gemeinschaft seinen Staatstreich so energisch verurteilen würden, noch hatte er den entschlossenen Widerstand in Guatemala selbst erwartet. Offensichtlich hoffte er auf den “Fujimori-Effekt”, daß er also die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen könnte, indem er gegen den Kongreß und die Parteien vorging. Doch sowohl die Bevölkerung als auch die wichtigsten Instanzen des politischen Systems und selbst zahlreiche Regierungsmitglieder wandten sich gegen ihn. Die harte Reaktion der USA ließe sich dahingehend interpretieren, daß die Regierung Clinton eine Chance witterte, um Druck auf die guatemaltekischen Militärs auszuüben. Die nämlich sind dafür bekannt, immer wachsam ihre Unabhängigkeit von den USA zu hüten. Die USA setzten die wirksamste Drohung ein: die Streichung der Vorzugszölle für guatemaltekische Produkte im Rahmen der Handelspräferenzen, die für die guatemaltekische Privatwirtschaft wichtiger ist als jede direkte Finanzhilfe.
Damit wurde der UnternehmerInnen-DachverbandCACIF zwangsläufig in eine der Hauptrollen gedrängt, was sie aber wie üblich am diskretesten zu handhaben wußten. Sofort nach der Ankündigung der USA forderte der Sprecher des CACIF die Minister Serranos auf, die Interessen des Landes über ihre Verbundenheit mit der Regierung zu stellen.
Obwohl einige Parteien die Militärs zu einem Staatsstreich gegen Serrano drängten, war die Möglichkeit der Armee, als “Retter der Demokratie” ihre eigenen Bedingungen durchzusetzen, durch den entschiedenen Widerstand der USA und der daraus folgenden Interessen der UnternehmerInnen eingeschränkt. Auch hatte niemand mit dem Auftauchen einer “zivilen Alternative” gerechnet, wie sie der Menschenrechtsprokurator Ramiro de León plötzlich bot. Offenbar waren es die PrivatunternehmerInnen, die mit Rückendeckung der USA Ramiro de León als idealen Kandidaten für eine musterhafte demokratische Regierung auch gegen den Willen der Armee durchsetzen konnten. Dazu kam die Zerstrittenheit der Armee, die nach dem Wegputschen Serranos offensichtlich keine eigene Regierungsoption vorzuweisen hatte.
Daß Ramiro de León gute Beziehungen zur Privatwirtschaft hat, läßt sich an seinem Lebenslauf erkennen. 1970 war er Mitglied der Kommission für Wirtschaftsintegration, von 1978 bis 1981 Rechtsberater des Aufsichtsamtes für Kreditwesen und von 1981 bis 1983 Geschäftsführer der Nationalen Zuckervereinigung. Außerdem war er Mitbegründer und Generalsekretär der “Nationalen Zentrumsunion” (UCN), und kandidierte bei den Wahlen 1985 für diese Partei als Vizepräsident. Die UCN ist die zweitgrößte Partei Guatemalas und steht Sektoren aus der privaten Exportwirtschaft nahe.
Obwohl auch die Volksorganisationen de León unterstützen, konnten sie an den Geheimverhandlungen zur Verteilung der Macht nicht teilnehmen. Es ist daher zweifelhaft, daß sich der neue Präsident durch ihre Unterstützung verpflichtet fühlt, sich auch ihrer Forderungen anzunehmen. Dennoch bewerten Volksorganisationen in ersten Reaktionen die Ereignisse positiv. Daß sie sich über das Versammlungsverbot hinweggesetzt hätten und die Massendemonstrationen vom Militär nicht hätten unterdrückt werden können, beweise ihre Stärke und ihren gewachsenen Spielraum, so ein Vertreter der Indigena-Organisation Majawil Q’ij. Wieviel Spielraum ihnen der neue Präsident innerhalb seiner Abmachungen mit der Privatwirtschaft zugesteht, bleibt abzuwarten. Dabei ist ein Pluspunkt für die Volksbewegung die Rolle, welche die Friedensnobelpreisträgerin als Vermittlerin zwischen Volksbewegung und den “hellhäutigen und eleganten Männern der Privatwirtschaft” hat.
Die Spielräume der Volksbewegung scheinen größer geworden zu sein -das An-sehen der politischen Parteien hat eher gelitten. Das Militär hat sich zwar nicht mit seinen Vorstellungen durchsetzen können, die Machtposition der Armee in Guatemala ist jedoch nicht ernsthaft beschnitten. Unklar ist, wie sich der bislang als Menschenrechtsprokurator in Konflikte mit dem Militär geratene de León Carpio als Präsident mit der Armee stellen wird. BeobachterInnen befürchten außerdem, daß die Militärs, denen auf der politischen Ebene die Zügel aus der Hand geglitten waren, in einer Art privater Revanche ihren Arger an anderen Gruppen, wie zum Beispiel den rückkehrenden Flüchtlingen auslassen. Und das – so zeigt es die blutige Geschichte der guatemaltekischen Armee – hat im Ausland noch selten zu einem Abbruch der Beziehungen geführt, umso weniger mit einem de León Carpio als Regierungschef.

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